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Adam Scharrer: MAULWÜRFE

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Neu im März 2024

ELEND UND WIDERSTAND FRÄNKISCHER BAUERN 1900-1933

Adam Scharrer (1889 – 1948) war Sohn eines Gemeindehirts. Seine Mutter starb, als er 5 Jahre alt ist. Der Vater heiratete deren Schwester; in dieser Ehe wurden 15 Kinder geboren. Neben dem Besuch der Volksschule mußte Adam Kühe und Gänse hüten. Anschließend absolvierte er eine Schlosserlehre und war nach eigenen Angaben bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr als Schlosser- und Drehergeselle in vielen Städten Deutschlands tätig, auch in Österreich, der Schweiz und Italien. Bereits seit der Jugend war Scharrer kommunistisch orientierten Kreisen verbunden.
Wegen seines Engagements gegen die NS-Bewegung wurde er nach dem 30. Januar 1933 wegen Hochverrats steckbrieflich gesucht, er mußte zunächst in Berlin untertauchen und noch im selben Jahr in die Tschechoslowakei emigrieren. Ein Jahr später kam er auf Einladung des Schriftstellerverbandes der UdSSR in die Sowjetunion, kurze Zeit hielt er sich in der Ukraine auf, kehrte aber bald in die Nähe Moskaus zurück, wo er in einer Autorenkolonie lebte. 1941-43 wurde er nach Taschkent evakuiert. Nach dem Ende des Krieges zog Scharrer nach Schwerin in die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands, hier wurde er Redakteur der "Schweriner Landeszeitung", ohne einer Partei beizutreten. Er arbeitete vorübergehend in der Verwaltung und gründete mit anderen den Kulturbund Mecklenburg-Vorpommern, wo er Leiter der Literatursektion wurde.

Scharrers bekannteste Veröffentlichungen waren:
AUS DER ART GESCHLAGEN. REISEBERICHT EINES ARBEITERS. (Berlin 1930). Es erzählt autobiografisch orientiert von den Erfahrungen als wandernder Schlosser- und Drehergeselle.
VATERLANDSLOSE GESELLEN. DAS ERSTE KRIEGSBUCH EINES ARBEITERS. (Wien/ Berlin 1930). Einer der wichtigsten deutschen Anti-Kriegsromane, bezogen auf den ersten Weltkrieg.
MAULWÜRFE. EIN DEUTSCHER BAUERNROMAN. (Malik Verlag Prag 1934). Das Buch erschien 1945 als einer der ersten zehn Titel des Aufbau-Verlages. Mehrfach Wiederveröffentlichungen in der DDR, zuletzt 1985 als fotomechanischer Nachdruck. Die vorliegende Ausgabe unter dem neuen Titel MAULWÜRFE – ELEND UND WIDERSTAND FRÄNKISCHER BAUERN 1900-1933 ist die einzige Neuausgabe seither.
In der BRD gab es von Scharrer keinerlei Ausgaben.

Scharrers vorliegender Roman ist eine hautnah berichtete Reportage aus dem Alltag eines fiktiven mittelfränkischen Dorfes in der Nähe von Fürth (im Buch: Felben). Im Mittelpunkt stehen kleine Bauern (Pachtbauern und selbständige Arbeitsbauern). Während der Inflationsjahre (1922/23) kommt es schrittweise zu einem massiven Verdrängungskampf von Großbauern und dem adeligen Großgrundbesitzer gegen kleinere Bauern, wodurch auch persönliche und ideologische Feindseligkeiten in der Bevölkerung aufbrechen. Die Menschen werden zerrieben zwischen zunehmender materieller Not, dörflichen Normen, politischen Vorstellungen und persönlichen Beziehungen, Empfindungen und Wünschen.
Sehr nuanciert wird dargestellt, wie menschenfreundliches und menschenfeindliches Verhalten nebeneinander existieren kann auch wegen tief verwurzelter Anschauungen und Lebensregeln, von denen wir uns emanzipieren können nur, wenn wir den Freiraum haben, weiterzulernen, uns im Laufe des Lebens neue Selbstverständnisse aufzubauen. Schaffer gelingt es, individuelle soziale, seelische Wahrheiten in ihrer manchmal tragischen Unvereinbarkeit nebeneinander stehenzulassen. Wir lesen von der fast unüberwindbaren Schwierigkeit, aus dem traditionellen Dorfgefüge heraus für abweichende ethische Anschauungen einzustehen. Nachvollziehbar wird die gnadenlose Konsequenz, mit der Menschen ihre (lebenslang erlernten) Lebensprinzipien durchkämpfen bis zum Tod anderer oder dem eigenen, wenn sie nicht in der Lage sind, sich auf neue Umstände einzustellen.

