Harriet v. Rathlef-Keilmann: ANASTASIA? – EINE UNBEKANNTE KÄMPFT UM IHRE IDENTITÄT

 Aktualisierte Neuausgabe der Veröffentlichung von 1928, herausgegeben von Mondrian Graf v. Lüttichau

Am 17. Februar 1920 sprang eine junge Frau von der berliner Bendlerbrücke in den Landwehrkanal, im Versuch, sich das Leben zu nehmen. Sie wurde gerettet. Nach manchem Hin und Her stellte sich heraus, daß die Unbekannte sich als Anastasia verstand, eine der Zarentöchter, die offiziell zusammen mit der gesamten Zarenfamilie 1918 innerhalb der bolschewistischen Revolution ermordet worden war.

Durch Zeitungsmeldungen über die (angeblich) überlebende Zarentochter kam es zu Kontakten mit Menschen, die die Zarenfamilie gekannt hatten. Beweise für ihre Identität konnte die Unbekannte nicht liefern. Unter den BesucherInnen entstand eine wilde Mischung aus bestätigendem Erkennen von Einzelheiten, zutreffenden (privaten) Erinnerungen; andere Personen konnten oder wollten die Unbekannte jedoch nicht als Anastasia erkennen oder führten Indizien an, die gegen diese Identität sprachen. – So fing es an. Die Frage: Ist sie die wahre Anastasia oder nicht? beschäftigte von nun an über Jahrzehnte die Medien in allen europäischen Ländern und den USA, bewegte  unterschiedliche Menschen, die Anna Anderson (wie sie später genannt wurde) kennenlernten.

Die Unbekannte starb 1984; bis zuletzt hat sie die Wahrheit ihrer Identität mit der Großfürstin Anastasia aufrechterhalten. Aufgrund von DNA-Vergleichen gilt es jedoch seit zehn Jahren als bewiesen, daß die Unbekannte nicht die Zarentochter Anastasia war. – Aber so einfach ist das nicht.

Nach der Lektüre der hier erstmalig wiederveröffentlichten Primärquelle von Harriet Rathlef-Keilmann (1928) sowie des nuancierten Sachbuchs von Peter Kurth (1988) kann ich nur zu einem Schluß kommen: Diese Frau war Überlebende schwerer traumatischer Erfahrungen; mit einiger Wahrscheinlichkeit hatte sie zudem neurologische Ausfälle, die von Schädel-Hirn-Traumatisierungen (Gewalteinwirkungen) herrühren können. – Ob sie die Zarentochter Anastasia ist, kann auch ich nicht wissen; nach allen Zeugnissen gehe ich allerdings davon aus. Diese Frage ist jedoch nicht Intention dieser Neuveröffentlichung.

Im Vorwort seines Buches schreibt Peter Kurth: "Alle, die Anastasia umgaben – die Großfürsten und Großfürstinnen im Exil, die ausländischen Cousins, die früheren zaristischen Heeresoffiziere und die listigen Kammerzofen –, hatten, wie sie, ihren festen Platz und ihren Lebenssinn verloren. ANASTASIA ist also ein Buch über Flüchtlinge. Es handelt von entwurzelten Menschen, die von einer für vollkommen gehaltenen Vergangenheit geblendet wurden, die einen tiefen Groll empfanden und durch ihre Unsicherheit gelähmt waren. Es handelt von qualvoller Unschlüssigkeit und gewaltigen Mißverständnissen. Und schließlich und vor allem ist es die Geschichte einer einst mächtigen Dynastie, deren Gesetze und Traditionen nicht ausreichen, ein plötzlich auftauchendes Problem zu meistern; es ist die Geschichte einer Familie, die während der Russischen Revolution dezimiert, im Exil zerstreut und dann aufgefordert wurde, eine gebrochene, labile und Gegenbeschuldigungen erhebende Frau zu akzeptieren, die nur wenige als normal, geschweige denn als einzige Erbin des Zaren anzuerkennen bereit waren. Die Antwort auf das Rätsel Anastasia liegt nicht in Rußland, sondern im Herzen der Familie Romanow, wo Stolz und äußerer Schein jedes Mitgefühl verdrängten und das ein menschliches Wesen zu einem Leben in einer schwer erträglichen Welt aus Vorwürfen und Zweifeln verdammte. (…) Ob die Streitursache in einer Verschwörung der einen oder anderen Fraktion zu suchen war, schrieb eine Freundin von Frau Anderson, ob in einer unglücklichen Abfolge von Zufällen oder bloß in blinden Vorurteilen und Ignoranz …, eine Tatsache fällt unter allen anderen auf: Es scheint der Fluch der Romanows zu sein, daß sie unfähig sind, ein offenes Wort miteinander zu sprechen. Die Auseinandersetzung hätte niemals vor einen Gerichtshof gebracht, sondern ohne Groll friedlich und gütlich geführt und im privaten Familienrat beigelegt werden müssen. "

Lothar Nobel, Arzt im berliner Mommsen Sanatorium, schrieb in seinem Gutachten (1925): "Über ihre Vergangenheit hört man von ihr nichts. Sie ist im Gegenteil ängstlich bemüht, jeder Frage dieser Art auszuweichen. (…) Dann wiederum sagt sie mir bei meiner Unterhaltung, es sei schrecklich, sie gebe sich die größte Mühe, all das Gräßliche, was sie erlebt habe, zu vergessen, und immer wieder käme jemand, um alles wieder aufzurühren, wodurch sie dann wieder traurig und verzweifelt wäre."  

