Albert Lamm: BETROGENE JUGEND

Ab 1926 arbeitet der maler albert lamm (1873-1939) als zeichenlehrer in einem tagesheim für (männliche) jugendliche erwerbslose in berlin-treptow. Der kritische außenseiter, lebenslang auf der suche nach sozialer wie künstlerischer wahrhaftigkeit, entwickelt geduldiges jugendfürsorgerisches/sozialpädagogisches engagement. Gerade in ihrer früh vom leben enttäuschten und verwundeten widerborstigkeit waren diese jungs ihm vermutlich näher, als er selbst wußte. Zu beginn versucht er noch in treuherziger spießbürgerlichkeit, den jungs die werte der gutbürgerlichen gesellschaft einfach überzustülpen. Aber lamm lernt in beeindruckender stringenz, sich in die situation der desillusionierten, von entsprechenden lebenserfahrungen abgestumpften jugendlichen einzufühlen.

Die gerade in den 20er jahren verbreitete hoffnung auf neue lebens- und gemeinschaftsformen kommt selbst bei dem in anderen aspekten konservativ wirkenden albert lamm an, der über seine jungs schreibt: "Sie sind mit nichts mehr verwachsen und werden mit dem alten Leben nirgends mehr verwachsen, mit dem sie nur noch die Lohndüte, die Stempelkarte und der Unterstützungsbetrag verbindet; aber in ihrer Gemeinschaft wächst eine neue Verbundenheit, die ausreicht, sie sich selber als eine neue und ganze Welt fühlen zu lassen, in der man nach neuen Formen eines den Menschen ausfüllenden Lebens sucht." - Aber er spürt durchaus auch die kehrseite solcher sehnsucht: "Es ist ein ungeheures gährendes Wünschen, was in dieser Jugend arbeitet - umschlossen von dem Zwange der großen Not der Zeit. Wer sich nicht dazu aufzuraffen vermag, zu fühlen, daß Gerechtigkeit und Menschlichkeit hier ein Helfen fordern, der sieht vielleicht wenigstens ein, daß Sicherheitsventile notwendig sind, um nicht einmal unsinnige Entladungen hochgespannter Kräfte heranwachsen zu lassen, um das Anwachsen des Chaos hintanzuhalten, von dessen unterirdischer Ausdehnung und vulkanischer Gewalt unter unserer alt gewordenen Welt leider die wenigsten eine rechte Vorstellung zu gewinnen sich bemühen mögen." 

Albert lamms bericht wurde 1932 im Bruno Cassirer Verlag Berlin veröffentlicht, - - als "adolf hitler"  im berliner volksmund erst eine sprichwörtliche bezeichnung war für ungebärdig herumbrüllende männer!

Das projekt selbst war zu diesem zeitpunkt schon kaputt, - stanguliert von sozialadminstativen vorgaben, mittelkürzungen und gleichgültigkeit der höheren bürokratie; auch hiervon berichtet lamm. Das buch durfte nach dem machtantritt der nazis nicht mehr vertrieben werden. - Aber was ist wohl aus diesen, aus solchen jungs geworden?

"Lamms Schrift gestattet teilweise soziologische Erfassung und Auswertung der Gestalt des aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß herausgeschleuderten jugendlichen Erwerbslosen", wurde 1933 in max horkheimers 'Zeitschrift für Sozialforschung'  betont. - Heute ist das büchlein vor allem in den östlichen bundesländern in mancher hinsicht wieder aktuell; welche gesamtgesellschaftlichen folgen werden diesmal aus den entsprechenden sozialen zerstörungen erwachsen?

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Anna Langfus: SALZ UND SCHWEFEL

Neu im November 2023

Anna Langfus (gestorben am 12. Mai 1966 in Paris) wurde als Hanka Regina Szternfinkiel am 2. Januar 1920 als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie in Lublin (Polen) geboren. Zusammen mit ihrem Ehemann Jakub Rais und ihren Eltern wurde sie im Frühjahr 1941 in das neu errichtete Ghetto von Lublin deportiert. Von dort flohen sie und lebten illegal in der Stadt. Der Vater kam in Lublin ums Leben, die Mutter im Warschauer Ghetto, wo sie sich mehr Sicherheit versprochen hatte. Auch das Ehepaar Rajs war 1942 nach Warschau geflohen. Sie blieben zunächst im Ghetto, versteckten sich dann auf der "arischen" Seite. Anna engagierte sich im polnischen Untergrund. Im November 1944 wird sie von der Gestapo verhaftet. Anna Rajs und ihr Mann werden als russische Spione verdächtigt und im Gefängnis von Nowy Dwór gefoltert. Jakub Rajs wird erschossen. Anna wird ins Gefängnis Płońsk überstellt, sie entgeht nur knapp einer Massenexekution und wird von der sowjetischen Besatzung freigelassen.

Anna Rajs-Szternfinkiel kehrt zunächst nach Lublin zurück, wo keine Verwandten mehr lebten. Sie beginnt dort ein Schauspielstudium. Etwa Mitte 1946 verläßt sie Polen und läßt sich in Frankreich nieder.
Als eine der ersten jüdischen Überlebenden der Shoah begann sie, literarisch ihre ihre Erfahrungen von Verfolgung, Verrat, Folter, Mord und Überleben zu veröffentlichen.In Frankreich entstanden bis zu ihrem Tod drei Romane sowie mehrere Theaterstücke, Erzählungen und Hörspiele.

Anna Langfus starb an einem Herzinfarkt im Alter von 46 Jahren. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Bagneux begraben.
Trotz Literaturpreisen und der Übersetzung ihrer Werke in fünfzehn Sprachen geriet sie ab den 1970er Jahren allmählich in Vergessenheit (heißt es in der französischen Wikipedia). In Deutschland wurde ihr Werk kaum zur Kenntnis genommen.

Die Autorin hat mehrfach betont, daß es sich bei SALZ UND SCHWEFEL nicht um eine Autobiografie handelt, sondern um einen "autobiografischen Roman". Der Roman zeigt unzählige Situationen, die nicht verarbeitet werden können mithilfe der Erfahrungen, der Empfindungen und Kriterien, der Moral, die wir für das mitmenschliche Leben gelernt und verinnerlicht haben: eine alltägliche Kette von Schmerzen und Demütigungen, die es jeweils zu überleben galt – irgendwie. Manchmal zeigt sich der innere Widerstreit zwischen Lebenswille und dem tiefen Wunsch, daß dieses schreckliche Leben endlich vorbei sein solle, egal auf welche Weise.
Literarische Gestaltung ist eine wichtige Verarbeitungsmöglichkeit traumatischer Erfahrungen. Empfindungen und Reflexionen können poetisch und in fiktiven Situationen distanzierter und dadurch oft nuancierter dargestellt und entfaltet werden als in einem in allen Einzelheiten an den tatsächlichen Abläufen orientierten Bericht.
Ein Wunder bleibt das sprachliche, literarische Niveau der Autorin, das tiefe Einblicke in menschliches Seelenleben ermöglicht: subtilste Beobachtung menschlicher Körpersprache, tiefe Einfühlung in zwischenmenschliche Situationen, die sie umsetzen kann in stimmige (theatermäßige bzw. filmische) Dramaturgie. Für existentielle Momente findet sie oft poetische Bilder.

Über die Realität der völkermörderischen Deutschen während der NS-Zeit enthält dieses Buch nichts, das nicht auch durch viele andere Zeugnisse bekannt wäre. Sein Wert liegt – wie jeder Bericht einer oder eines Überlebenden dieser Schrecklichkeiten – in dem Zeugnis eines Menschen, dieser jungen Frau, die – wie jeder Mensch, jedes Opfer – eine Welt für sich ist und als solche wert, bewahrt zu werden in ihrem Schicksal, ihren Empfindungen. Bewahrt zu werden auch im mitmenschlichen Protest gegen solche Taten. Deshalb müssen solche Zeugnisse weiterhin immer wieder neu veröffentlicht werden!

SALZ UND SCHWEFEL erscheint hier auf Grundlage der deutschen Erstausgabe (1964) als einzige deutsche Neuausgabe.
 Die Veröffentlichung enthält im Anhang einen zusätzlichen Text der Autorin, Literaturhinweise zum Thema "Juden und Polen" sowie ein Nachwort des Herausgebers (MvL).

auc-174-langfus-salz (pdf 2,6 MB)

Anna Schack: DAS HAUS Nr. 131

Luftkrieg im zweiten weltkrieg? Zerstörte deutsche städte? – Für uns nachkriegsgeborene sind das kaum mehr als worte. Die städte sind wieder aufgebaut, die meisten zeitzeugen sind tot, und im übrigen war das NS-deutschland ja selber schuld. – Dieser hier erstmals wiederveröffentlichte, bereits 1946 erschienene versuch einer romanhaften darstellung der entsprechenden erfahrungen dokumentiert hautnah, geradezu filmisch die situation von weder verfolgten noch antinazistisch aktiven deutschen während der luftangriffe auf düsseldorf, ab 1941.

Alltag im wissen, daß in den nächsten stunden die eigene wohnung ein trümmerhaufen sein kann, völlig unvorhersehbar der fliegeralarm, dann hilfloses verharren im luftschutzkeller angesichts der sicheren lebensgefahr durch verschüttung, verbrennung oder durch brandgase. Kein kämpfen, keine flucht ist möglich; und hinterher die suche nach angehörigen, die oft nur als leichenteile gefunden werden.. – Heute wissen wir, daß solche situationen zumeist traumatisierend wirken. Verleugnung und rationalisierung, kompensationen, traumatische erstarrung und abspaltung (dissoziation) sind, in mancherlei varianten, im buch dargestellte auswirkungen. Sie haben – auch das wird erst seit wenigen jahren (an)erkannt – das seelenleben der überlebenden geprägt bis zu ihrem tod. Zweifellos entstanden in der generation unserer großeltern und eltern häufig traumafolgeschädigungen, die sich direkt oder indirekt ausgewirkt haben in unserer eigenen kindheit.

Im gegensatz zu den isolierten zitaten von luftkriegsbetroffenen, wie sie in manchen fach- und sachbüchern dokumentiert werden, bleiben entsetzliche, von zerstörung und todesangst geprägte situationen im vorliegenden buch verwoben in den unprätentiösen, privatistischen, banalen alltag mit seinen menschlich-allzumenschlichen bedürfnissen und konflikten; darin liegt ein besonderer wert der darstellung, für deren grundsätzliche authentizität auch die veröffentlichung bereits im jahr 1946 spricht. Sicherlich hat sich die autorin ihren figuren – jenseits unterschiedlicher ideologischer standorte – verbunden gefühlt; zweifellos hat auch anna schack im luftschutzkeller gesessen und ist vor dem feuersturm geflohen.

Anna schack vertritt deutlich die anschauung von der verführung der deutschen durch die nazis, mit wesentlicher unterstützung durch karrieristen, grundlegend verbrecherisch oder/und psychopathologisch motivierte personen und ruhmestrunkene jungsoldaten. Darüberhinaus geht es ihr um den wahnsinn des krieges an sich. Die systematische zerstörung von menschenleben und menschenwerk – wozu?? Nachdenken über politische hintergründe ist allerdings bei der autorin so wenig zu finden wie bei ihren figuren..

Mitherausgegeben von DISSOZIATION UND TRAUMA.
Nachwort mondrian v. lüttichau.

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Anne-als-sie-selbst. Anne Franks Botschaft

Wir alle wissen, was Anne Frank ist: "Das Tagebuch der Anne Frank gilt als ein historisches Dokument aus der Zeit des Holocaust und die Autorin Anne Frank als Symbolfigur gegen die Unmenschlichkeit des Völkermordes in der Zeit des Nationalsozialismus", steht bei Wikipedia. Aber wer war Anne Frank? Überlebende Freunde und Bekannte betonten manchmal, sie sei "trotzdem ein ganz normales junges Mädchen" gewesen; auch Rezensenten des Tagebuchs und Biografen sprechen gern von "normalen Gemütsschwankungen der Jugend". Anne selbst hätte es wohl anders gesehen; auch das ist dem Tagebuch zu entnehmen – nur mögen Erwachsene derlei ungern ernstnehmen, wenn sie ihren eigenen Anspruch an Authentizität und Selbstidentität längst verloren haben.

Annes Vater schrieb über seine Begegnung mit dem Tagebuch seiner Tochter: "Eine ganz andere Anne enthüllte sich mir aus diesen beschriebenen Seiten als das Kind, das ich verloren hatte. Ich hatte keine Ahnung von der Tiefe ihrer Gedanken und Gefühle gehabt."

Anne Frank wollte bekanntlich Journalistin oder Schriftstellerin werden; ihre schriftstellerische Begabung ist offensichtlich. Als grundlegendere individuelle Kompetenz erlebe ich jedoch ihre tiefgründige psychologische und spirituelle Achtsamkeit, die in diesen Lebensjahren (ihren letzten) erblühte. Um diese Anne Frank ging es mir in dieser Zusammenstellung von Passagen aus ihren Tagebüchern.

