Anne-als-sie-selbst. Anne Franks Botschaft

Wir alle wissen, was Anne Frank ist: "Das Tagebuch der Anne Frank gilt als ein historisches Dokument aus der Zeit des Holocaust und die Autorin Anne Frank als Symbolfigur gegen die Unmenschlichkeit des Völkermordes in der Zeit des Nationalsozialismus", steht bei Wikipedia. Aber wer war Anne Frank? Überlebende Freunde und Bekannte betonten manchmal, sie sei "trotzdem ein ganz normales junges Mädchen" gewesen; auch Rezensenten des Tagebuchs und Biografen sprechen gern von "normalen Gemütsschwankungen der Jugend". Anne selbst hätte es wohl anders gesehen; auch das ist dem Tagebuch zu entnehmen – nur mögen Erwachsene derlei ungern ernstnehmen, wenn sie ihren eigenen Anspruch an Authentizität und Selbstidentität längst verloren haben.

Annes Vater schrieb über seine Begegnung mit dem Tagebuch seiner Tochter: "Eine ganz andere Anne enthüllte sich mir aus diesen beschriebenen Seiten als das Kind, das ich verloren hatte. Ich hatte keine Ahnung von der Tiefe ihrer Gedanken und Gefühle gehabt."

Anne Frank wollte bekanntlich Journalistin oder Schriftstellerin werden; ihre schriftstellerische Begabung ist offensichtlich. Als grundlegendere individuelle Kompetenz erlebe ich jedoch ihre tiefgründige psychologische und spirituelle Achtsamkeit, die in diesen Lebensjahren (ihren letzten) erblühte. Um diese Anne Frank ging es mir in dieser Zusammenstellung von Passagen aus ihren Tagebüchern.

Die im zweiten Teil dokumentierten Zeugnisse von Annes (überlebenden) Schicksalsgefährten aus den Monaten in Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen bezeugen die Integrität ihrer kompromißlosen Mitmenschlichkeit auch dort. "Das völlig belanglose Tagebuch eines jungen Mädchens, das von sich selbst so völlig eingenommen und von seiner Intelligenz so dermaßen überzeugt ist, dass man sie nicht mal sympathisch finden kann" (wie eine amazon-Kundin kommentierte), war eben nicht nur pubertärer Widerspruchsgeist oder literarische Ambition. Auch in den kritischen Aufwallungen gegen die Mutter hatte Anne Frank nicht eigentlich gegen diese gekämpft, sondern ist, innerhalb ihrer Möglichkeiten, für ein höheres Niveau an Mitmenschlichkeit eingetreten.

Nicht selten wird Anne Frank mehr oder weniger deutlich als Symbol für die Millionen Opfer der Shoah profiliert. Dies ist unangemessen; jeder dieser Menschen repräsentiert sein einmaliges, unverwechselbares Leben. – Anne stand ein für Möglichkeiten menschenwürdiger Integrität, menschlichen Potentials angesichts schrecklicher, menschenunwürdiger Lebensumstände. Dies ist ihre Flaschenpost, als Moment einer nunmehr in jeder Generation unabdingbaren Erziehung nach Auschwitz.

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