Bei der Beschäftigung mit den vorliegenen Zeugnissen ging es mir nicht darum, irgendetwas zu beweisen, vielmehr möchte ich die innere Wahrheit der Unbekannten, ihre Identität mit sich selbst, in den Vordergrund stellen. Natürlich habe auch ich mich gefragt, ob sie es ist oder nicht. Ich weiß das nicht. Aber die Fülle ihrer nuancierten und affektiv (auch ichdyston!) besetzten Erinnerungen an Aspekte des (unbewiesenen) früheren Lebens, einschließlich nonverbaler Reminiszenzen, dies über das ganze spätere Leben hinweg und unterschiedlichen Personen gegenüber, würde bei Adaptation einer fremden Biografie die kognitiven, schauspielerischen Möglichkeiten wohl jedes Menschen übersteigen, auch bei einer psychopathologischen oder bewußt hochstaplerischen Variante. Auch Anastasias kontinuierliche Neigung, potentielle HelferInnen durch taktisch unkluges Verhalten gegen sich aufzubringen, läßt sich nicht vereinbaren mit der Intention, Glaubwürdigkeit für ein angemaßtes Schicksal zu erringen. Auch widerspricht es tiefenpsychologischer Erfahrung, daß jemand eine falsche Identität affektiv und intellektuell über 60 Jahre konsistent durchhält, ohne daß die ursprüngliche Identität aus Kindheit und Jugend gelegentlich in relevanter Weise zutage tritt. Das gilt auch für Psychotraumabetroffene mit dissoziativen Amnesien.

Die kriminalistische, paläopathologische, kriminalarchäologische Bedeutung von DNA-Analysen ist nicht zu bestreiten; Möglichkeiten, Methoden und Grenzen unterliegen jedoch der fortschreitenden Erkenntnis. Auch Irrtum, interessengeleiteter Mißbrauch und Schlampigkeit kann niemals ausgeschlossen werden. All dies gilt für jede Wissenschaftsdisziplin.

Harriet v. Rathlef-Keilmanns Buch von 1928 (Titel der Originalausgabe: Anastasia. Ein Frauenschicksal als Spiegel der Weltkatastrophe) steht im Mittelpunkt auch dieser aktualisierten neuen Veröffentlichung. Harriet Ellen Siderovna v. Rathlef-Keilmann (1887–1933) war Bildhauerin. Sie wuchs auf in Riga, zu jener Zeit Hauptstadt des russischen Gouvernements Livland, in einer assimilierten, großbürgerlichen, deutsch akkulturierten jüdischen Familie. – Mit ihrem Mann Harald v. Rathlef (1878–1944) hatte sie vier Kinder. – Auf Grund der Bürgerkriegswirren floh die Familie im Dezember 1918 nach Deutschland. Dort studierte Harriet Kunst, unter anderem im Bauhaus (Weimar). Unter den Einflüssen der Bauhaus-Werkmeister Gerhard Marcks, Johannes Itten und Lyonel Feininger wandte sich die Künstlerin ab vom bildhauerischen Naturalismus hin zum Expressionismus. – Ihre Eltern sowie einer der beiden Brüder wurden Opfer der nationalsozialistischen Deutschen. Wie einige ihrer Künstlerkollegen bereitete sich Harriet auf die Emigration nach Paris vor. Ein Blinddarmdurchbruch durchkreuzte ihre Pläne. Sie starb am 1. Mai 1933, nachdem eine befreundete Ärztin noch versucht hatte, in ihrem Schöneberger Atelier (An der Apostel-Kirche 14) per Not-OP ihr Leben zu retten. – Viele ihrer Werke sind verlorengegangen.

Schwerpunkt einer Veröffentlichung zum Thema Anastasia kann im Jahr 2019 nicht mehr die juristische, kriminalistische Argumentation sein. Für den öffentlichen Mainstream gibt es die "unumstößlichen Beweise" qua DNA; nur das zählt noch. Mein Schwerpunkt ist demgegenüber, wie schon angedeutet, die zwischenmenschliche Botschaft in diesem Schicksal. Da hat eine Frau lebenslang um ihre Identität gekämpft – und die Zeugnisse dieses Kampfes dokumentieren tiefe Anteilnahme derjenigen, mit denen sie zu tun hatte; sie berühren wohl noch heute die meisten Menschen. Ob sie es jetzt "wirklich" ist oder nicht, entkräftet die zwischenmenschliche Wahrheit dieses Geschehens nicht oder kaum. Menschliche Wahrheit findet sich auch in künstlerischen Werken (was wäre sonst Kunst?) – und wird nicht dadurch obsolet, daß wir wissen, es gab keine Tosca, gab keine Anna Karenina. Manches läßt sich nicht beweisen – außer durch seine Evidenz. Dazu gehört auch Liebe, gehören spirituelle Erfahrungen.

Zweiter Schwerpunkt der neuen Veröffentlichung sind die aus fachlicher Sicht heute offensichtlichen psychotraumatischen Folgeschädigungen der Unbekannten. Die entsprechenden Zeugnisse ihres Verhalten, ihrer Aussagen, ihrer Verweigerungen, ihres bekundeten Leids sind geradezu exemplarisch für entsprechende Symptomatik. Aber was ging in dieser Unbekannten vor, falls sie nicht die Zarentochter war?

(Aus der Einleitung zur Neuausgabe)

Als historische Quelle wurde zusätzlich die Originalausgabe von 1928 (als Faksimile) wiederveröffentlicht.