Jürgen Haug: AUFZEICHNUNGEN AUS EINER WANDERER-HERBERGE

Diese 1975 erschienene und hier erstmalig wiederveröffentlichte erzählende dokumentation bietet eine bis heute seltene gelegenheit, selbstempfinden und selbstdarstellung von "pennern", "berbern", "landstreichern" – wie immer wir sie, politisch korrekt oder nicht, nennen wollen, in jedemfall: dauerhaft obdachloser menschen (männer) anhand ihrer mündlichen äußerungen ahnend nachzuvollziehen, – ihre argumentationsmuster, rationalisierungen und bekenntnisse, – um menschen mit solchem schicksal auf diese weise etwas näherzukommen.

In den szenen werden regressive momente deutlich, symptome von psychotraumatisierungen (auch als NS-opfer), kognitive beeinträchtigungen, psychosen, depression, delirium tremens und das ebenfalls alkoholbedingte korsakow-syndrom; kompensation von schlimmen erfahrungen, leid, wut, verbitterung, menschenscheu; selbstunterdrückung und unterwürfigkeit, projizierte selbstverachtung und menschenverachtende, rassistisch-nazistische und sadistische impulse, schwulenhaß, abgestumpftheit, hilflose versuche, sich abzugrenzen, zu profilieren und ein mindestmaß an selbstachtung und identität zu bewahren; verfestigte soziale rollen und inszenierungen, zugehörigkeitsgefühle, feindbilder, loyalitätsreflexe; daneben aber auch selten offenbarte rudimente innerer werte, guter erinnerungen – und verschämte, vorsichtige momente mitmenschlicher solidarität. In aller kumpanei schwingt ein moment von verachtung (und selbstverachtung) mit, aber andersrum genauso.

Jürgen haug berichtet von all dem empathisch und doch nüchtern, ohne voyeuristischen oder diskriminierenden unterton.

Deutlich wird bei manchen männern eine grundlegende getriebenheit, rastlosigkeit und wurzellosigkeit, die immer wieder zum abbruch einer möglichen perspektive geführt haben dürfte. Nicht selten auch flucht und scheinbarer neuanfang als hauptsächliches problemlösungsmuster; manchmal verbunden mit der sehnsucht nach regressivem rückzug aus der welt, die durch die paternalistische versorgung in der herberge teilweise im sinne einer hospitalisierung befriedigt wird. Bei anderen jedoch ist zu ahnen, daß die nichtseßhaftigkeit, das unabhängige herumziehen genuiner ausdruck ihrer individuellen entfaltung geworden ist: selbstbestimmung, abenteuer (in der allzu stark durchreglementierten sozialen umwelt).

Jürgen haug (geboren 1940) begann 1962, sich in der BRD als hörspielautor zu etablieren. Die 'Aufzeichnungen aus einer Wandererherberge' basieren auf erfahrungen, die der autor während seines zivildienstes als wehrdienstverweigerer in einer solchen institution sammeln konnte.
Jürgen haug starb am 2. juli 2012.

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