Die im zweiten Teil dokumentierten Zeugnisse von Annes (überlebenden) Schicksalsgefährten aus den Monaten in Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen bezeugen die Integrität ihrer kompromißlosen Mitmenschlichkeit auch dort. "Das völlig belanglose Tagebuch eines jungen Mädchens, das von sich selbst so völlig eingenommen und von seiner Intelligenz so dermaßen überzeugt ist, dass man sie nicht mal sympathisch finden kann" (wie eine amazon-Kundin kommentierte), war eben nicht nur pubertärer Widerspruchsgeist oder literarische Ambition. Auch in den kritischen Aufwallungen gegen die Mutter hatte Anne Frank nicht eigentlich gegen diese gekämpft, sondern ist, innerhalb ihrer Möglichkeiten, für ein höheres Niveau an Mitmenschlichkeit eingetreten.

Nicht selten wird Anne Frank mehr oder weniger deutlich als Symbol für die Millionen Opfer der Shoah profiliert. Dies ist unangemessen; jeder dieser Menschen repräsentiert sein einmaliges, unverwechselbares Leben. – Anne stand ein für Möglichkeiten menschenwürdiger Integrität, menschlichen Potentials angesichts schrecklicher, menschenunwürdiger Lebensumstände. Dies ist ihre Flaschenpost, als Moment einer nunmehr in jeder Generation unabdingbaren Erziehung nach Auschwitz.

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Christa Anita Brück: EIN MÄDCHEN MIT PROKURA

Thema des vorliegenden romans von christa anita brück (1899-1958) ist zunächst die allgemeine seelische zerstörung unter angestellten während der weltwirtschaftskrise ende der 20er jahre, mit besonderem blick auf die deutsche bankenkrise: überlebensängste (gerade bei denen, die noch in stellung sind), situation der arbeitslosen kleinen leute, feindseliges büroklima, fusionen und monopolisierung sowie die zunehmende bürokratisierung auch im bankgewerbe.

Neben hans falladas berühmtem KLEINER MANN – WAS NUN? (ebenfalls 1932 erschienen) ist er einer der wenigen deutschen romane aus dem angestelltenmilieu während der weltwirtschaftskrise.

Das augenmerk der autorin liegt vorrangig auf der situation weiblicher angestellter (minderbesoldung, mangelndes ansehen im geschäftlichen leben, schwierigkeit des aufstiegs in leitende stellungen, mobbing, anmache). Am schluß des romans steht die unmißverständliche einschätzung: "Der Weg der tüchtigen Frau ist immer der gleiche: er führt über Feindschaft, Befremden, Mißtrauen und Neid zu tragischer Isoliertheit."

Im hinblick auf die deutsche bankenkrise war EIN MÄDCHEN MIT PROKURA bei seinem erscheinen tagespolitisch hochaktuell. Vermutlich war die autorin (ab 1934 ehefrau eines höheren bankangestellten) bereits zu diesem zeitpunkt eng vertraut mit der thematik.

Taktische fusionen, monopolisierung und zunehmende bürokratisierung, wie sie im letzten teil des vorliegenden romans skizziert werden, gehörten zum beginn eines prozesses, der sich bis heute als progressive verkrebsung des bankgewerbes entfaltet hat.

Diesen roman wiederzuveröffentlichen in einer zeit, in der banken zu totengräbern demokratischer gesellschaften zu werden scheinen, lag für mich nahe. Wesentliche strukturelle, sozialpsychologische funktionen des kapitalistischen bankensystems werden in dieser überschaubaren, für laien nachvollziehbaren handlung plausibel.

Die protagonistin thea iken wird dargestellt als aufopernde, allzeit verantwortungsvolle und loyale mitarbeiterin, tragikumflort, mit heroischer attitüde, – eine überspannte antigone, in einer szene fast wie jesus auf dem ölberg. Solche überzeichnungen, die, wenngleich subtiler, auch in ihren anderen büchern zu finden sind, könnten mit der biografie der autorin zusammenzuhängen.

Projektive kompensationsversuche tiefgehender narzißtischer verletzungen (der autorin) sind in manchen szenen mit thea iken kaum zu übersehen. Auch werden in allen ihren romanen für die weiblichen hauptfiguren schlimme, ja traumatische lebenserfahrungen angedeutet, die eine unbedingte orientierung an einem selbstbestimmten leben nachvollziehbar machen. Dies aber erfordert eine gewisse finanzielle, zu jener zeit für eine frau wohl nur durch berufstätigkeit ermöglichte unabhängigkeit. Wenn thea iken mit unbedingter hingabe um ihren arbeitsplatz kämpft, empfindet sie dies zweifellos als kampf um ihr leben, in dem es andere inhalte – aus welchen gründen auch immer – nicht gibt.

Selbstwertgefühl als erwachsene frau scheint thea iken nur aus ihrer beruflichen position zu beziehen. Liebe kommt bei ihr offenbar vorrangig als fürsorgende liebe vor, als mythisch-loyale verbundenheit mit dem chef oder als pseudomütterliche zuwendung zu dessen sohn. Wobei in beiden konstellationen diffuse erotische momente mitschwingen.. – kaum verwunderlich. Gelegentlich verliert die autorin offenbar selbst die psychologische übersicht über die ineinander verstrickten "opferungs"-impulse ihrer protagonistin, dann wieder erwähnt sie immerhin die "erprobte Eigensüchtigkeit, mit der Mannsbilder Frauenopfer annehmen".

Die prokuristin thea iken steht nur am rande für "das lebensgefühl der 20er jahre", für "die neue frau", vielmehr geht es vorrangig um diese konkrete frau mit einigermaßen rätselhafter psychischer konstitution und ihr ringen um individuelle entfaltung und gesellschaftliche selbstbehauptung. – Unverkennbar ist dabei die soziale position der autorin als reflektiert und (zumeist) empathisch beobachtende außenseiterin. (Dies korrespondiert mit der außenseiterposition der protagonistinnen in allen ihren romanen.) Bis heute lesenswert sind ihre bücher durch das tiefe einfühlungsvermögen in lebensumstände und lebenshaltung gerade der kleinen leute – deren lebensziele, ihre sozialen ängste, nicht zuletzt auch die seelischen zerstörungen, zu denen ihre grundlegenden lebensumstände geführt haben. Deutlich wird gleichwohl ihre distanz gegenüber lebensregungen und reflexionsbemühungen der kleinbürger, werden ängste vor der "masse" und vor bedrohlichen untiefen hinter einer biederen "maske" bei angehörigen der unterschicht; dies sind zeittypische ideologeme des bürgertums.

Der vorliegende roman enthält nicht zuletzt einen psychologisch vertrackten Who has done it? - krimi, ein gerichtsdrama, dessen kriminalistisch-juristische logik nicht immer überzeugt, was jedoch die spannung bis zum schluß nicht beeinträchtigt. Vor allem dieser aspekt stand im vordergrund des heute vergessenen films von arsen v. cserépy. Zumeist sehr achtsam gegenüber dem buch, wurden allerdings psychologisch komplexere inhalte nicht umgesetzt. Einige szenen wurden in filmisch angemessener weise (auch um des dramatischen effekts willen) variiert oder ergänzt, viele dialoge wurden fast wortgenau wiedergegeben. Trotz der vielen NS-nahen mitwirkenden ist dieser lebensfrische film unbedingt sehenswert – sowohl vom drehbuch, seiner schauspielerischen umsetzung als auch von der kameraführung und den regieeffekten her. Bis in nuancen gibt er alltagsethnografische momente seiner zeit wieder, durch die er das buch für heutige leserInnen gut ergänzt. Der neuausgabe wurden aus diesem grund etliche szenenbilder beigegeben.

(Aus dem nachwort des herausgebers)

Bereits bei A+C wiederveröffentlicht wurde brücks erstes buch, der seinerzeit berühmte roman SCHICKSALE HINTER SCHREIBMASCHINEN.

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DIE BUCHENWALD-BAHN

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Im frühjahr 1943 mußten gefangene des Konzentrationslagers Buchenwald innerhalb von nur drei monaten eine 10 km lange eisenbahnlinie zwischen weimar und Buchenwald bauen. Zunächst diente sie der versorgung des rüstungswerks. Seit anfang 1944 wurden etwa hunderttausend häftlinge in zum teil offenen güterwaggons auf diesen gleisen transportiert. Aus ganz europa wurden jungen und männer ins KZ Buchenwald und von dort aus zur zwangsarbeit in eines der außenlager gebracht. Vernichtungstransporte mit kindern und kranken häftlingen fuhren von hier nach Auschwitz, wo sie ermordet wurden. Als die nationalsozialisten im januar und februar 1945 die lager im osten räumten, gingen massentransporte nach Buchenwald. Viele der häftlinge waren bei der ankunft bereits tot oder starben kurz darauf.

2007 wurde auf den letzten 3,5 km der trasse ein gedenkweg angelegt, auf den vor ort bislang noch kaum hingewiesen wird. Im mai 2011 habe ich ihn bei einem besuch in weimar zufällig entdeckt und fotos gemacht.

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Erna Saenger: GEÖFFNETE TÜREN. Lebenserinnerungen 1876-1976

Neu im Dezember 2023

Erna Wehr, geboren im September 1876 in Kensau (Westpreußen) , gestorben im November 1978 in Berlin, stammte aus einer großbürgerlichen Gutsherrenfamilie. Bestimmend für ihr Leben war ihr alltäglich gelebtes Christentum sowie ihr Engagement für Kindererziehung und Sozialarbeit. So absolvierte sie ab 1896 eine Berufsausbildung im Pestalozzi-Fröbel-Haus (P.F.H.) Berlin, einer der ersten Ausbildungsstätten für das damals neue Berufsbild Sozialarbeit. Durch ihre Ehe mit dem preußischen Staatsbeamten Konrad Saenger lebte sie ab 1911 in Berlin in bildungsbürgerlichen Verhältnissen.
Kern ihrer Lebenserinnerungen waren Auszüge aus ihrem (lebenslang geführten) Tagebuch. Sie wurden von der Autorin organisch eingebunden in die direkt für das Erinnerungsbuch verfaßten Passagen. Das Buch ist ein Dokument der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit: zur Situation der Gutsherrschaft in Westpreußen (heute Polen) und zugleich zum Lebensgefühl preußischer Staatsbeamten und etablierter Akademiker in Berlin. Deutlich wird eine wie selbstverständliche Amalgamierung von preußischem Nationalismus (einschließlich des Glaubens an "das Urdeutsche") und christlichem Ethos mit Momenten der nazistischen Ideologie. So ist das Buch ideologiegeschichtlich möglicherweise repräsentativ für die entsprechende Schicht von Großbürgern, Beamten und Adligen in Deutschland (vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, im Nationalsozialismus sowie dann noch einmal aufflammend in den ersten Jahrzehnten der BRD).

Das Einzigartige liegt in der bis ins hundertste Lebensjahr ungebrochenen vitalen Reflexionsfähigkeit der Autorin, in die ihre lebenslang geführten Tagebücher einbezogen werden. Es entsteht ein seltenes Gleichgewicht der reflexiven Präsenz ihrer Lebenserfahrung, dies nicht als nostalgisch orientierte Rückschau, vielmehr nimmt die Autorin damalige Blickwinkel, Erfahrungen, Einschätzungen mit in die Gegenwart, konfrontiert heutige soziale, gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten mit ihnen und lädt ihre Leser*innen ausdrücklich zum Mitdenken ein. Dabei gelingt ihr ein "beidäugiges Sehen", aus dem wir viel lernen können. Dies wäre kaum möglich ohne eine ungebrochene Lebenszugewandtheit, die bei ihr viel mit ihrer Beheimatung im christlichen Glauben zu tun hat, aber auch in der Verbundenheit mit der Familie liegt. Kostbare Zeitzeugin ist sie auch, weil sie (subjektiv, mit Herz und Verstand) das politisch-soziale Leben spiegelt – einschließlich der Ideologeme und Verirrungen, denen auch sie unterworfen war. Erna Saenger hat lebenslang weitergelernt, jedoch ohne ihre Vergangenheit (wie sie in den Tagebüchern dokumentiert war) retrospektiv umzuinterpretieren.

Schwerpunkte der Lebenserinnerungen sind Kindheit und Jugend auf dem westpreußischen Gutshof – Aufenthalte in Berlin – Die Anfänge der Sozialarbeit – Erster Weltkrieg (nationalistisch-preußischer Taumel) – tätige Nächstenliebe in Kensau – Leben in Berlin (Dahlem) –Kirchenkampf im NS – lebendige Christlichkeit – Alltag im Zweiten Weltkrieg – Familienleben.

