Jürgen Haug: KELLERASSEL

"Ich möcht nur wissen, warum du immer den Außenseiter spielen willst?!" - Das bekommt jörg, geboren 1943, schon als jugendlicher von der mutter zu hören. Bereits im ersten kapitel (da ist er zwölf) ahnen wir seine homosexualität.

Im mittelpunkt steht zunächst der sozialisationsdruck, der männlichen jugendlichen in der BRD der 50er- und 60erjahre nur zwei möglichkeiten einer sexuellen identität ließ: entweder ganz und gar einzusteigen in die heterosexuelle rolle des "richtigen mannes", mit all ihren banalitäten, gemeinheiten, ihrer fast schon ritualisierten beziehungslosigkeit, ihren blöden und bösen witzen, den entsprechenden vorbildern von älteren und aus den medien, - oder aber gnadenlos in die diskriminierend gemeinte schublade des "schwuli" gesteckt zu werden.

Deutlich präsentiert uns der autor die teilweise pogromhafte gewalt etablierter rollenmuster und anderer gesellschaftlicher kriterien, zwischen denen menschen, die ihnen nicht entsprechen, bereits in der kindheit von gleichaltrigen hin- und hergetrieben werden. Einer unter erwachsenen (hierzulande, heutzutage) subtileren latenten pogromstimmung (im "freundeskreis", im arbeitsleben) sind diejenigen ausgesetzt, die "sich nicht anpassen" an soziale normen, die es wagen, "außenseiter" nicht nur zu sein, sondern auf ihrem recht beharren, zu leben, wie sie es für richtig halten (ohne andere zu beeinträchtigen).

Auch bei ich-synton schwulen männern bleibt die seit der kindheit anerzogene diskriminierung von homosexualität noch lange zeit bestehen, das grundlegende bedürfnis nach sozialer zugehörigkeit sowieso. Deshalb wird mitgemacht beim alltäglichen small talk; (hetero-)sexuelle anspielungen, empfindungen und begegnungen werden inszeniert, über schwulenwitze wird mitgelacht, frauenfeindliche sprüche sollen die eigene "männlichkeit" dokumentieren. Tödlicher, lähmender Defaitismus! – schrieb eine freundin bei einer entsprechenden stelle in mein exemplar des buches. Die angst vor sozialer ausgrenzung hat sich oft verselbständigt und führt zu anpassung auch in belanglosigkeiten. Das alles verstärkt selbstverachtung und Falsches Selbst sowie die fixierung auf den platt-sexuellen aspekt des schwulseins. Der schritt in eine schwule (oder lesbische) subkultur – die es in den 70er jahren erst ansatzweise gab – hat aspekte von flucht, von schutz ebenso wie von befreiung.

Tarnen und Täuschen ist zu jener zeit das grundprinzip schwulen lebens in der normalität; das coming out bleibt verstrickt in rhetorische versuchsballons, taktische erwägungen und lügen. Schwule anmache ist genauso banal wie heterosexuelle anmache. Nur verzweifelter und deprimierender, – und immer verbunden mit der angst vor sozialer ablehnung (und schlimmerem), sofern das gegenüber keine szenetypischen signale gibt. Und daneben immer das gequatsche der anderen, der normalen.

Das coming out ist keine einmalige entscheidung, sondern muß für jede soziale situation, oft für jeden vertrauten menschen einzeln durchgestanden werden, - jedesmal mit unterschiedlichen argumenten, empfindungen (auf beiden seiten) und unterschiedlichen gefahren, abgelehnt zu werden. 'Kellerassel' ist neben allem anderen eine sozialpsychologische studie zur kommunikation unter schwulen jungen männern (zu jener zeit), - zugleich liest sich das buch (das aus einem hörspiel entstanden ist) wie ein film, spannungsvoll, atemlos und soghaft präsent; – wie schade, daß bislang kein regisseur es entdeckt hat!

Letztlich geht es jedoch um mehr, - um die soziale, gesellschaftliche "normalität", erfahren aus dem blickwinkel des "außenseiters".

Jürgen haugs figuren haben allesamt nahezu keine individuelle lebensperspektive, sie spüren kaum intentionen in sich außer den anforderungen vorgegebener sozialer rollen und ziele entweder zu ent- oder zu widersprechen; – das ganze leben wird ihnen zur "gewohnheitssache". Sie sind "ganz normal" – auch und gerade der schwule (unfreiwillige) "außenseiter" jörg. So ein leben hat seinen preis. Es stabilisiert sich über alltägliche trägheit des herzens, unsensible grenzüberschreitung und oberflächlichkeit im umgang der menschen miteinander, über lebenslügen, selbstbetrug, rationalisierungen. Durch "normale" suchtformen (zigaretten, kino, alkohol, sex, konsum, karriere) oder illegale drogen, durch die assoziationsreflexe des small talk nur notdürftig kaschierte innere und äußere leere und beliebigkeit des alltagslebens gehören zu diesem teufelskreis der entfremdung. Weil individuelle ressourcen für situationen ohne eindeutige konsensuelle empfindungs- und verhaltensvorgaben kaum zur verfügung stehen, wird dann in reflexhafter selbstverständlichkeit gelogen. In verhängnisvoller solidarität werden verletzende, unsoziale verhaltensweisen aneinander hingenommen, mitmenschliche ansprüche senken sich zunehmend. Noch das ehrlichste ist (manchmal) eine ahnung, daß irgendwas daran nicht stimmt.

Auf grundlage des Falschen Selbst (winnicott) können nur falsche, unechte begegnungen und beziehungen entstehen. Es sind nichtbeziehungen, leer wie in theaterstücken samuel becketts, wie bilder von edward hopper. Jürgen haug verdeutlicht gestörte, unwürdige zwischenmenschliche kontakte als normalität; – und nicht selten bricht sich die hilflose sehnsucht nach authentischen begegnungen bahn in lächerlichmachen, selbsthaß und gegenseitiger verachtung. – Auf einer anderen ebene liegt pure gewalt, der in besonderem maße menschen ausgeliefert sind, die auf solidarität und hilfe ihrer mitmenschen kaum hoffen können, weil sie "anders" zu sein scheinen. Vor allem in kindheit und jugend haben entsprechende erfahrungen mit gleichaltrigen nicht selten traumatisierendes gewicht und führen im weiteren leben zu sozialem rückzug, alpträumen und depressiver grundstimmung. Das vorliegende buch macht eine derartige kontinuität nachvollziehbar.

Jürgen lothar harald haug wurde 1940 geboren. 1962 begann er, sich in der BRD als hörspielautor zu etablieren. 1975 erschien seine dokumentation 'Aufzeichnungen aus einer Wandererherberge'. (Auch sie wurde bei AUTONOMIE UND CHAOS BERLIN wiederveröffentlicht.) Das vorliegende buch erschien 1981. Trotz einiger wohlwollender, sogar begeisterter rezensionen fanden beide werke keine nachhaltige öffentliche aufmerksamkeit. – Jürgen haug starb am 2. juli 2012.

(Aus dem nachwort von mondrian v. lüttichau)

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