Die materielle Not, bei der über jedes Stück Nahrung entschieden werden muß, und dies noch vorausdenkend über Monate, wird in Scharrers subtilen Dialogen unmittelbar nachvollziehbar: "Wie a Maulwurf wühlt der kla Bauer si ei in sei Fleckl Erdbudn, und wenn er a Menschnalter gschindert hat, hat er nix." Die Subtilität und Prägnanz, mit der alltägliche Arbeitsabläufe und bäuerliche Ordnungsprinzipien in den Gesprächen der Personen deutlich werden, ist ein besonderer Gewinn, weil wir uns heute bäuerliches Leben zu jener Zeit kaum noch vorstellen können. Satz für Satz ist in diesem Buch (stärker noch als in anderen Werken Scharrers) die handwerkliche, haushälterische Liebe zum Detail zu spüren. Der Autor war eben nicht nur Hirt und Bauer, sondern auch Maschinenschlosser und Dreher und hat in diesem Berufsfeld über zehn Jahre gearbeitet.
Zwar gibt es einen Ich-Erzähler (Schorsch Brandl), aber das Buch ist nicht vorrangig seine Geschichte, sondern eine Art (fiktiver) Chronik jener Zeit und zeittypischer Umstände. Nirgendwo wird Scharrers Parteilichkeit für die Frankenbauern propagandistisch überpointiert. Traurige, tragische, aber auch tiefbeglückende Empfindungen werden nachvollziehbar – ohne breites Ausmalen, vielmehr als lakonischer Bericht über das Leben, wie es eben war, aber auch in berührenden Gesprächen. Und dann kam schon wieder der nächste Tag mit seiner Arbeit ..
Die nuancierte Wiedergabe des mittelfränkischen Dialekts (in der wörtlichen Rede der Personen)  ist dabei ein spezieller Schatz dieses Buches. Wären diese Dialoge nicht auch inhaltlich mitreißend und Träger der Handlung, wäre wohl nur eine Minderheit von nicht-fränkischen Leser*innen bereit, sich auf diese Sprache einzulassen. So bedeutet dieses Buch nicht zuletzt auch das Dokument eines deutschen Dialekts.

Ende der 20er Jahre eskaliert die Situation Zug um Zug: auf der einen Seite verbitterte, in ihrer konkreten wirtschaftlichen Situation zunehmend verzweifelte Kleinbauern, auf der anderen Seite Parteigänger der Nazis, personalisiert in Funktionsträgern (einschließlich des Pfarrers), Großgrundbesitzern und pogrombereiten Einzelnen. Eine Gruppe von Dörflern (mit implizit deutlich werdendem kommunistischem Selbstverständnis) versucht, politische Hintergründe zu vermitteln, den anderen Mut zu machen, für ihre berechtigten Interessen einzutreten: in alltäglichen Gesprächen, am Biertisch wie bei dörflichen Versammlungen, gelegentlich auch mit Prügeleien, publizististisch und mit praktischer Unterstützung und Anteilnahme. ("… daß dös a gibt, daß Leit für an eisteh und die Hand net aufhaltn, dös hätt i net für mögli ghaltn.")