Saengers einfühlsame, genuin sozialarbeiterische Haltung zeigt sich nicht zuletzt in der nuancierten Darstellung des dörflichen Lebens in Kensau. Leid und Freude, Probleme, Begrenztheiten und persönliche Ressourcen der Kleinbauern und Landarbeiter werden in den skizzierten Dialogen vorstellbar.

Gespenstisch alltäglich liest sich der Bericht vom kollektiven Wahn zu Beginn des Ersten Weltkriegs, einem Wahn, mit dem die Autorin offenkundig noch 60 Jahre später identifiziert ist. Nachvollziehbar wird auch, wie die affektiv besetzte Deutschtümelei in den Kriegsjahren weiterging und, entsprechend pointiert, die Verinnerlichung der nazistischen Ideologie im Volk begünstigte und stabilisierte. Politik wird in Saengers Buch jedoch nicht problematisiert; sie schreibt: "Politik also nicht — historisches Geschehen umso mehr." Diese eigenartige Abgrenzung zieht sich durch Erna Saengers Buch. Politik ist das Parteiengerangel, menschliches Irren und Wirren, historisches Geschehen ist das Dauerhafte, womit "man" sich identifizieren möchte.

Während der NS-Zeit war Erna Saenger eingebunden in den Dahlemer Kreis der "Bekennenden Kirche" (um Martin Niemöller). Nicht nur in diesem Zusammenhang dokumentiert sie christliche Diskussionsprozesse und Kontroversen, so zwischen deutsch-völkischen ("heidnischen"), deutsch-christlichen und traditionellen christlichen Haltungen und den Positionen des "Kirchenkampfs".Die Bedeutung dieses Zeugnisses liegt nicht zuletzt darin, daß Erna Saenger sich auch hier ihr Selbstdenken erhalten hat und sich offenbar keiner der Gruppierungen pauschal angeschlossen hat. Selbst die "einseitige, prinzipielle Verurteilung der DC" (NS-nahe, antisemische Gruppierung Deutsche Christen) wollte sie "nicht mitmachen".

Nachvollziehbar wird für mich, wieviel Kraft (Ressourcen) es Menschen gegeben haben kann, für die der christliche Glaube, die Orientierung an christlichen Texten, Sprüchen und Liedern tatsächlich das alltägliche Leben mitbestimmt hat.
Sinnlich nachvollziehbar wird allerdings auch die Kehrseite dieser Christlichkeit. Mit den Ideologemen des christlichen Weltbild läßt sich alles menschlich Verwerfliche integrieren – nämlich als das zu Überwindende, wofür die christliche Religion die Werkzeuge selbstverständlich zur Verfügung stellt; das Böse, das sind Aufgaben Gottes. Auch das christliche Weltbild ist ein geschlossenes System, in dem alles seinen Platz findet, sobald es einmal geschehen ist: auch der Nazismus, der Stalinismus, jedes Verbrechen. Für jede Lebenssituation gibt es ein Bibelzitat, wodurch das entsprechende Phänomen in den Gesamtzusammenhang des christlichen Weltbilds gestellt werden kann; es liegt dann nur noch am Einzelnen, eine biblisch legitimierte Umgangsweise dafür zu finden; die Autorin macht es uns vor.

In Erna Saengers Buch entsteht der Eindruck, daß die Ablehnung der Nationalsozialisten in ihrem Kreis (auch innerhalb des sogenannten "Kirchenkampfes") zunächst vorrangig damit begründet wurde, daß die Nazis die beiden Amtskirchen nicht anerkannten. "Dem Nationalsozialismus stand Saenger ablehnend gegenüber. Insbesondere missfiel ihm, dass der Staat die evangelische Kirche immer mehr beeinflusste", heißt es in einer ausführlichen Würdigung Konrad Saengers. War das nun wirklich das Schlimmste, was den Nazis vorzuwerfen wäre?
Hitlers Buch MEIN KAMPF (1925/27) wurde offenbar weder von dem professoralen Philosophen Eduard Spranger noch im Umkreis der hochgebildeten Familie Saenger rezipiert.
Im Anhang des Nachworts werden beispielhaft einige Passagen aus Hitlers programmatischer Schrift dokumentiert. Ihre gnadenlose, wahnsinnige, in der Konsequenz mörderische Rationalität war die Kehrseite einer an christlicher Nächstenliebe und unbedingter Lebenszugewandtheit orientierten Gutbürgerlichkeit, von der Erna Saenger glaubwürdig und sympathisch erzählt.

(Aus dem Nachwort)

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Ernst Glaeser: DER LETZTE ZIVILIST

Ernst glaesers 1928 erschienener erster roman JAHRGANG 1902 war ein internationaler erfolg, an den das zweite, FRIEDEN 1919 (1930) anknüpfen konnte. 1933 wurden auch diese bücher von den nazis verbrannt.
Glaeser siedelte im dezember 1933 mit seiner frau und seinem 4-jährigen sohn in die tschechoslowakei über, von dort ging er 1934 nach locarno und im oktober 1935 nach zürich. Der dort entstandene und hier wiederveröffentlichte dritte roman DER LETZTE ZIVILIST zeigt nuanciert die schrittweise machtergreifung der NS-ideologie in einer süddeutschen kleinstadt. Es wurde im laufe der folgenden jahre (angeblich) in 14 sprachen übersetzt.
In den folgenden jahren distanzierte sich glaeser zunehmend von den antifaschistischen deutschen emigranten. Am 1. april 1939 kehrte er nach deutschland zurück.
Im NS-deutschland durfte glaeser eingeschränkt publizieren. Nach 1945 wurden weiterhin werke von glaeser veröffentlicht, der autor konnte jedoch nicht mehr an seine erfolge der 1930er jahre anknüpfen. Ernst glaeser, geboren 1902, starb 1963 in mainz.

Zweifellos wollte der autor mit dem exilroman DER LETZTE ZIVILIST (1936) der öffentlichkeit die augen öffnen über die kollektive psychodynamik der bevölkerung in deutschland. Er wollte nachvollziehbar machen, wieso eine mehrheit von deutschen zu parteigängern der nazis wurden und es geblieben sind. Ihm ging es kaum um den konkreten antifaschistischen widerstand (der in kommunistisch orientierter exilliteratur im vordergrund stand), eher um die überwindung derartiger deformationen des menschlichen, – um "Erziehung nach Auschwitz" (adorno), allerdings bereits vor auschwitz.
Der übergang "ganz normaler" bürger zu nazis konnte in den 30er jahren beobachtet, aber noch nicht verstanden werden. Bekanntlich streiten sich die fachwissenschaften bis heute um diese frage. Der roman bietet erfahrungsmaterial zu dieser frage und lebt aus der sensiblen beobachtung sozialer und ideologischer zusammenhänge. Er ist organisiert wie das szenario eines films. Krasse schnitte richten die aufmerksamkeit unmittelbar auf das bild der szene, klischeehafte momente malen soziale situationen aus. Die personen wirken gleegentlich wie rollen im kabuki-theater.
Kein zufall, daß manche passagen sich lesen, als habe ein NS-protagonist sie geschrieben. Eine von allen unerwünschten affekten gereinigte "wissenschaftliche" darstellung der NS-deutschen realität ist jedoch noch keine bewältigung, eher eine entwirklichung. Um tiefgründiger nachzuvollziehen, wie es damals (vermutlich) war, ist es nötig, sich gelegentlich in den dreck, in das ekelhafte hineinzufühlen, das zur nazifizierung der deutschen bevölkerung gehört. Durch glaesers nuancierte darstellung wird auch die rhetorisch-manipulatorische machtergreifung der NS nachvollziehbar. Nur in wenigen zeitzeugenberichten wird die emotionale wirkung von hitlerreden in der damaligen zeit nachvollziehbar, ja vielleicht sogar nachfühlbar wie hier.

Die handlung dieses romans ist durchgängig modellhaft zu verstehen, es geht nicht um individuelle schicksale. Ähnlich sozialwissenschaftlichen und psychohistorischen darstellungen sollen glaesers vignetten typische soziale konstellationen verdeutlichen. Hinter diesen mustern liegt dennoch viel einfühlungsvermögen in das gewordensein der figuren. Einzelne situationen lassen sich als parabeln verstehen, manches ist symbolisch aufgeladen. Manche slapstickhaft überzogene szenen sind eher komödiantisch gemeint.
Es ist ein böses – und ein trauerndes buch. Von ekel geschüttelt gegenüber den deutschen, die mit vielfältigen varianten von gift und galle, von lüge und betrug und menschenverachtung deutschland zu zerstören beginnen, – und trauernd um dieses deutschland, das für glaeser (wie sich zeigen sollte) als heimat unersetzbar blieb wie seinen hauptfiguren bäuerle und hans diefenbach.

Bekanntlich ist ernst glaeser 1939 zurückgegangen nach deutschland. Er habe seinen frieden gefunden mit den nazis, heißt es manchmal. Bereits durch den vorliegenden roman läßt sich ahnen, daß das doch etwas komplizierter war. Einige erzählungen zeigen deutlich glasers unauflösbare seelische gebundenheit an die heimat in (süd)deutschland, jenseits aller politischen umstände. In einer der erzählungen (ANDANTE 1939) geht es um seine rückkehr nach deutschland nach fünf jahren exil. "Nein, ich gehöre nicht zu dieser Musik. Mögen auch die Marktplätze überquellen von ihren Fanfaren und die Hybris des Muskels sich auf den Podien spreizen, unvergänglich bleibt, vor dem Geschmetter, dem Aberwitz des Aufstands, der kleine Spalt auf Deutschland, die Heimat, das erste Land." Heimatsuche wird in glaesers büchern direkt oder indirekt immer wieder thematisiert. Affirmative und kolportageelemente wie politische anpassung (im NS wie in der adenauer-BRD) liegen meiner meinung nach seinem schmerzhaften bedürfnis nach geborgenheit in vertrauter umgebung (sei es der menschen, sei es der natur) zugrunde. – Deutschland als liebesobjekt: nationalismus kann auch symptom sein für bindungssehnsucht, bindungsgestörtheit, die auf diese weise kompensiert wird. Dies dürfte für nicht wenige menschen gegolten haben und gelten, auch anderswo, auch heutzutage.
Diese neuausgabe bei A+C orientiert sich an der erstausgabe (1936).

(Aus dem nachwort)

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Friedrich Berg: DAS MÄDCHEN FLEUR

Diese erschütternde romanhafte darstellung von der schleichenden, alltäglichen machtübernahme durch die NS-bürokraten, nicht zuletzt als machtübernahme in den köpfen der bürger, kam 1948 in berlin heraus, - aber sowas wollte damals niemand lesen.

Aus dem blickwinkel einer jungen jüdischen rechtsanwältin wird nachvollziehbar, wie die schlinge sich fast unmerklich zuzog.. - Dabei wollen die menschen nur leben, ganz alltäglich und "normal", - und bei jedem ruck der schlinge, bei jedem schlag ducken sie sich ein stückchen mehr, wie kaninchen oder schnecken, igel oder schildkröten: synchron mit den angriffen, - ohne umsicht.
Fleurs familiärer hintergrund ist das damalige akademische bildungsbürgertum; so erinnert manches an die bekannten aufzeichnungen victor klemperers.

Das buch wird hier erstmalig wiederveröffentlicht. Mit einem vorwort des herausgebers (2009).

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Heinrich Hauser: KAMPF. Geschichte einer Jugend

Der seemann, schriftsteller, farmer, fotograf und dokumentarfilmer HEINRICH HAUSER (1901 – 1955) trat 1918 als seekadett ein in die Marineschule Flensburg. Dort war er augenzeuge der Novemberrevolution. Zum schein schloß er sich kurzfristig den revolutionären matrosen an; anschließend wurde er mitglied des Freikorps Maercker und war beteiligt am bürgerkrieg zwischen reichsregierung (freikorps) und revolutionären aktivisten (Arbeiter- und Soldatenrat).

Kurzzeitig arbeitete er anschließend in einem hüttenwerk in ruhrort. Er schloß sich einer freikorps torpedobootflottille an und erlebte ausläufer des Kapp-Putsches, mit dem er sympathisierte. Von 1920 bis 1922 arbeitet hauser unter anderem als barmann und am hochofen, er macht zwei ansätze, medizin zu studieren und erlebt seine erste liebesgeschichte. In den jahren 1923 bis 1930 war er als (leicht-)matrose auf handelsschiffen und nahm dort an fahrten in alle kontinente teil. –

1925 wurde heinrich hauser mitarbeiter der Frankfurter Zeitung. Der vor allem in den 30er jahren sehr erfolgreiche autor schrieb zahlreiche Essays, reisereportagen und romane. Für seinen zweiten roman 'Brackwasser' erhielt er 1928 den Gerhart Hauptmann-Preis. Im selben Jahr entstand die fotoreportage 'Schwarzes Revier' über das ruhrgebiet.

