Mondrian graf v. lüttichau: DIE SINNSPRÜCHE DES LI BOYANG, GENANNT LAOTSE (2019)

Um die erste version meines versuchs einer annäherung an das 2400 jahre alte weisheitsbuch Dàodéjīng (Tao Te King) zu veröffentlichen, hatte ich 1981 den Verlag Autonomie + Chaos Heidelberg ins leben gerufen.

Mehr und mehr haben sich im laufe der jahrhunderte die bewußtseinsebenen ausdifferenziert, auf denen wirklichkeit (jenseits begrifflicher festlegungen) erfahrbar wird. In unserer zeit kann nur noch jeder einzelne an seinem platz zu machen versuchen, was er oder sie für angemessen hält. Wirklichkeitsgemäßes handeln auf eine bestimmte praxis festzulegen, ist nicht mehr möglich, denn jedes definieren trägt den keim der seit damals fortgeschrittenen verdinglichung (instrumentalisierung). Menschliche wahrnehmung und erfahrung ist ein vielfach verzweigter baum geworden; zur zeit des li boyang hatte der noch weit weniger äste, zweige, blüten und früchte. Verdinglichung und selbstentfremdung haben sich aufgebläht in einer weise, deren grundmuster li boyang 2300 jahre vor theodor w. adorno und max horkheimer beschrieben hat.

Dennoch können heutige soziale und politische konflikte zurückgeführt werden auf prozesse oder strukturen des menschlichen bewußtseins, wie sie in diesen 81 aphorismen kristallklar beschrieben werden. Alltägliche konflikte lassen sich begreifen durch DAO; von daher sind lösungen zu finden – noch heute. Diese uralten sinnsprüche sind das früheste plädoyer für herrschaftslose achtsamkeit und gegen entfremdung von der ganzheit des lebens. Allerdings müssen wir die hinweise des Dàodéjīng hinüberdenken in unsere sozialpsychologischen umstände.

Die tiefenökologische, sozialpsychologische weisheit des li boyang zeigt sich als konkrete orientierung an authentischem sein und handeln, – als gegenbewegung zu seelischer und bürokratischer verdinglichung.

Ab 2006 besann ich mich auf meine alte übertragung des Dàodéjīng, dachte nach über eine neuausgabe – da kam völlig überraschend das angebot einer veröffentlichung beim verlag Das klassische China. Jetzt entstand in schöner zusammenarbeit mit matthias claus seine bibliophile buchhandelsausgabe. Sie unterscheidet sich in wesentlichen nuancen von meiner ausgabe 1981. (Restexemplare sind über mich noch erhältlich.)

Die hier vorliegende ausgabe – wieder bei Autonomie und Chaos (online und kostenfrei) – ist nahezu textgleich mit der von matthias claus herausgegebenen version; es gibt nur einige wenige veränderungen. Enthalten sind wiederum die beiden briefe hermann schäfers (1978), hinzugekommen sind (sehr subjektive) literaturhinweise.

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