Für die allgemeine, durch Einzelinteressen verstärkte wirtschaftliche Not müssen Schuldige benannt werden, dafür boten sich die "Novemberparteien" an, verallgemeinernd auch: die Bolschewisten. Darin waren sich weite Kreise der verarmten kleinen Leute und die Großgrundbesitzer einig.
Auch politische Machtkämpfe zwischen bauernorientierten Vereinigungen, ausgetragen in der Presse, werden dargestellt (insbesondere, um angeblich oder tatsächlich kommunistisch orientierte Initiativen mit Hilfe von verlogener Rhetorik gesellschaftlich auszugrenzen). Sacht formiert sich nach Ende der Inflation (1924) eine "vaterländische" Front gegen die "Novemberparteien", vordergründig (d.h. rhetorisch) engagiert für die Interessen der "kleinen Leute", die dann einige Jahre später bei den Nazis die ihnen gemäße Heimat finden wird. Wirtschaftlich Abhängige wie Hirten, Knechte oder Hilfeempfänger wurden von Arbeitgebern, der NS-orientierten Gemeindeverwaltung oder dem Pfarrer genötigt, "im eigenen Interesse" in die Nazipartei einzutreten; das halberzwungene Mitmachen war dann unvermeidbar.
"Und wenn mir klan Leut zsammhaltn, nacha wird 's nimmer lang dauern, und 's schaut anders aus auf der Welt." Mit dieser – ursprünglich linkssozialistischen – Hoffnung wurden dann auch die Nazis begrüßt und gewählt von einer Mehrheit wenig orientierter Leute. Deren Argumentation (vor 1933) war auf dem Dorf zweifellos eingängiger als diejenige der Linken, der Kommunisten.

Wir verfolgen Schritt für Schritt das perfekte Zusammenspiel (die "Seilschaften") der dörflich einflußreichen Personen und Institutionen (Bürgermeister, Pfarrer, Gastwirt, Förster, Großbauer, Parteifunktionäre), wenn es um die Interessen einzelner von ihnen geht. Andererseits gibt es weiterhin durchaus situative Kooperation zwischen Bauern und Gemeinderat im Sinne des funktionierenden Gemeinwesens. Allerdings führt jeder kleine Schritt in eine offizielle Position tiefer hinein in Abhängigkeiten (auch, aber nicht vorrangig vom Geld). So ist es seit jeher und auch heute; aber diese Überlegung hilft denjenigen nicht, die sich Familie und einen höheren Lebensstandard wünschen, damals aber auch nur: sich jeden Tag satt essen und ihre notwendigen Alltagskosten bezahlen wollen.

In dieses erste Buch im Exil, veröffentlicht 1934 bei Malik, dem bedeutenden Prager Exilverlag, hat Adam Scharrer seine ganze Liebe zu den Menschen im Dorf hineingegeben. Jedoch fehlt jede verklärende Schönfärberei (wie sie oft in sogenannten Bauernromanen zu finden ist). Der Autor gibt den Bauern ihre Würde – und zeigt andererseits den alltäglichen gnadenlosen Eigennutz vieler Menschen (zu allen Zeiten). Viele zarte Momente enthält das Buch – nicht zuletzt, wo es um die Situation von Frauen in diesem von nie endender Arbeit und nie endenden Sorgen bestimmten bäuerlichen Leben geht.