Von diesen ersten dreißig lebensjahren seines lebens berichtet das vorliegende, hier erstmalig wiederveröffentlichte buch. Die erstausgabe erschien 1934; spätestens seit 1933 sah hauser im nationalsozialismus eine perspektive zur verwirklichung eigener ideale – bis 1939. Im vorliegenden autobiografisch-belletristischen bericht will der autor diese parteinahme für die nazis aus seiner lebenserfahrung heraus begründen.

Heinrich hauser wanderte 1939 in die USA aus. Dort arbeitete er in verschiedenen bereichen; mit zwei aufeinanderfolgenden ehefrauen betrieb er jeweils eine farm, zunächst in south valley/roseboom (new york), dann in wittenberg (missouri). Im Jahr 1948 kehrte hauser nach deutschland zurück und wurde für wenige monate chefredakteur der gerade gegründeten zeitschrift STERN. Er konnte in der BRD an seine früheren publikumserfolge nicht mehr anknüpfen, schrieb neben erinnerungen an seine zeit als farmer am mississippi vor allem auftragswerke (meist für die industrie). Jedoch hatte hauser bis ans lebensende ideen für unterschiedlichste, meist nicht verwirklichte projekte. Vierundfünfzigjährig starb er, offenbar durch freitod.

In jüngster zeit wurden mehrere seiner bücher wiederveröffentlicht, es gab eine ausstellung seiner fotografien aus dem ruhrgebiet, einer seiner filme wurde restauriert und wird ab und zu gespielt. Es gibt eine sehr materialreiche biobibliografische dissertation. Das hier wiederveröffentlichte frühe schlüsselwerk 'Kampf.Die Geschichte einer Jugend' versteht sich als nächster schritt dieser (notwendigerweise kritischen) wiederentdeckung des menschen und des autors heinrich hauser.

Heutzutage findet sich für dieses buch öffentlich kaum mehr als der hinweis, hauser habe sich mit ihm den nazis andienen wollen. Das ist nicht ganz falsch; jedoch lädt es darüberhinaus seite für seite ein zum nachdenken über sozialpsychologische, prozeßsoziologische, mentalitätsgeschichtliche zusammenhänge jener zeit – aus einem blickwinkel, der in den bis zur ermüdung gleichlautenden zeitgeschichtlichen interpretationen der populären medien fehlt; aber es ist dezidiert kein NS-ideologischer blickwinkel. - Wer sich nur aus den zeugnissen "linker", "fortschrittlicher" und "antifaschistischer" kräfte informiert über die vorgeschichte des NS‑deutschland, wird bestimmte aspekte der sozialhistorischen realität nicht verstehen. Solche ideologisch bestimmte selektive sicht ist einer der gründe, wieso wir aus der geschichte so wenig lernen. Robert musil schrieb zu diesem thema: "Die berühmte historische Distanz besteht darin, daß von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will."

Mit einem ausführlichen nachwort des herausgebers, mondrian v. lüttichau.

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Heinrich Hauser: WETTER IM OSTEN

Die preußische provinz ostpreußen war von 1871 bis 1945 der östlichste landesteil deutschlands. Hier herrschten adelige gutsbesitzer, die große ländereien besaßen, getreide und kartoffeln anbauten und oft auch pferdezucht betrieben.
Nach dem ersten weltkrieg beschlossen die siegermächte im versailler friedensvertrag von 1918, große teile westpreußens, danzig, die ostpreußische stadt soldau und das memelgebiet vom deutschen reich abzutrennen und dem polnischen staat zu übertragen. Ostpreußen wurde durch den polnischen korridor, einen 30 bis 90 kilometer breiten landstreifen, der polen den zugang zur ostsee ermöglichte, vom deutschen reich getrennt und somit eine exklave.
Ostpreußen geriet durch den korridor in eine wirtschaftliche isolation, die sich in der weltagrarkrise 1928 zu einer notlage entwickelte.
Hitlers besuch in ostpreußen (1932) war ein triumph; von weiten kreisen der bevölkerung wurde er als retter verstanden. Innerhalb der kriegtreiberischen und rassistischen NS-ideologie vom volk ohne raum (hans grimm) kam ostpreußen ein wesentlicher stellenwert zu.
Im und nach dem zweiten weltkrieg wurden millionen deutsche aus ostpreußen vertrieben. Vorbehaltlich einer endgültigen friedensregelung wurde die region geteilt, bekam neue grenzen, neue bewohner und neue städtenamen. Der nördliche teil wurde sowjetisch (region kaliningrad oblast), der südliche polnisch (region ermland-masuren). Beide regionen entwickelten sich in den folgenden jahrzehnten sehr unterschiedlich.
In der BRD wurde ostpreußen jahrzehntelang zum nostalgischen symbol für menschen, die von dort vertrieben worden waren, sowie zum ideologem für reaktionäre vertriebenenverbände.
1990 erfolgte die endgültige friedensregelung im zwei-plus-vier-vertrag. Dieser legte dann die oder-neiße-linie als ultimative grenze zwischen deutschland und polen fest.

Heutzutage ist ostpreußen ein historischer begriff, der in der medialen öffentlichkeit keine streitgespräche oder emotionalen aufwallungen mehr stimulieren kann. Die regionen wurden zum ziel von urlaubsreisen, auch zu meist behutsamer anknüpfung an individuelle familiengeschichte(n). Wer sich fragt, wie war es denn damals wirklich, findet (auf deutsch) wenig mehr als nostalgisch geprägte erinnerungsliteratur. Heinrich hausers hier erstmalig wiederveröffentlichte reportage von 1932 geht weit darüber hinaus. Dabei verringert auch seine NS-apologetische tendenz kaum den informationsgehalt.

Die vorliegende reportage ist – trotz der offen ausgesprochenen nationalistischen und NS orientierten haltung – weitgehend an paragmatischen sachfragen orientiert, wie auch andere arbeiten des autors. Hauser will verstehen, wie der soziale alltag funktioniert, das miteinander von mensch & natur & technik: arbeitsabläufe, handwerkszeug, geräte, vieh, dessen nahrung und milchertrag, Kleidung, Hausbau, Finanzen, wetter und unzählige weitere bestandteile des einfachen lebens. Das alles bildet in hausers buch nicht nur ein folkloristisches gewürz, sondern ist die essenz seines interesses, seiner zustimmung oder seiner kritik.
Dabei versucht er meines erachtens relativ vorurteilsfrei, sich in ostpreußen zu informieren über politische umstände, kräfte, intentionen. Seine einigermaßen idealistisch-naive affinität zu NS-ideologischen axiomen ist unverkennbar; vor allem ein "Bevölkerungsdruck" im deutschen reich sowie eine notwendigkeit, das deutsche reich durch einen "Menschenwall" im osten vor "den Russen" zu schützen, sind ideologische axiome, in denen er sich wiederfindet. Das diskreditiert die redlichkeit seiner reportage nicht mehr als jedes andere soziale, gesellschaftliche, politische axiom, wie sie jeder von uns, auch jeder reporter, in sich hat.

Ein schwerpunkt des buches liegt in hausers überlegungen zur ostpreußischen siedlungspolitik.Die praxis der siedlungsgesellschaften kritisiert er ebenso wie die bürokratische konkurrenz zwischen reichs- und preußischer verwaltung zu lasten der ostpreußenhilfe. Ein weiteres problem sieht er im fehlen von genossenschaftlicher zusammenarbeit, dem gemeinsamem nutzen von landwirtschaftlichen maschinen. Die schuld daran sieht hauser vor allem in ressentiments einer "engstirnigen Politik" mit "romantisch-reaktionären Vorstellungen vom Wesen eines Bauern", die jede gemeinschaftliche nutzung von arbeitsgeräten als "kommunistische Ideen" diskriminierte. Viele Neusiedler waren – so hauser – als ehemalige industriearbeiter längst gewohnt, maschinen kollektiv zu nutzen. Der autor plädiert unmißverständlich für landwirtschaftliche produktionsgenossenschaften (wie es später in der DDR hieß: LPG), die zudem die erfahrung des kollektiven arbeitens aus dem damaligen Freiwilligen Arbeitsdienst (FAD, - seit 1931) nutzen könnten.
Gegenüber der einseitigen verherrlichung des bauernstands bei den nazis findet sich hier (und in anderen werken hausers) eine umfassende wertschätzung aller handwerklichen tätigkeiten /produkte /werkzeuge einschließlich der industriearbeitern gegenüber handel und kapitalismus. Zugleich zeigt sich hier wie in anderen arbeiten des autors seine grundlegende sensibilität und achtung der natur gegenüber.

Hausers reportage vermittelt – anhand der modellhaften situation ostpreußen – das gesellschaftliche klima, in dem die massenhafte zustimmung zu den nazis in gesamtdeutschland zum naheliegenden nächsten schritt wurde. Dieses klima setzt sich zusammen aus unzähligen färbungen des alltagsbewußtseins, die als einzelne relativ belanglos sind. Auf diese weise funktionieren ideologische prozesse in jeder gesellschaft, dieses subtile einfärben von aussagen gehört zum handwerkszeug der allermeisten politiker und bestimmter massenmedien. Am anfang steht jedoch immer ein genuiner prozeß der affektiven besetzung individueller meinungen.
Soll die wiederveröffentlichung dieses buches also verständnis heischen für damalige NS-anhänger? In einer weise durchaus. Aus zeitzeugenberichten wie der hier vorliegenden könnten wir lernen, welche folgen es haben kann, wenn eine mehrheit der bevölkerung sozialem abbau, diskriminierung durch die eigene bürokratie und struktureller hoffnungslosigkeit unterworfen ist – und dann eine rattenfängerpartei zur agitation bereitsteht. Das gilt damals wie heute, hier wie dort.

(Aus dem nachwort)

Wiederveröffentlicht wurde von heinrich hauser bei A+C bereits das autobiografisch orientierte buch  KAMPF. Geschichte einer Jugend (1934). - Wichtige neuveröffentlichungen besorgte der WEIDLE VERLAG Bonn.

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Heinz Brandt: EIN TRAUM, DER NICHT ENTFÜHRBAR IST

Leben für einen humanen Sozialismus …Heinz Brandt (1909–1986) war kommunistischer Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. 1934 wurde er zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, 1940 in das KZ Sachsenhausen überstellt. Von dort wurde er 1942 ins KZ Auschwitz deportiert. Nach der Evakuierung des KZ im Januar 1945 wurde Brandt in das KZ Buchenwald verbracht und erlebte dort die Befreiung. Nach 1945 wurde er SED-Funktionär, ab 1952 als Sekretär der Berliner SED -Bezirksleitung für Agitation und Propaganda.
Im Zusammenhang mit dem Aufstand vom 17. Juni 1951 kam er in Konflikt mit der stalinistischen Machtclique um Walter Ulbricht. (Diese Erfahrungen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Buches.) 1958 floh Brandt in den Westen; 1961 wurde er während eines Kongresses in West Berlin in die DDR entführt, dort wurde er wegen "schwerer Spionage in Tateinheit mit staatsgefährdender Propaganda und Hetze im schweren Fall" zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt. Es folgten zwei Jahre Haft in der Sonderhaftanstalt Bautzen II. Eine weltweite Kampagne der IG Metall, von Linkssozialisten, Amnesty International und Bertrand Russell führte 1964 zu seiner Freilassung. Nach der Rückkehr in die Bundesrepublik stritt Brandt für einen humanen Sozialismus.

Die skandalöse, verbrecherische und spektakuläre Entführung Heinz Brandts durch Agenten des MfS war seinerzeit zweifellos der publikumswirksamste Aspekt des Buches; heute erkennen wir seinen Wert vorrangig in Brandts Insider-Zeugnissen zur frühen DDR-Geschichte. Aber auch die Erinnerungen an seine Kindheit in der jüdischen Familie (in Posen), vor und im ersten Weltkrieg, und als Kämpfer gegen die NS Diktatur (bereits lang vor 1933), die Gefangenschaft in den Zuchthäusern Luckau und Brandenburg sowie den KZ Sachsenhausen, Auschwitz und Buchenwald sowie zum politischen Antisemitismus in der Sowjetunion wie in der DDR, auch der beeindruckende Einblick in Machtkämpfe innerhalb der damaligen politischen Führung von Sowjetunion und DDR sowie Brandts Beteiligung an den Ereignissen um den 17. Juni 1953 gehören zu den bedeutenden Zeugnissen in diesem Buch. Brandts luzide Kritik der politischen Entwicklung Rußlands (vom Zarenreich über die Oktoberrevolution bis zum Stalinismus) zeigt sich heute, spätestens mit Wladimir Putins großrussischen Halluzinationen und seinem verbrecherischer Krieg gegen die Ukraine, als weiterhin relevant, wenn auch der Versuch einer Revolution von oben durch Michail Gorbatschow die gesellschaftlichen Ressourcen für eine menschengemäßere Entwicklung der russischen Gesellschaft deutlich gemacht hatte.

