Norbert Frýd: KARTEI DER LEBENDEN

Der autor berichtet in unaufgeregter ausführlichkeit von unzähligen organisatorischen einzelheiten eines zum KZ Dachau gehörenden arbeitslagers, dessen gefangener er war. Jeder mensch funktionierte dort wie das zahnrad eines uhrwerks, um größtmögliche vorteile und sicherheit für sich und/oder die soziale gruppe, der er angehört, zu erzielen. In frýds romanhaftem bericht scheint oft nur eine graduelle abgrenzung zwischen tätern, mitläufern und opfern möglich.

Herrschaft argumentiert in der entwickelten zvilisation mehr und mehr mit sachzwängen und verzichtet auf ethisch-moralische legitimationen. Gerade im NS-regime gingen bürokratie und verbrechen besonders nahtlos ineinander über. Auch im vorliegenden buch wird das übergroße gewicht instrumenteller vernunft (in form von logistischer und bürokratischer logik) nachvollziehbar – und wie sie zum instrument höchst individueller interessen wird; grundsätzlich nicht anders als bei uns heute.

Norbert fried wurde 1913 in einer familie tschechischer juden in budweis geboren; er starb 1976. Seit den 30er jahren war er mitglied einer fortschrittlichen politisch-kulturellen bewegung um emil františek burian, verkehrte vorrangig in jüdischen künstlerkreisen und kooperierte mit dem komponisten karel reiner. Er gehörte zum kreis um die im prager exil von franz carl (f.c.) weiskopf geleitete antifaschistische Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), später unter dem namen Volks-Illustrierte. Ab 1936 arbeitete fried als redakteur und drehbuchschreiber für den filmkonzern Metro Goldwyn Mayer. 1942 kam er ins Ghetto Theresienstadt, wo er am geheimen kulturellen leben beteiligt war. 1944 wurde norbert fried zusammen mit allen anderen künstlern aus Theresienstadt ins KZ Auschwitz deportiert . – Am 10. oktober 1944 kam er ins arbeitslager Dachau-Kaufering (kategorie "Jude, Schutzhäftling"); von dieser zeit handelt das vorliegende buch. Im april 1945, als die SS begann, das lager zu räumen, gelang es fried zu flüchten.

Norbert frieds vater, sein bruder, seine frau und seine tochter wurden in den KZ ermordet; er überlebte die Shoah als einziger seiner familie.

1945 unterstützte er die amerikaner als dolmetscher bei den verhören der SS-wächter von Dachau, später war er einer der zeugen beim ersten dachauer kriegsverbrecherprozeß. Norbert fried arbeitete als journalist und beamter, war mitglied der tschechoslowakischen kommunistischen partei. 1946 änderte er seinen namen zu "frýd". 1947 wurde er kulturattaché in mexiko. Während dieser zeit nahm er teil an einer expedition in den tropischen regenwald. Später war frýd in verschiedenen diplomatischen stellungen in anderen ländern lateinamerikas und in den USA. Zeitweise reiste er mit einem puppentheater nach asien und amerika. Nach kurzer beschäftigung beim tschechoslowakischen radio wurde frýd freier schriftsteller. Zugleich war er 1951 bis anfang der 70er jahre delegierter bei der UNESCO.

Eine grundfrage des buches ist: Welche haltungen sind angemessen im KZ oder allgemein: während der NS-zeit? Neben mörderischen NS-tätern und gläubigen nazis gab es eine vielzahl moralischer, ideologischer und emotionaler beurteilungen einzelner situationen, von gefährdungen, interessen und eigenem handlungspielraum, – bei den gefangenen wie bei den NS-funktionären. Aus der zugehörigkeit zu einer sozialen gruppe ließ sich offenbar selbst im KZ nicht direkt auf die mentalität und das verhalten konkreter menschen schließen. Innerhalb des kleinen außenlagers waren vielschichtigere interaktionen überschaubarer, deutlicher darstellbar und nachvollziehbarer als durch berichte aus den weitaus anonymeren größeren KZ.

Das rührt an eine bis heute tabuisierte frage: In welchem maße sind KZ-gefangene als funktionshäftlinge direkt oder indirekt zu handlangern der NS-interessen geworden? Dabei geht es nicht nur um gefangene mit bereits zuvor ausgelebten kriminellen intentionen. Es geht um interessengeleitetes (auch politisch motiviertes) taktieren, um das prinzip des eine hand wäscht die andere, um balance of power: es mit niemandem ganz zu verderben, den man noch einmal brauchen könnte. Es geht – dies wird bei frýd deutlich – gegebenenfalls auch darum, daß NS-opfer in eigenem interesse zu tätern an anderen NS opfern werden.

KRABICE ŽIVÝCH erschien in prag 1956, wurde dort viel gelesen und in mehrere sprachen übersetzt. Eine DDR-ausgabe erschien 1959. Allerdings dürfte frýds buch in deutschland kaum größeres interesse erregt haben. So genau wollte man es damals bekanntlich nicht wissen, in der DDR so wenig wie in der BRD. Aber auch später wäre diese darstellung, bei der die beruhigenden eindeutigkeiten von genuin guten und bösen menschen, von opfern und tätern in so irritierender weise aufgelöst werden, vom medialen mainstream kaum akzeptiert worden..

(Aus dem nachwort des herausgebers mondrian v. lüttichau)

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