(Aus dem Nachwort)

auc-178-scharrer (pdf 1,6 MB)

William Quindt: GERECHTIGKEIT oder APOKALYPSE DER TIERE

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Neu im Januar 2024

William Quindt (1898 – 1969) kommt aus einer bäuerlichen Familie; er verlor früh seine Eltern und schlug sich ab dem 15. Lebensjahr in verschiedenen Berufen durchs Leben. Schließlich wurde er Journalist, später Pressechef bei großen Zirkusunternehmen wie Sarrasani und Busch, mit denen er Europa bereiste. Weitere Reisen brachten ihn nach Afrika und Indien.
Ab 1932 veröffentlichte er eine Vielzahl von Romanen, die (unter der Kategorie Tiergeschichten und Abenteuerromane) fast ausnahmslos zu Bestsellern wurden . Einige Bücher blieben bis heute dauerhaft lieferbar, vor allem STRASSE DER ELEFANTEN (1939), in dem sich Quindt kritisch mit der Elfenbein-Wilderei auseinandersetzte und eindringlich für den Schutz der Elefanten eintrat.
Die meisten seiner Romane sind nicht zuletzt Allegorien – begründet in verbitterter, resignierter Sehnsucht nach der Möglichkeit authentischen, menschenwürdigen Lebens, wobei im Mittelpunkt fast immer Tiere stehen. Das hier wiederveröffentlichte späte Hauptwerk GERECHTIGKEIT legt den Schwerpunkt ganz und gar auf das Leid der Tiere in einer Welt der Menschen und die Notwendigkeit, sich dieser Zerstörungsnormalität zu widersetzen.
Quindts lebenslange Annäherung an die Welt der Tiere, seine lebenslange Auseinandersetzung mit der Realität der Menschen auf diesem blauen Planeten wird in GERECHTIGKEIT nicht zusammengefaßt (sprich: verallgemeinert), vielmehr entfaltet in all seinen Nuancen.

Der Tiermaler Hans Froment lebt für seine Kunst, Tiere in der Schönheit ihrer Lebenswirklichkeit zu porträtieren. Er erhält den Auftrag, für einen großen Verlag über sechs Jahre in Afrika, Asien und Nordamerika zu reisen, um die dortige Tierwelt für großangelegte Buchveröffentlichungen zu zeichnen und zu malen. Während dieser Reise nähert er sich dem Leben wilder Tiere auf ihrem heimatlichen Kontinent in einer für ihn umwälzenden und irritierenden Weise. Nach der Rückkehr nach Europa wird ihm schrittweise, in unzähligen Situationen, Begegnungen, Konfrontationen (mit Tieren und Menschen) erschreckend deutlich, in welchem Maße Tiere in der Menschenwelt (zumal in der zivilisierten Gesellschaft) mißachtet, versklavt, gefoltert, entwürdigt und zerstört werden. Sacht erkennt er, daß auch in der von einer (scheinbaren) Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier bestimmten Welt des Zirkus, auch in der Realität von Zoos, selbst im Umkreis des organisierten "Tierschutzes" die Tiere zumeist als Objekte der Menschen benutzt werden. – Diese Zusammenhänge werden von Quindt nicht als Streitschrift publiziert, sondern verwoben in eine romanhafte und zugleich essayistische Erzählung von im Original 732 enggedruckten Seiten.

Verwoben wie in einem rhizomatischen Wurzelwerk sind in diesem wortgewaltigen Buch alle Themen, Assoziationen, Erinnerungen, Reflexionen, und durch alles flutet der Blick auf die legitime Wahrheit der Tiere: nicht abgeleitet von der Wirklichkeit der Menschen. Im Lesen – Satz für Satz, Passage für Passage – entfaltet sich uns ein eigener Blick auf diesen blauen Planeten. Wir erkennen, daß das biblische "Paradies" ja diese Erde gewesen ist! – Die Welt der Tiere ist uns offensichtlich fremder als alle außerirdischen Lebenswelten, die SF-Autoren erfinden: das wird deutlich an Quindts Roman GERECHTIGKEIT, einem Buch, das sich selbst naturwüchsig zu entfalten scheint; dabei ist es Szene für Szene, Gedankengang für Gedankengang folgerichtig aufgebaut bis zur letzten Seite.