Die polit-strategischen und -taktischen Abläufe, die Heinz Brandt aus der Frühzeit der DDR nuanciert nachvollziehbar macht, gab es nicht nur dort und in der Sowjetunion: sie sind wesentlicher Aspekt des machttaktischen Normalität immer und überall, natürlich auch heutzutage. Deswegen können wir aus dieser Darstellung historischer Vorgänge lernen, können Sensibilität entwickeln für derartige machtorientierte Rhetorik: in den Verlautbarungen der heutigen Politiker, in den Medien, im Arbeitsleben und gelegentlich auch im privaten Alltag.

Dieser autobiographischer Bericht erschien ursprünglich 1967 im Paul List Verlag München, dann 1977 in Andreas Mytzes verlag europäische ideen. Die bisher letzte Buchhandelsausgabe erschien 1985 im Fischer Taschenbuch Verlag. Diese erweiterte Taschenbuchausgabe (1985) wird jetzt (2022) als online-Ausgabe (zum kostenfreien Download) neu herausgegeben. Dazugekommen sind Literaturempfehlungen des Herausgebers.

(Aus dem Nachwort 2022)

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Iden Tietze: TRÄUME AM ABGRUND

Der zuerst 1947 veröffentlichte kleine roman TRÄUME AM ABGRUND vermittelt uns ein NS-deutschland im bombenkrieg der letzten monate, aus dem blickwinkel der vage antinazistischen, sich als hilflos erlebenden schweigenden mehrheit. Das buch spielt an der westfront 1944/45, im gebiet der eifelberge.

Die personen der handlung sind keine überzeugten nazis und keine antifaschistischen helden, sondern menschen zwischen anpassung, privatistischem rückzug, eigennützigkeit, überlebenskampf, politischer gedankenlosigkeit, zumeist nur indifferentem widerspruch zum nationalsozialistischen regime, – deren mitmenschliche sensibilität und solidarität sich aber durchaus entfaltet im umkreis der konkreten eigenen, affektiv besetzten erfahrungen und beziehungen.

Die autorin vermittelt hautnah zweifellos repräsentative befindlichkeiten in der bevölkerung jener zeitgeschichtlichen situation; seine fast filmische dichte und rasanz macht das buch als zeitzeugenbericht (fast im sinne der oral history) lesenswert bis heute.

Nur eine handvoll bücher der sogenannten trümmerliteratur nach 1945 wurde anerkannt als unverzichtbare zeitzeugnisse. Wie andere, fand auch das vorliegende seine leserInnen in der camouflage eines unterhaltungsromans; als zeitgeschichtliche dokumentation sind solche zeugnisse zumeist verloren. (Siehe auch den ebenfalls bei A+C wiederveröffentlichten roman von anna schack: Das Haus Nr. 131.)

Meist gehen wir in großer selbstverständlichkeit davon aus, daß wir alle uns im alltag in irgendeiner weise mit politisch-gesellschaftlichen problemen, mit ungerechtigkeiten und dem leid fremder menschen befassen, daß wir stellung beziehen und eigene meinungen haben, konsequenzen ziehen oder übergeordnete politisch-gesellschaftliche tatbestände im eigenen interesse nutzen, gelegentlich auch mißbrauchen. Tatsächlich befassen wir uns jedoch im allgemeinen nur mit umständen, die unmittelbar unsere gewohnte alltägliche lebensweise beeinflussen oder die im fokus individueller persönlichkeitsentwicklung liegen. Das gilt unter unseren relativ demokratischen umständen genauso wie es in nazideutschland galt, es war auch in der DDR nicht anders, und in anderen regionen der erde zeigt sich dasselbe. Moralische forderungen mögen gesellschaftlich ihre aufgabe haben, sie ersetzen jedoch nicht soziologische, sozialpsychologische recherche über das, was der fall ist. Das vorliegende buch ermuntert zum nachdenken darüber.

(Aus dem nachwort)

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Katalin Vidor: ALLTAG IN DER HÖLLE

Die ungarische jüdin katalin vidor (1903-76) wurde 1944 verschleppt in das vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, später kam sie zur zwangsarbeit nach Sackisch und Merzdorf, außenlagern des KZ Groß Rosen. Ihr buch erschien 1963 auf deutsch (in der DDR), wurde kaum beachtet und ist längst vergessen. Als eine von wenigen KZ-überlebenden berichtet die psychologisch ausgebildete autorin vorrangig vom menschsein der gefangenen jüdinnen, sie dokumentiert momente des niemals adäquat nachvollziehbaren geflechts von stärken und schwächen, von liebe und gleichgültigkeit, trägheit des herzens und angst, von resignation und demütigung, verzweiflung und beharren, von demut und existenzieller erschöpfung innerhalb der grundlegend traumatisierenden KZ-situation.

Es ist dies deutlich kein buch über den nazi-terror, das millionenfache leid der Shoah, über Den Tod, sondern ein bericht über die in diesem terror dennoch existierende mitmenschlichkeit: über Das Leben. Im mittelpunkt stehen die gefangenen frauen in ihrem – wiewohl bis ans seelische und körperliche zerbrechen geschädigten – autonomen menschsein. Selbst in Auschwitz erlebten sich viele von ihnen offenbar nicht nur als objekte der nazis, sondern noch immer zugleich als subjekte des eigenen lebens.

Vidor schreibt von sich, sie sei im KZ keine von den mutigen gewesen. O doch, – ihr mut bestand darin, hinzuschauen, nicht zu verdrängen, – die unmenschlichkeit der täter und das leid der opfer und ihr eigenes leid für wahr zu nehmen; es ist der mut der zeugenschaft angesichts der menschengemachten, menschengewollten hölle. Sie macht eine weisheit des lebens vorstellbar, die sich selbst unter diesen umständen an menschenwürde, menschenliebe und solidarität orientiert, nicht am "bösen", das eigentlich nur verfehltes leben ist. Diese achtsamkeit ist die eigentliche botschaft ihres buches.(Aus dem nachwort)

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Kurt Münzer: JUDE ANS KREUZ !

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Kurt münzer (1879-1944) war ein origineller expressionistischer schriftsteller, dessen werke uns soziales und seelisches leben in deutschland zwischen 1910 und 1933 in besonderer weise nahebringen. Seine romane und novellen erschienen seinerzeit in hohen auflagen; sie provozierten jedoch leserschaft wie literaturkritiker durch ihre themen, die zutagetretende haltung wie durch die emotional überhöhte darstellung. Der autor galt vielen als "skandaldichter", seine bücher wurden nicht selten abgetan als "unterhaltungsliteratur".

Von unterschiedlichen blickwinkeln nähert sich der autor in romanen und erzählungen seinen lebensthemen: der unvereinbarkeit von kunst und leben, dem wesen des judentums angesichts des zunehmenden antisemitismus, dem leid der entfremdeten menschen unserer zeit, der realität pathologischer mutter-kind-bindungen und seiner eigenen sehnsucht nach authentischen begegnungen und beziehungen, der ambivalenten lebendigkeit der großen städte. (Auch als porträtist der stadt BERLIN ist er wiederzuentdecken!)

Der roman 'JUDE ANS KREUZ' erschien 1928. Er enthält eine tiefgründige poetisch-literarische auseinandersetzung dieses jüdischen autors mit dem sinn des jüdischseins - angesichts der zunehmenden antisemitischen pogromstimmung im deutschland der 20er jahre. Dabei erinnert die darstellung an jesus christus, den juden, und daran, daß die botschaft der liebe zwischen den menschen zur jüdischen spiritualität gehört.

'JUDE ANS KREUZ' wird hier erstmals wiederveröffentlicht, mit einem ausführlichen biobibliografischen nachwort des herausgebers sowie einem anhang (kurt münzer zum wesen des judentums; bibliografie).

Als originalausgabe ist bei A+C eine auswahl von novellen und feuilletons von kurt münzer erschienen: 'Bruder Bär', als wiederveröffentlichungen der berlln-roman 'Menschen am Schlesischen Bahnhof' sowie die romane 'Phantom' und 'Esther Berg'.

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Margarete Hannsmann: DREI TAGE IN C.

Neben einem ersten Gedichtbändchen ist der kleine Roman DREI TAGE IN C. (1965) Margarete Hannsmanns erste selbständige Veröffentlichung. Die Autorin (1921–2007) verstand sich lebenslang als Dichterin, Gedichtbände nehmen den größten Raum ihrer Veröffentlichungen ein. Ihre (autobiographisch begründeten) Prosaarbeiten gelten offenbar noch immer eher als Nebenprodukte. Jetzt, nach ihrem Tod, mit dem Überblick über Leben und Werk, wäre es angemessen, sie auch als Prosaautorin zu entdecken. DREI TAGE IN C. ist einer der ersten frühen schriftstellerischen Versuche einer persönlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.

Gegenüber dem späteren vielfältigen Werk Margarete Hannsmanns bedeutet dieser Roman etwas Singuläres: es ist einfache erzählende Prosa – aber Prosa einer Dichterin! Das lebt in Bildern, Assoziationen, Zusammenklängen, Dissonanzen, in Rhythmen und Brüchen, theatergerechten Szenen, innerem Monolog und Gesprächen mit den interessierten oder gelangweilten Kindern, – aufgeregt und nachdenklich in eins. Wortselig, oft wie skizziert oder aquarelliert verbindet die Autorin Bilder zu Collagen, schieben sich Assoziationen ineinander oder stehen dissonant gegeneinander; der gesamte Text ließe sich rezitieren, deklamieren, als Theaterstück aufführen. Dieser berichtende, erinnernde, erzählende, manchmal pathetische, assoziierende, über die Ufer tretende Text umspannt in Schichten und Blickwinkeln, die einander Satz für Satz durchdringen, fünfzig Jahre deutscher Geschichte, vom ersten Weltkrieg bis nach dem Mauerbau: wehmütig, dissonant, hautnah und ungreifbar. Letztlich gilt dies für Margaretes Lebenswerk insgesamt.

Die lebenslange Aufarbeitung der eigenen NS-Sozialisation, des ambivalenten Verhältnisses zum Elternhaus sowie der NS-Zeit insgesamt sollte ein roter Faden auch der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit HAP Grieshaber werden. Zu ihrer Konsequenz wurde Margaretes unermüdliches praktisches, poetisches, publizistisches Engagement für Menschenrechte, Demokratie, gegen Gewalt und Umweltzerstörung. Gerade die nichtmenschliche Umwelt, die sogenannte Natur war von Kindheit an existentieller Lebensraum der Autorin – und wurde wohl, noch vor der Literatur, zum bedeutsamsten Heilmittel gegen die ideologische Zerstörung des NS; auch dies wird deutlich in DREI TAGE IN C.

Diese Ausgabe bei A+C ist seit Jahrzehnten die erste Wiederveröffentlichung eines Buches von Margarete Hannsmann. Sie erscheint aus Anlaß ihres hundertsten Geburtstags am 10. Februar 2021.(Siehe auch einen Hinweis des STUTTGARTER SCHRIFTSTELLERHAUSES.)

Ein biobibliografischer Anhang enthält neben einem Nachwort des Herausgebers (MvL) zwei Schulaufsätze von 1935 und 1936 sowie das Langgedicht "Ballade von der Kindheit". Es folgen Auszüge aus Briefen an mich (MvL). – In den Auszügen aus einem Radiogespräch mit Franz Fühmann (1980) stellt Margarete Hannsmann wesentliche Aspekte ihres Lebensweges aus einem für ihre schriftlichen Äußerungen ungewöhnlichen Blickwinkel dar. Am Schluß des Anhangs steht eine Gesamtbibliographie der veröffentlichten Arbeiten Margarete Hannsmanns.

2001 schrieb sie über ihr Erwachsenenleben:

"Fronttheater am Atlantikwall, Kinder geboren unterm Bombenhagel, Ziel für MG- und Granatwerferfeuer, mit dem Sarg des Vaters auf einem Lastwagen, Totenwache beim Ehemann, die Familie ernährt durch Verkauf von ausgestopften Füchsen, Kehlköpfen in Spiritus, Menschenskeletten, nichts als Literatur im Sinn, während die Gruppe 47 florierte und meine Generation, ihre Reste, den Kahlschlag verkündete, bis die Nachgeborenen andere Gedichte, Romane, Hörspiele schrieben. Ich war siebenunddreißig, als sich der Würgegriff lockerte, als das Leben mir Luft ließ zu fragen, was denn sein Sinn sei: mein erstes Gedicht.
Seit 1964 erscheinen 23 Lyrikbände, etliche Hörspiele, fünf biographische Zeitromane. Vierzig Lebensläufe geschrieben. Makulatur von Jahr zu Jahr. Entscheidende Impulse durch Griechenland. Mühsames Begreifen, daß jedem Aufstieg ein Fall, jedem Fall ein neuer Aufstieg folgt, jeder These eine Antithese, daß für Einzelgänger in freier Wildbahn der Weg zur Synthese durchs Labyrinth führt. Das Wolfsgesetz Entweder – Oder eintauschen dgegen das Sowohl: Als auch. Gelernt, daß man sich ducken muß unterm Hieb der Dialektik, bis man sich selbst als Paradoxon erkennt: als introvertierte Extrovertierte, die Lebenswegen von ebensolchen Künstlern gekreuzt hat. (Unangenehmes Elixier: himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt.) Nachgeholt, was keine Univerisität lehren kann: Niederlagen in Siege zu verwandeln, Siege in Niederlagen.
Ein halbes Jahrhundert Engagement durch das Wort. Scham, daß die Taten nachhinken. Zu viele Lebenspartikel in die Kunst gebracht, als Chauffeur und Gefährtin HAP Grieshabers unterwegs, um für eine bessere Welt zu streiten, drei Schritte vor, zwei zurück, gegen die Unterdrückung von Minderheiten: Pflanzen, Tiere, Menschen; gegen die Zerstörung ihrer Lebensbedingungen durch Technik und Habgier, für die Erhaltung der dahinschwindenden Natur. An zu vielen Gräbern gestanden. In den Armen der Melancholie (die schöpferisch ist) Depression mit den Füßen wegtretend. Am Ende mein vielleicht schönster Gewinn: Prototyp des Jahrhunderts zu sein, dessen Bauch meine Leidenschaften beherbergt."

