Kurt Münzer: DELA GARD oder KUNST UND LEBEN IN BERLIN

Aus dem milieu einer assimilierten jüdischen familie (wie kurt münzers elternhaus es war) erwächst adelaide (dela), die erste hauptfigur des berliner geschehens: "Was geht es einen weiter an, was Fremde denken! Mutter und Tanten und Kaufleute! Das kleine Mädchen fühlt, daß gar kein Zusammenhang da ist zwischen ihr und irgendwelchen anderen. Mutter und Tanten, das sind wohl auch nur Namen und Titel wie Kaufmann oder Doktor oder Müller und Lehmann. Oder Mutter ist eben ein Beruf, zu pflegen und zu unterrichten und zu behüten. Jedes Kind hat so eine Frau, die es ernährt, oft haben auch mehrere zusammen eine, was aber für beide Teile weniger hübsch sein muß. (…) Eltern – das kleine Mädchen kennt dieses Wort nur als einen Begriff. Sie ist neun Jahre und weiß, daß jeder allein ist."

Bäume und blumen, wind, sonne und regen: natur bildet ihre brücke zur großstadt berlin. An vertrautes anknüpfende eindrücke – regenfeuchte straßen, lichter aus den fenstern, klavierübungen aus einer fremden wohnung, schwere schritte auf dem hof, lachende kinder, der geruch aus einem geschäft – geleiten zu unvertrauten, nicht zuletzt zur vielfalt der menschen – ihrer mimik und körpersprache, ihren empfindungen und ihrer lebensweise, zur choreografie ihrer kommunikation. Aber noch lange zeit steht dela gard diesem mitmenschlichen leben fremd gegenüber … allein ihre augen sind offen für das leben der stadt.

Münzers romane (und schon dieser) sind voller tragischer konstellationen – also kaum etwas für heutige lese-, denk- und empfindungskoventionen. Andererseits führen seine geschichten über die tragik hinaus: wenn die protagonistInnen nur ihre individualität annehmen würden: "Da zerbrechen sie sich den Kopf um allgemein gültige Lebensformen. Gönnt doch jedem sein besonderes Schicksal!" Darin gehört er zur avantgarde. Münzers tiefes verständnis für die gesellschaftliche situation von frauen, ihre gefangenheit in den vorgaben der frauenrolle, ihre erfahrung von männlicher selbstherrlichkeit und vergewaltigung (auch in der ehe) macht ihn zum feministischen autor.

In einigen romanen kurt münzers ist BERLIN die eigentliche hauptfigur, verabscheut und geliebt, aber immer im bemühen, sie zu fassen, zu begreifen, sie in der künstlerischen formung zu bewältigen. – Hier ist es berlin als stadt der bauinvestoren und -spekulanten, die zeit der ausdehnung in den westen: tiergarten, kurfürstendamm, charlottenburg, kantstaße, wilmersdorfer straße, grunewald. Das berlin der wende zum 20 jahrhundert, ein "Exerzierfeld der Moderne" , wurde zum nährboden kritischer, kreativer individualisten – nicht sehr anders als jetzt, an der wende zum 21. jahrhundert, nach dem ende von westberlin & hauptstadt der DDR!

DELA GARD ODER KUNST & LEBEN IN BERLIN ist der roman des neuen berliner westens mit seinen neureichen und den selbsternannten künstlerischen und intellektuellen avantgardisten, – wie alfred döblins BERLIN ALEXANDERPLATZ (19 jahre später) zum roman der berliner mitte wurde. Es ist ein roman der nach der wahrheit der welt, nach kreativem ausdruck, nach selbstbestimmung suchenden minderheit der jungen generation um 1900. Im rückblick gesehen, steht kurt münzers früher roman in mancher hinsicht am auftakt des 20. jahrhunderts in deutschland. Nicht zuletzt dokumentiert es den einstieg in die sogenannten wilden 20er jahre, den kulturellen generationswandels, der gewöhnlich erst mit dem ende des ersten weltkriegs, der revolution 1919 verbunden wird! – Was ist leben, was ist kunst, was daran ist wahr, was unwahr? Oder allgemeiner: "Was haben denn Leben und Kunst miteinander zu tun?" Zweifellos eine lebensfrage des autors, die noch in anderen werken zum ausdruck kommt.

Jede arbeit dieses autors weckt neu bei mir die frage, was war kurt münzer wohl für ein mensch? Im vorliegenden roman steht der nicht weiter erklärte satz: "Die anderen alle waren jeder ein einzelner Mensch, er allein war ein vielfacher." Und findet sich, ebenso isoliert, eine erfahrung des michael munk: "An kühlen Nachmittagen stieg er zum Weißenstein hinauf. In der Nacht erreichte er den Gipfel. Lichter über, Lichter unter ihm. Weit hinein ins Land verstreut, einzeln, in glänzenden Haufen, in langen Zügen, schienen sie ein Spiegelbild des Himmels. Zwischen zwei Himmeln stand er so im finstern Raum. Er war das schlagende Herz der grenzenlosen Nacht, die fühlende Seele des Universums. Alles Menschliche löste sich von ihm, und er empfand ganz die Gottheit, deren Symbol er war. Die Welt zog sich in ihm zusammen, in ihm verdichtete sich zu einem Einzigen das tausendfach gespaltene Leben. Er war das große Bewußtsein, und um ihn war das totale Nichts, der leer dunkle Raum, der wartete, von ihm belebt zu werden."

Der roman DELA GARD ODER KUNST & LEBEN IN BERLIN erschien 1910 unter dem originaltitel KINDER DER STADT. Dies hier ist, nach bald 100 jahren, die erste wiederveröffentlichung. Hinzugefügt wurden einige abbildungen aus dem damaligen berlin.

Von kurt münzer sind bei A+C bereits mehrere bücher wiederveröffentlicht worden! Siehe auch hier bei wikipedia.

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