Das Buch erschien 1958 , im Jahr 1982 wurde eine stark gekürzte Taschenbuchausausgabe veröffentlicht. Der vorliegenden einzigen Wiederveröffentlichung (2024) unter dem neuen Titel GERECHTIGKEIT oder APOKALYPSE DER TIERE liegt die Originalausgabe zugrunde. Hinzugefügt wurde ein Nachwort , Hinweise auf andere Arbeit Quindts, ein Werkverzeichnis sowie Literaturempfehlungen, außerdem einige Abbildungen.

auc177-quindt-gerechtigkeit (pdf 4,7 MB)

Angela Stachowa: GESCHICHTEN AUS DER DDR

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Neu im Dezember 2023

Angela Stachowa (1948–2022) war eine deutsch-sorbische Schriftstellerin und Politikerin.
Nach der Abiturprüfung 1967 an der Sorbischen Oberschule in Bautzen und einer Lehre als Fernmeldetechnikerin absolvierte sie ein Studium an der TU Dresden, das sie 1972 als Diplom-Ingenieurökonomin mit der Spezialisierung Elektrotechnik/Elektronik abschloß. Von 1973 bis 1976 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Danach arbeitete sie als freiberufliche Schriftstellerin. Angela Stachowa war von 1972 bis 1989 Mitglied der SED. Vom 20. Dezember 1990 bis 10. November 1994 war sie für eine Wahlperiode Mitglied des Deutschen Bundestages. Sie wurde als Parteilose für die PDS/Linke Liste über die Landesliste Sachsen ins Parlament gewählt. Während der Legislaturperiode trat sie am 15. Juni 1994 aus der PDS-Fraktion aus, behielt aber ihr Mandat als Fraktionslose.
Angela Stachowa lebte (zunächst mit ihrem Sohn) in Leipzig. Seit 1996 erschienen nur noch Veröffentlichungen in sorbischer Sprache.

Im Mittelpunkt der Erzählungen stehen meist junge Frauen. Stachowas Geschichten berühren in ihrer genauen und solidarischen Darstellung subtiler Empfindungen und schwieriger Alltagssituationen, unmittelbar und unprätentiös erzählt. Hautnah an den Menschen dran sind diese Geschichten – und doch an jeder Stelle in tiefer Achtung vor der Eigenheit der Person, die dargestellt wird. In Achtung auch vor dem nicht anders Können, dem Versagen. Wir sind eben doch jedem Achtung schuldig dafür, daß er oder sie ihr Leben zu leben versucht, Tag für Tag.
Angela Stachowas lakonischer, seltsamerweise gleichwohl spannender Bericht über alltägliche, fast beliebige Tatsachen und Handlungen regt die Einfühlung in die jeweilige Situation an – und damit in das (vermutliche) Empfindungen der Protagonist*innen. Dazu paßt auch ihr eigenartiger, an gesprochener Umgangssprache orientierter Stil.

Quelle der hier gesammelten Geschichten sind mehrere Erzählungsbände Angela Stachowas aus den Jahren 1975 bis 1982.
Hinzugefügt wurde eine möglichst vollständige Bibliografie selbständiger Veröffentlichungen der Autorin, ein Aufsatz von Christel Hildebrandt von 1984, ein TAZ-Artikel zum Thema Sorben (von 1991), fünf Porträtbilder der Autorin sowie einige Fotografien, die in den Jahren nach 2000 in der (ehemaligen) DDR entstanden sind.