Nein, Margarete Hannsmann hat sich nicht vorenthalten; lebenslang hat sie sich mit Leib und Seele, Reflexion und tätigem Engagement hineingeschmissen in Situationen, Empfindungen, Überzeugungen, Beziehungen, Aufgaben, hat alles ausgelotet, ausgekostet bis zur Neige – und sich gleichwohl nicht verloren, sondern ihre Eigen-Art immer weiter geklärt. Sie ist hautnah am Leben geblieben, bis zuletzt, – zwischen meditativer Achtsamkeit und etwas tun wollen. "Was mich nicht entzündet, was nicht brannte inwendig, ist verlorengegangen.", schreibt sie in ihrem TAGEBUCH MEINES ALTERNS (1989). - Dazu eine Aufzeichnung (ARD Talkshow 1991): hier!

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Mária Ember: SCHLEUDERKURVE. Jüdische Ungarinnen und Ungarn im NS-Arbeitslager 1944-45

Neuausgabe, mit einem Anhang: Moshe (Miklós) Krausz – ein fast vergessener Kämpfer für die ungarischen Jüdinnen und Juden

Mária Ember (1931–2001) wurde 1944 in das österreichische Durchgangslager Strasshof an der Nordbahn und von dort in das Zwangsarbeitslager Wien-Stadlau deportiert. Nach 1945 ging sie zurück nach Ungarn. Dort studierte sie und arbeitete als Journalistin. Wegen ihres politischen Engagements erhielt sie nach 1956 vier Jahre lang Publikationsverbot. 1968 und 1971 erschienen zwei Romane, 1974 der hier wiederveröffentlichte romanhafte Bericht HAJTŰKANYAR (Schleuderkurve), in dem sie die Erfahrung der Deportation aus der Sicht eines 12-13jährigen Jungen verarbeitet.

Anfang der 80er Jahre recherchierte sie in Moskau zum Schicksal Raoul Wallenbergs. In den frühen 80er Jahren verlor Ember durch ihre Solidarität mit der Prager Charta ‛77 ihre Arbeitsstelle.

HAJTŰKANYAR (Schleuderkurve, Haarnadelkurve, Kehre) berichtet halbdokumentarisch von der Deportation einer Gruppe jüdischer Ungarn aus Szolnok und Debrecen zur NS-Zwangsarbeit nach Österreich, ab April 1944. Durchgängige Handlung des Buches ist die mäandernde, bruchstückhafte Erinnerung an den Terrors durch ungarische, ukrainische, österreichische und deutsche NS-Schergen. Schattenhafter Protagonist des Berichts ist ein wohlerzogener namenlos bleibender Junge aus bildungsbürgerlichem Elternhaus, in Márias damaligem Alter.

Die Erinnerungen (des Jungen), die Zeiten schieben sich zunehmend ineinander, lassen sich oft nicht mehr zuordnen. Seine Aufmerksamkeit, seine Wachheit zieht sich mehr und mehr in sich selbst zurück, in seinen Leib, in den Dämmerschlaf: hinter seine geschlossenen Augenlider… Gegenwart als durchgängige Zeitebene gibt es in dem Buch nicht; die Stationen der Entrechtung durch die Nazis und ihre ungarischen (und ukrainischen) Verbündeten tauchen unvermittelt als Bruchstüche in der Erinnerung des Jungen auf und versinken wieder im traumatischen Nichts. Begebenheiten werden sprunghaft und mit plötzlichen Abbrüchen berichtet, ganz so, wie wir im Innern vergrabene, gleichwohl tief bedeutsame Einzelheiten zutage fördern, um sie uns selbst oder jemandem zu erzählen.

Die vielen Momente, mit denen Gefangene versuchen, unter den Umständen der menschenverachtenden, brutalen Verschleppung ein Mindestmaß an zwischenmenschlicher Ordnung, an sozialer Stimmigkeit zu erreichen, beeindrucken und berühren. Nicht zuletzt geht es um die Perspektive von Frauen in der Shoah – ohne daß dabei biologistischen Ideologemen Vorschub geleistet werden soll. Im Hinblick auf den (fast erfolgreichen) Genozid an ungarischen Jüdinnen steht hier neben (und zeitlich gesehen vor) HAJTŰKANYAR der ebenfalls bei A+C wiederveröffentlichte autobiografische Bericht von Katalin Vidor (Vidor Gáborné).

Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der nüchternen, unsentimentalen Erzählung werden selbst die nur in Schlaglichtern vorgestellten weiteren Personen der Gruppe spürbar als Menschen mit einem individuellen Schicksal; da geht es nicht um die tausende, hundertausende, Millionen Opfer, sondern um die Individuen, aus denen sich solche nicht mehr wirklich vorstellbaren Menschenmengen zusammensetzen.

In SCHLEUDERKURVE geht es nicht um die Situation in Auschwitz oder anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Es geht "nur" um die Deportation aus Ungarn in ein österreichisches Arbeitslager. Aber auch innerhalb dieser Prozedur zeigte sich die intendierte Demütigung, dieselbe schrittweise Zerstörung von Selbstwertgefühl und sozialer Identität scheint auf in herzzerreißenden Szenen. In wenigen Zeugnissen wird die alltägliche Entwürdigung und Verhöhnung der jüdischen Opfer nachfühlbar wie hier. Bei jeder neuen Unterdrückungsmaßnahme greifen sie hilflos nach den noch verbliebenen Ressourcen sozialer Normalität und Selbstbestimmtheit (an die sie auf einer Ebene ihres Bewußtseins selbst nicht mehr glauben können) – und jedesmal sind es weniger Ressourcen. Hilflose Nuancen der Rationalisierung, auch Momente von Unterwürfigkeit zeigt Ember, die peinlich, würdelos genannt werden könnten, falls wir uns nicht klarmachten, daß sie zu unserem natürlichen Überlebensrepertoire gehören. Die jüdischen Opfer sind "ganz normale" Menschen wie du und ich, – mit allem mehr oder weniger spontanen Eigennutz, mit Klatsch und Engstirnigkeit, Feigheit und Bequemlichkeit, mit Vorurteilen und Trägheit des Herzens. Alle wollen sie "nur" ihr eigenes Leben, ihre Normalität und möglichst viel von ihren vertrauten Umständen bewahren.

Einen Schwerpunkt des Berichts bildet die erbarmungslos kalte, höhnische Menschenverachtung der ungarischen Gendarmen gegenüber den ungarischen Juden. Ungarische Bürger waren es, die 1944 binnen weniger Wochen rund 500.000 jüdische Mitbürger deportierten. In diesem Zusammenhang schrieb die Autorin: Ennek a könyvnek a tárgya nem a zsidó sors. Amit ez a könyv elbeszél, az magyar történelem. – Das Thema dieses Buches ist nicht das jüdische Schicksal. Was dieses Buch erzählt, ist ungarische Geschichte.

(Aus dem Vorwort)

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Martha Wertheimer: MASCHINE F 136

Ein krimi in diesem verlagsprogramm?? - Spätestens am schluß wird der grund nachvollziehbar geworden sein. Aber wie es so ist bei krimis: verraten wird nichts! – Spannung ist jedenfalls garantiert bis zur letzten seite.

Hinter HAL G. ROGER, dem ursprünglichen autorenpseudonym des hier erstmals wiederveröffentlichten romans von 1933, steckt mit größter wahrscheinlichkeit MARTHA WERTHEIMER, die deutsch-jüdische journalistin, pädagogin und zionistin, deren hauptwerk Entscheidung und Umkehr(originaltitel: Dienst auf den Höhen) bei A+C bereits neu erschienen ist.

Das buch spielt in london. Es gibt die stimmung des kriegstechnischen wettlaufs europäischer staaten bereits vor ausbruch des Zweiten Weltkriegs wieder. In der offenbar gesamteuropäischen vorkriegsstimmung von 1933 ist Maschine F 136 ein antimilitaristischer krimi, gerichtet an leserInnen aller staaten.

Kaum ahnen konnte die mutmaßliche autorin von Maschine F 136 im jahr 1933 , welchen kampf um menschlichkeit und gegen verbrecherische, tödliche, wahnsinnige intentionen auch sie bald führen würde: um flucht-, schutz- und überlebensmöglichkeiten für juden. Neben ihrer journalistischen arbeit beteiligte sie sich an der Hachschara-ausbildung (vorbereitung zur ansiedlung in palästina). Später übernahm MaWe (wie sie von freunden genannt wurde) die leitung  der jüdischen jugendfürsorge; sie organisierte und begleitete kindertransporte ins rettende ausland, vor allem nach england.
Sie selbst wurde 1942 von den nazis ermordet.

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Michael Brink: DON QUICHOTTE. Bild und Wirklichkeit

Zunächst engagierte sich der 1914 geborene emil piepke (später michael brink) in katholischen jugendorganisationen; dann kam der NS-arbeitsdienst und übergangslos das militär. Bald hatte er kontakt aufgenommen zu dem münchner Kreis der Weißen Rose, zum Kreisauer Kreis, aber auch zu aufrührerischen militärs. Er selbst bezeichnete sich manchmal als "ordonnanz" dieser gruppen. Er gehörte zu einem kreis kirchenkritischer katholiken um johannes maaßen und war eng befreundet mit dem später hingerichteten widerstandskämpfer alfred delp SJ.

Im winter 41/42 kam er schwerverwundet aus rußland zurück. Im frühjahr 1942 erschien das hier neu aufgelegte buch Don Quichotte. Bild und Wirklichkeit. Schon wenige wochen nach erscheinen war es ausverkauft, auch eine zweite auflage war bereits vergriffen, als (angeblich) stalingradkämpfer sich darüber empörten, daß so etwas erscheinen könne, während sie ihr leben einsetzten. Das Buch wurde verboten. Abschriften davon kursierten unter jungen menschen, nicht zuletzt im umkreis der Weißen Rose.

Michael Brink wurde im Frühjahr 1944 verhaftet und ins KZ sachsenhausen überstellt. Auf dem todesmarsch der KZ–häftlinge konnte er fliehen. Inzwischen war er schwer an lungentuberkulose erkrankt.
1945 heiratete michael brink die junge malerin roswitha bitterlich. 1946 kommt beider tochter zur welt. Michael brink kämpft in einem sanatorium um sein leben. Im selben jahr erscheint sein vermächtnis, das buch 'Revolutio humana', eine bedeutende theologische veröffentlichung jener jahre, – geschrieben in prophetischer radikalität und noch aus der erschütterung durch leichenberge in den KZ, zerrissene soldaten, das leid der bevölkerung, zerstörte städte, das geschrei von hitler und goebbels. Das ist der mensch? Was ist der mensch? (Auch diese arbeit wurde bei A+C wiederveröffentlicht.)

Michael brink kämpfte als soldat "für sein volk", erkannte aber zunehmend das eindeutig verbrecherische des von der deutschen wehrmacht betriebenen vernichtungskrieges. Angesichts dieser aporie, dieser sozialen zerrissenheit war orientierung und perspektive nur in anderen sphären menschlicher lebendigkeit zu finden; so dürfte der 'Don Quichotte' entstanden sein. Michael brinks kaleidoskopische, zwischen romantik und theologie, politischem widerstand und spiritualität sprühende predigten (denn das sind es nicht zuletzt!) sollten wir auch als ausdruck poetischer wahrheit verstehen, – einer poesie allerdings, in der bislang unvorstellbares grauen antezipiert ist. Die figur des Don Quichotte stellt er vor uns hin als archetypus, der wohl erst in unserem zeitalter einer progressiven verdinglichung der menschenwelt seine tiefste bedeutung erhält.