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Erna Saenger: GEÖFFNETE TÜREN. Lebenserinnerungen 1876-1976

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Neu im Dezember 2023

Erna Wehr, geboren im September 1876 in Kensau (Westpreußen) , gestorben im November 1978 in Berlin, stammte aus einer großbürgerlichen Gutsherrenfamilie. Bestimmend für ihr Leben war ihr alltäglich gelebtes Christentum sowie ihr Engagement für Kindererziehung und Sozialarbeit. So absolvierte sie ab 1896 eine Berufsausbildung im Pestalozzi-Fröbel-Haus (P.F.H.) Berlin, einer der ersten Ausbildungsstätten für das damals neue Berufsbild Sozialarbeit. Durch ihre Ehe mit dem preußischen Staatsbeamten Konrad Saenger lebte sie ab 1911 in Berlin in bildungsbürgerlichen Verhältnissen.
Kern ihrer Lebenserinnerungen waren Auszüge aus ihrem (lebenslang geführten) Tagebuch. Sie wurden von der Autorin organisch eingebunden in die direkt für das Erinnerungsbuch verfaßten Passagen. Das Buch ist ein Dokument der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit: zur Situation der Gutsherrschaft in Westpreußen (heute Polen) und zugleich zum Lebensgefühl preußischer Staatsbeamten und etablierter Akademiker in Berlin. Deutlich wird eine wie selbstverständliche Amalgamierung von preußischem Nationalismus (einschließlich des Glaubens an "das Urdeutsche") und christlichem Ethos mit Momenten der nazistischen Ideologie. So ist das Buch ideologiegeschichtlich möglicherweise repräsentativ für die entsprechende Schicht von Großbürgern, Beamten und Adligen in Deutschland (vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, im Nationalsozialismus sowie dann noch einmal aufflammend in den ersten Jahrzehnten der BRD).

Das Einzigartige liegt in der bis ins hundertste Lebensjahr ungebrochenen vitalen Reflexionsfähigkeit der Autorin, in die ihre lebenslang geführten Tagebücher einbezogen werden. Es entsteht ein seltenes Gleichgewicht der reflexiven Präsenz ihrer Lebenserfahrung, dies nicht als nostalgisch orientierte Rückschau, vielmehr nimmt die Autorin damalige Blickwinkel, Erfahrungen, Einschätzungen mit in die Gegenwart, konfrontiert heutige soziale, gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten mit ihnen und lädt ihre Leser*innen ausdrücklich zum Mitdenken ein. Dabei gelingt ihr ein "beidäugiges Sehen", aus dem wir viel lernen können. Dies wäre kaum möglich ohne eine ungebrochene Lebenszugewandtheit, die bei ihr viel mit ihrer Beheimatung im christlichen Glauben zu tun hat, aber auch in der Verbundenheit mit der Familie liegt. Kostbare Zeitzeugin ist sie auch, weil sie (subjektiv, mit Herz und Verstand) das politisch-soziale Leben spiegelt – einschließlich der Ideologeme und Verirrungen, denen auch sie unterworfen war. Erna Saenger hat lebenslang weitergelernt, jedoch ohne ihre Vergangenheit (wie sie in den Tagebüchern dokumentiert war) retrospektiv umzuinterpretieren.

Schwerpunkte der Lebenserinnerungen sind Kindheit und Jugend auf dem westpreußischen Gutshof – Aufenthalte in Berlin – Die Anfänge der Sozialarbeit – Erster Weltkrieg (nationalistisch-preußischer Taumel) – tätige Nächstenliebe in Kensau – Leben in Berlin (Dahlem) –Kirchenkampf im NS – lebendige Christlichkeit – Alltag im Zweiten Weltkrieg – Familienleben.

Saengers einfühlsame, genuin sozialarbeiterische Haltung zeigt sich nicht zuletzt in der nuancierten Darstellung des dörflichen Lebens in Kensau. Leid und Freude, Probleme, Begrenztheiten und persönliche Ressourcen der Kleinbauern und Landarbeiter werden in den skizzierten Dialogen vorstellbar.