Individuell und konkret zu klären, wozu wir auf der welt sind, ohne außerhalb unserer selbst liegende evidenz, in der wir uns (wie auch immer imaginativ oder projektiv, religiös oder philosophisch) spiegeln können, fällt schwer in einer welt von relativität, verdinglichung und ideologie. - In brinks arbeiten fand ich analysen der menschheitlichen situation und perspektiven eines lebenswerten weiterexistierens der menschheit (trotz der kriege und völkermorde aller zeiten und weiterhin!) aus christlicher, katholischer perspektive. Für mich war klar, diese texte müssen eine zweite chance bekommen!

(Mondrian v. lüttichau, aus dem nachwort)

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Michael Brink: REVOLUTIO HUMANA

'Revolutio humana',michael brinks 1946 erschienenes vermächtnis, ist kein buch nur für christen. Es meint menschheitliche bindung an die schöpfung und korrespondiert in mancher hinsicht mit gedanken martin bubers und dietrich bonhoeffers, mit nikolai berdjajew und meister eckhart. Auf dem hintergrund der unfaßlichen nazibarbarei reflektiert michael brink zwischen verzweiflung und hoffnung über die wahrheit katholischer, christlicher spiritualität – in der reinheit, schlüssigkeit und radikalität eines künders (propheten) und kämpfers – gerichtet an eine zukünftige gesellschaft: für uns.

Im august 1947 stirbt der katholische denker und widerstandskämpfer michael brink. – Wer in deutschland hätte ein buch wie 'Revolutio humana'lesen wollen in den folgenden jahren? Alltagsnot und wiederaufbau standen im vordergrund, traumatisches nichtbegreifen, leugnen und vertuschen, besatzungsmächte und Kalter Krieg.
Fünfzig jahre später sind auch in deutschland viele menschen wieder auf der suche nach religio, spiritueller verbundenheit mit dem sinn der welt. Zunehmend wird anerkannt, daß wir alle dabei unseren eigenen weg finden müssen. Michael brink geht es um "Religion verstanden als Verwirklichung und dauernde Instandsetzung der Bindung vom konkreten einzelnen Menschen zum konkreten persönlichen Gott." Auch christen sind wir nicht, weil wir als kind getauft wurden oder weil wir CDU/CSU wählen. – Jetzt könnte brinks flaschenpost von "Armut, Ganzheit und Freiheit" endlich entdeckt werden als moment der vielfältigen gegenbewegung zur progressiven entfremdung und verdinglichung, zum "Prozeß einer allgemeinen Entmenschlichung".

Michael brink verweist deutlich auf die weiterhin bestehende "Verheißung des Alten Bundes"(zwischen YHWH und israel). Sie impliziert nicht zuletzt die forderung, die gesetze gottes innerhalb der sozialen gemeinschaft zu verwirklichen. Von daher hat der jüdische glaube einen genuin politischen (nicht jedoch machtpolitischen!) anspruch. Das widerspricht für ihn offenbar keineswegs dem zeugnis jesu christi von der bindung (religio) an ein jenseits: "Der Christ ist nicht Bürger dieser Welt" – aber er "sieht vom Kreuz her die Zeichenhaftigkeit auch der größten Not."

Im letzten kapitel der 'Revolutio humana' geht es dem katholiken brink um eine "Vollendung der Reformation", wobei er kritisch anknüpft an den"lutherischen Aufruhr". Er nimmt in diesem zusammenhang nicht nur intentionen der heutigen ökumenischen bewegung vorweg, seine gedanken korrelieren auch eng mit martin bubers dialogischem verständnis und romano guardinis personaler pädagogik.

Emil piepke, der spätere autor michael brink, ist mir wichtig und herzensnah in seiner kämpferischen tiefgründigkeit, seiner der menschenwelt zugewandten christlichen religiosität; wie gerne hätte ich mich mit ihm austauschen wollen! – selbst wenn ich auch durch ihn kein christ geworden bin.

(Mondrian v. lüttichau, aus dem nachwort)

Auch michael brinks 1942 erschienenes (und umgehend verbotenes) buch "Don Quichotte. Bild und Wirklichkeit" wurde bei A+C wiederveröffentlicht.

Siehe auch mondrian v. lüttichau: ''Armut, Ganzheit, Freiheit - Mensch werden nach Auschwitz? Michael Brink (1914-1947)'', in friedhelm köhler, friederike migneco, benedikt maria trappen (hg): ''Freiheit Bewusstheit Verantwortlichkeit: Festschrift für Volker Zotz zum 60. Geburtstag''(münchen 2016, S.311-334)

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Nora Waln: NACH DEN STERNEN GREIFEN

Deutschland, Österreich und Tschechoslowakei 1934-1938

Die US-amerikanische journalistin nora waln (1895-1964), aus wohlsituierter quäkerfamilie, erkundete von 1934 bis 1938 deutschland und österreich. Ihr 1939 in london und boston veröffentlichter bericht lebt von der für den leser nachfühlbaren zeugenschaft der autorin. Nora walns grundlegender blickwinkel ist ein humanistisch, idealistisch begründeter pazifismus ohne parteipolitische reflexionen, sowie eine zumindest mir sympathische affektiv besetzte gelehrsamkeit.  Immer deutlicher flackern in traulichen szenerien unvermittelt momente von gleichschaltung, unterdrückung und gewalt auf – selbst dies zunächst noch verkleidet in spießbürgerlicher ordentlichkeit, idealistischer begeisterung oder als seien es bedauerliche einzelfälle.

Nora waln zeigt sich im verlauf ihrer vier jahre in deutschland (und österreich) lernfähig, und sie dokumentiert die zögerliche wandlung ihrer zunächst sehr idealistischen einschätzung mit einem hauch bitterer ironie. Ihre zunächst naiv wirkende neutralität modifiziert sich mit den erfahrungen im nationalsozialistischen alltag zur feldforscherischen taktik. In verbindung mit ihrer sozialpsychologisch nuancierten beobachtungsgabe (und ihrer genuinen menschenliebe!) entsteht ein bericht, der nichts weniger ist als apolitisch.

Manche schilderungen harmonischer, idyllischer alltagsszenen oder auch traditioneller umgangsformen lassen sich heute kaum ohne widerwillen lesen. Nach 1945 gehörten solche erinnerungen in deutschland jedoch zu den wenigen scheinbar unkorrumpierten vorbildern für alltag und selbstgefühl. Im westen haben sie zumindest die adenauer-zeit wesentlich mitbestimmt, in der DDR scheinen sich versatzstücke daraus länger gehalten zu haben. Zur reflexion der NS-sozialisierten generationen über die verbrecherischen aspekte der nazizeit – gar noch im gespräch mit den nachgeborenen kindern – taugte entsprechendes selbstverständnis ebensowenig wie zu ihrer integration in die von massenmedien, konsum, kulturindustrie und "sexueller revolution" bestimmten gesellschaft nach 1950.

Heute, 50 jahre später, kann gerade nora walns laien-ethnografischer bericht für uns deutsche eine brücke schlagen zur welt unserer eltern, großeltern oder urgroßeltern.

Ihr augenzeugenbericht vom alltag im austrofaschismus (1936/37) läßt die spezielle österreichische mischung historischer hintergründe und innergesellschaftlicher ideologien und kräfte ahnen. Unabweisbar wird die geradezu mephistophelische raffinesse der schachzüge von NS-politik und -propaganda, mit der das öffentliche klima in österreich manipuliert wurde. Wieder ein anderer zeitgeschichtlicher blickwinkel auf die vorgeschichte des NS öffnet sich in ihrem umfangreichen kapitel zur situation in der tschechoslowakei, dem seinerzeit wohl fortschrittlichsten demokratischen impuls in mitteleuropa.

Bis in die letzten seiten des buches läßt sie die leserInnen teilhaben an ihren unvereinbaren erfahrungen und empfindungen in einem ideologischen spiegelkabinett. Gerade ihr tiefer ernst und ihre konsistente achtsamkeit über mehrere jahre ermöglichen uns, der damaligen soziodynamik in den von ihr rezipierten schichten und kreisen nachzuspüren. Solche zeitzeugenberichte aus dem blickwinkel individueller ("subjektiver") erfahrung und interpretation sind unverzichtbare erkenntnisquellen, die durch prozeßsoziologische bzw. mentalitätsgeschichtliche forschungsansätze behutsam erschlossen werden können.

Der text bietet sich nicht an zur selbstgerechten unterscheidung von bösen nazis und unschuldigen bürgern, sondern nötigt zur reflexion der vielschichtigen verstrickungen der deutschen bevölkerung jener zeit. Er ist ein atemberaubend hautnahes, geradezu intimes, einfühlsames – aber zugleich gespenstisches dokument aus dem innenleben nazideutschlands.

Nora waln engagierte sich bereits mit 20 für die 1915 fast ausgerotteten armenier, später lebte sie 20 jahre in china, schrieb darüber zwei seinerzeit populäre bücher. Nach 1945 arbeitete sie als journalistin in mehreren ländern des fernen ostens.

Das hier neuveröffentlichte buch erschien 1939 (in zwei unterschiedlichen versionen) in london und boston. Weitgehend unbeachtet kam 1947 eine deutsche ausgabe heraus.

Für diese erste deutsche neuausgabe wurde die übersetzung revidiert, gestrichene passagen wurden integriert. Ergänzt wurden zeitgeschichtliche anmerkungen sowie ein nachwort des herausgebers mondrian v. lüttichau.

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Norbert Frýd: KARTEI DER LEBENDEN

Der autor berichtet in unaufgeregter ausführlichkeit von unzähligen organisatorischen einzelheiten eines zum KZ Dachau gehörenden arbeitslagers, dessen gefangener er war. Jeder mensch funktionierte dort wie das zahnrad eines uhrwerks, um größtmögliche vorteile und sicherheit für sich und/oder die soziale gruppe, der er angehört, zu erzielen. In frýds romanhaftem bericht scheint oft nur eine graduelle abgrenzung zwischen tätern, mitläufern und opfern möglich.

Herrschaft argumentiert in der entwickelten zvilisation mehr und mehr mit sachzwängen und verzichtet auf ethisch-moralische legitimationen. Gerade im NS-regime gingen bürokratie und verbrechen besonders nahtlos ineinander über. Auch im vorliegenden buch wird das übergroße gewicht instrumenteller vernunft (in form von logistischer und bürokratischer logik) nachvollziehbar – und wie sie zum instrument höchst individueller interessen wird; grundsätzlich nicht anders als bei uns heute.

Norbert fried wurde 1913 in einer familie tschechischer juden in budweis geboren; er starb 1976. Seit den 30er jahren war er mitglied einer fortschrittlichen politisch-kulturellen bewegung um emil františek burian, verkehrte vorrangig in jüdischen künstlerkreisen und kooperierte mit dem komponisten karel reiner. Er gehörte zum kreis um die im prager exil von franz carl (f.c.) weiskopf geleitete antifaschistische Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), später unter dem namen Volks-Illustrierte. Ab 1936 arbeitete fried als redakteur und drehbuchschreiber für den filmkonzern Metro Goldwyn Mayer. 1942 kam er ins Ghetto Theresienstadt, wo er am geheimen kulturellen leben beteiligt war. 1944 wurde norbert fried zusammen mit allen anderen künstlern aus Theresienstadt ins KZ Auschwitz deportiert . – Am 10. oktober 1944 kam er ins arbeitslager Dachau-Kaufering (kategorie "Jude, Schutzhäftling"); von dieser zeit handelt das vorliegende buch. Im april 1945, als die SS begann, das lager zu räumen, gelang es fried zu flüchten.

Norbert frieds vater, sein bruder, seine frau und seine tochter wurden in den KZ ermordet; er überlebte die Shoah als einziger seiner familie.

1945 unterstützte er die amerikaner als dolmetscher bei den verhören der SS-wächter von Dachau, später war er einer der zeugen beim ersten dachauer kriegsverbrecherprozeß. Norbert fried arbeitete als journalist und beamter, war mitglied der tschechoslowakischen kommunistischen partei. 1946 änderte er seinen namen zu "frýd". 1947 wurde er kulturattaché in mexiko. Während dieser zeit nahm er teil an einer expedition in den tropischen regenwald. Später war frýd in verschiedenen diplomatischen stellungen in anderen ländern lateinamerikas und in den USA. Zeitweise reiste er mit einem puppentheater nach asien und amerika. Nach kurzer beschäftigung beim tschechoslowakischen radio wurde frýd freier schriftsteller. Zugleich war er 1951 bis anfang der 70er jahre delegierter bei der UNESCO.

Eine grundfrage des buches ist: Welche haltungen sind angemessen im KZ oder allgemein: während der NS-zeit? Neben mörderischen NS-tätern und gläubigen nazis gab es eine vielzahl moralischer, ideologischer und emotionaler beurteilungen einzelner situationen, von gefährdungen, interessen und eigenem handlungspielraum, – bei den gefangenen wie bei den NS-funktionären. Aus der zugehörigkeit zu einer sozialen gruppe ließ sich offenbar selbst im KZ nicht direkt auf die mentalität und das verhalten konkreter menschen schließen. Innerhalb des kleinen außenlagers waren vielschichtigere interaktionen überschaubarer, deutlicher darstellbar und nachvollziehbarer als durch berichte aus den weitaus anonymeren größeren KZ.

Das rührt an eine bis heute tabuisierte frage: In welchem maße sind KZ-gefangene als funktionshäftlinge direkt oder indirekt zu handlangern der NS-interessen geworden? Dabei geht es nicht nur um gefangene mit bereits zuvor ausgelebten kriminellen intentionen. Es geht um interessengeleitetes (auch politisch motiviertes) taktieren, um das prinzip des eine hand wäscht die andere, um balance of power: es mit niemandem ganz zu verderben, den man noch einmal brauchen könnte. Es geht – dies wird bei frýd deutlich – gegebenenfalls auch darum, daß NS-opfer in eigenem interesse zu tätern an anderen NS opfern werden.

KRABICE ŽIVÝCH erschien in prag 1956, wurde dort viel gelesen und in mehrere sprachen übersetzt. Eine DDR-ausgabe erschien 1959. Allerdings dürfte frýds buch in deutschland kaum größeres interesse erregt haben. So genau wollte man es damals bekanntlich nicht wissen, in der DDR so wenig wie in der BRD. Aber auch später wäre diese darstellung, bei der die beruhigenden eindeutigkeiten von genuin guten und bösen menschen, von opfern und tätern in so irritierender weise aufgelöst werden, vom medialen mainstream kaum akzeptiert worden..

(Aus dem nachwort des herausgebers mondrian v. lüttichau)

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Paavo Rintala: DIE MENSCHEN, DIE STADT UND DER HUNGER

Während des Zweiten Weltkrieges wurde die sowjetische Stadt Leningrad (nach 1990 wieder: Sankt Petersburg) 871 Tage lang von deutschen Truppen belagert. In der Zeit der Belagerung vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, in der die Wehrmacht auf Befehl Hitlers keine Eroberung Leningrads versuchte, sondern stattdessen die Stadt systematisch von jeglicher Versorgung abschnitt, starben über eine Million Zivilisten. Eine geheime Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 23. September 1941 lautete: "Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse am Fortbestand dieser Großsiedlung."

Die erste Dokumentation zur Blockade Leningrads, in der das Augenmerk vorrangig auf dem Leid der hungernden Bevölkerung liegt, ist dieses 1968 in Finnland erschienene Buch des finnischen Schriftstellers Paavo Rintala. Es wurde 1970 VEB Hinstorff Verlag Rostock (DDR) auf Deutsch veröffentlicht, eine zweite Auflage erschien 1985. Die Neuausgabe 2022 bei A+C ist die einzige deutsche Wiederveröffentlichung.

Durch das ständige Wechseln der Perspektive (übergangsloses Springen zu verschiedenen Leningrader Bürger*innen, gefolgt von überblickshaften Sequenzen) sowie das Überblenden der Ebenen (Zeit der Blockade, Gespräche mit Überlebenden, Fragen der kleinen Tochter und dazwischen die Kommentare des Autors) erleichtert Rintala die identifizierende, mitfühlende Präsenz seiner Leser*innen: immer geht es um ALLES: den Krieg, die Nazis, die Leningrader Bevölkerung, die einzelnen Bürger*innen in ihrem individuellen Schicksal, um das Damals und das Heute und die Zukunft menschenwürdigen Lebens. Wohl unverkennbar ist der Einfluß von Brechts epischem Theater.
Implizit bedeutet das 1968 erschienene Buch für den Autor (1930-1999) zweifellos auch eine weitere Aufarbeitung der persönlichen Geschichte als junger Angehöriger eines Volkes, das, wie er schreibt, "die ersten faschistischen Mörder" hervorbrachte, nämlich die wohlhabenden Finnlandschweden während der Zeit des finnischen Bürgerkriegs.

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Sh. M. Rubin: DIE FAMILIE

Neu im November 2023

DIE FAMILIE ist eine Chronik jüdischen Lebens in Europa, exemplarisch erzählt in Episoden und als Generationenfolge einer fiktiven Familie über 900 Jahre: ein Geschichtsbuch im weitesten Sinne. Es umfaßt in zwei Bänden mehr als 1000 Seiten.

Trotz umfassender Bemühungen fand sich Anfang der 80er Jahre kein deutschsprachiger Verlag für das Manuskript. Stattdessen wurde eine "Sonder-Erstausgabe" herausgegeben. Ein Teil dieser Auflage wurde an Multiplikatoren und Institutionen in der BRD gesandt - mit der Perspektive, auf diese Weise doch die Veröffentlichung in einem Verlag zu erreichen. Auch mit Zeitungsannoncen wurde auf das Projekt aufmerksam gemacht.
1987 erloschen die Bemühungen der Herausgeber. In den folgenden Jahrzehnten gab es keinerlei Öffentlichkeit im Zusammenhang mit diesem Werk.Die Identität des Autors (oder der Autorin) ist nach wie vor unbekannt.Seine oder ihre existentielle Betroffenheit an der Situation des Judentums kann nicht bezweifelt werden. Es kann wohl davon ausgegangen werden, daß er (oder sie) Jude/Jüdin ist. Kein Zweifel ist möglich an der fundamentalen judaistischen Kompetenz des Autors.

In seiner überwältigenden inhaltlichen Fülle ist Rubins Buch Mahnmal für die "Familie" aller Juden und Jüdinnen: ihren Zusammenhang über Zeiten und Länder, über Leben und Tod: ist Klage über die immer neue Zerstörung dieses Zusammenhangs, aber ist auch Frage, inwieweit diese "Familie" heute noch empfunden und gelebt werden kann.

Nachdem seither kein Verlag sich dieser einzigartigen Publikation angenommen hat, erscheint jetzt als einzige Wiederveröffentlichung eine ebenfalls zweiteilige Faksimileausgabe bei A+C online (zum kostenfreien Download). Dieses einzigartige literarische Werk, dessen Entstehungsgeschichte einigermaßen obskur sein und bleiben mag, ist ohne Zweifel ein seriöses, bewahrenswertes Dokument des europäischen Judentums.

Das erste Buch: TOTSCHLAG

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Das zweite Buch: MORD

auc-173-rubin-mord (pdf 32,2 MB)

Stanisław Benski: NATAN GLYCYNDERS LACHEN

Stanisław benski wurde 1922 in warschau geboren. Im Warschauer Ghetto kamen seine mutter und sein bruder ums leben; der vater wurde von den deutschen erschossen. Benski kämpfte als partisan gegen die deutschen. Ab 1964 war er zwanzig jahre lang leiter eines wohnheims für überlebende der Shoah; er starb 1988.

Hier erzählt der autor von überlebenden polnischen juden; vorrangig sind es bewohnerInnen dieses heims und menschen, die ihnen verbunden sind. NATAN GYLCYNDERS LACHEN ist ein poetisch verdichtetes werk; auch vielfältigste lebensgeschichtliche nuancen machen die geschichten nicht zu reportagen. Niemand wird vorgeführt, nie geht es nur um effektvolle zusammenstellungen. Im mittelpunkt der begegnungen und situationen stehen erinnerungen, die mit dem gegenwärtigen lebensalltag der heimbewohnerInnen (und anderer überlebender der Shoah) verwoben und dadurch bewahrt und zur ressource für das weiterleben werden. Nicht regressiv ist das, sondern identitätsbewahrend und -stärkend. Einbezogen sind erinnerungen an das schreckliche, die traumatischen zerstörungen. Persönliche geheimnisse und untiefen, scham und schuld, liebe und ungeklärte beziehungen von damals sind ungreifbar eingeschmolzen in der von den deutschen vernichteten welt; nichts davon läßt sich wirklich klären, heilen, weiterleben. Nur in vielen kleinen schritten kann etwas davon wenigstens teilweise verarbeitet werden, in erinnernden gesprächen, in einsamem grübeln, in der zwiesprache mit vögeln (die die namen von toten schtetl-bewohnern bekommen). –

Dennoch sind alle diese tief verletzten, heimatlosen, schrulligen bewohnerInnen des heims nicht nur opfer; sie führen, im rahmen ihrer verbliebenen möglichkeiten, ihr eigenes, unverwechselbares leben in die zukunft hinein. Tröstliche phantasie und alltägliche realität, tapferkeit, müdigkeit und zuversicht, leugnen und trauern verflechten sich moment für moment. Nichts, keine kleinigkeit ist mehr belanglos in diesem leben danach – nachdem die selbstverständliche heimatwelt vom erdboden verschwunden ist, ausradiert. Jedes winzige moment von selbstbestimmung, bereits das erzählenkönnen, ist manifest des überlebthabens, des neuen lebens.

Alles, jede nuance, die beiträgt zu einem guten leben, ist bedeutsam und wird achtsam porträtiert – bis hin zu den farben der kopftücher. Nichts davon ist selbstverständlich für die überlebenden der Shoah; das leben ist nicht mehr selbstverständlich für überlebende existenzieller traumaerfahrungen. Und seltsam: gerade diese menschen, die während des terrors der okkupation alles verloren hatten außer dem nackten leben, nehmen sich zeit.. – zeit, ihr gerettetes, ihr übriggebliebenes eigenes leben zu leben, in all seinen augenblicken, mit eigenkreisläufigkeiten und redundanzen. Jedes bewahrte oder neu etablierte moment (mit-)menschlichen lebens, jedes alltagsritual bedeutet selbstvergewisserung und selbstbehauptung. Sehr deutlich wird das tiefe bedürfnis (bei uns allen) nach vorhersehbarkeiten, vertrautheit, gewohnheiten – und damit geborgenheit in der welt.

Ein ironischer, kabarettistischer, manchmal bitterer humor ist in diesem buch, schmerzlich, in wortloser trauer – natan glycynders lachen – dann wieder wie auf bildern von chagall. In mancher hinsicht sind diese geschichten surreale parabeln, die vom terror jener zeit genau auf der gratlinie zwischen phantasie und realität berichten (gelegentlich auch darüber streiten), – und damit helfen können, schreckliches, traumatisches zu überleben. Parabeln, die (so oder ähnlich) zweifellos in diesem heim entstanden sind, zwischen all den Shoah-überlebenden (zu denen der autor gehört). Manche sind herzzerreißend, grauenhaft, andere wirken unprätentiös, geradezu banal – beim ersten lesen. Und alle sind es wert, nochmal gelesen zu werden. Tragisches und humoristisches, ungeheuerliches und triviales, heiliges und billiges geht ineinander über – hoffnungsloses durcheinander, hinter der die frage steht: Welchen wert hat das leben von menschen – nach all dem, was war?

Jede dieser vignetten steht für hunderte, tausende ähnlicher geschichten. Von denen wiederum stünde jede einzelne für ein ganzes leben.. – All diese reste, fetzen, splitter, trümmer von erinnerungen und empfindungen, von reaktionen und ängsten, von sehnsucht und trauer, das grübeln, der rückzug und das schweigen – all das verweist auf millionen jüdischer menschenleben, deren jedes eine welt für sich war, die von den nazis, ihren taktischen unterstützern und ihren mitläufern gnadenlos zerstört wurde.

(Aus dem nachwort des herausgebers)

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Zivia Lubetkin: DIE LETZTEN TAGE DES WARSCHAUER GETTOS

Mit einem Beitrag vonEdith Laudowicz: Widerstand der Frauen im Warschauer Ghetto

 

Zivia Lubetkin (auch Cywia Lubetkin; Zivia Lubetkin-Zuckerman; Celina Lubetkin; Zivia Cukerman) (1914–1978) war eine jüdische Widerstandskämpferin im besetzten Polen, zionistische Funktionärin und Kibbuznik. Im Warschauer Ghetto war sie 1942 Mitgründerin der Widerstandsgruppe Jüdische Kampforganisation (ŻOB), die im Januar 1943 unter der Leitung von Mordechaj Anielewicz eine bewaffnete Widerstandsaktion gegen die Deportationen durchführte. Im April 1943 war sie eine Organisatorin beim Aufstand im Warschauer Ghetto.

Zivia Lubetkins Augenzeugenbericht DIE LETZTEN TAGE DES WARSCHAUER GETTOS erschien auf hebräisch bei En charod 1947, auf deutsch zunächst in "Neue Auslese". Hg. Alliierter Informationsdienst, 3. Jg. Heft 1, 1948, S. 1–13. Darauf folgte eine selbständige Publikation im VVN-Verlag, Berlin 1949. Als Nachwort wurde dort ein Artikel Friedrich Wolfs aus der Weltbühne hinzugefügt. Dieses Büchlein ist Quelle dieser erstmaligen Wiederveröffentlichung auf Deutsch.

Diese kostenfreie online-Ausgabe enthält neben Nachwort und Literaturhinweisen des Herausgebers einen Beitrag von Edith Laudowicz: Widerstand der Frauen im Warschauer Ghetto.

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