Gespenstisch alltäglich liest sich der Bericht vom kollektiven Wahn zu Beginn des Ersten Weltkriegs, einem Wahn, mit dem die Autorin offenkundig noch 60 Jahre später identifiziert ist. Nachvollziehbar wird auch, wie die affektiv besetzte Deutschtümelei in den Kriegsjahren weiterging und, entsprechend pointiert, die Verinnerlichung der nazistischen Ideologie im Volk begünstigte und stabilisierte. Politik wird in Saengers Buch jedoch nicht problematisiert; sie schreibt: "Politik also nicht — historisches Geschehen umso mehr." Diese eigenartige Abgrenzung zieht sich durch Erna Saengers Buch. Politik ist das Parteiengerangel, menschliches Irren und Wirren, historisches Geschehen ist das Dauerhafte, womit "man" sich identifizieren möchte.

Während der NS-Zeit war Erna Saenger eingebunden in den Dahlemer Kreis der "Bekennenden Kirche" (um Martin Niemöller). Nicht nur in diesem Zusammenhang dokumentiert sie christliche Diskussionsprozesse und Kontroversen, so zwischen deutsch-völkischen ("heidnischen"), deutsch-christlichen und traditionellen christlichen Haltungen und den Positionen des "Kirchenkampfs". Die Bedeutung dieses Zeugnisses liegt nicht zuletzt darin, daß Erna Saenger sich auch hier ihr Selbstdenken erhalten hat und sich offenbar keiner der Gruppierungen pauschal angeschlossen hat. Selbst die "einseitige, prinzipielle Verurteilung der DC" (NS-nahe, antisemische Gruppierung Deutsche Christen) wollte sie "nicht mitmachen".

Nachvollziehbar wird für mich, wieviel Kraft (Ressourcen) es Menschen gegeben haben kann, für die der christliche Glaube, die Orientierung an christlichen Texten, Sprüchen und Liedern tatsächlich das alltägliche Leben mitbestimmt hat.
Sinnlich nachvollziehbar wird allerdings auch die Kehrseite dieser Christlichkeit. Mit den Ideologemen des christlichen Weltbild läßt sich alles menschlich Verwerfliche integrieren – nämlich als das zu Überwindende, wofür die christliche Religion die Werkzeuge selbstverständlich zur Verfügung stellt; das Böse, das sind Aufgaben Gottes. Auch das christliche Weltbild ist ein geschlossenes System, in dem alles seinen Platz findet, sobald es einmal geschehen ist: auch der Nazismus, der Stalinismus, jedes Verbrechen. Für jede Lebenssituation gibt es ein Bibelzitat, wodurch das entsprechende Phänomen in den Gesamtzusammenhang des christlichen Weltbilds gestellt werden kann; es liegt dann nur noch am Einzelnen, eine biblisch legitimierte Umgangsweise dafür zu finden; die Autorin macht es uns vor.

In Erna Saengers Buch entsteht der Eindruck, daß die Ablehnung der Nationalsozialisten in ihrem Kreis (auch innerhalb des sogenannten "Kirchenkampfes") zunächst vorrangig damit begründet wurde, daß die Nazis die beiden Amtskirchen nicht anerkannten. "Dem Nationalsozialismus stand Saenger ablehnend gegenüber. Insbesondere missfiel ihm, dass der Staat die evangelische Kirche immer mehr beeinflusste", heißt es in einer ausführlichen Würdigung Konrad Saengers. War das nun wirklich das Schlimmste, was den Nazis vorzuwerfen wäre?
Hitlers Buch MEIN KAMPF (1925/27) wurde offenbar weder von dem professoralen Philosophen Eduard Spranger noch im Umkreis der hochgebildeten Familie Saenger rezipiert.
Im Anhang des Nachworts werden beispielhaft einige Passagen aus Hitlers programmatischer Schrift dokumentiert. Ihre gnadenlose, wahnsinnige, in der Konsequenz mörderische Rationalität war die Kehrseite einer an christlicher Nächstenliebe und unbedingter Lebenszugewandtheit orientierten Gutbürgerlichkeit, von der Erna Saenger glaubwürdig und sympathisch erzählt.

(Aus dem Nachwort)

auc-175-saenger (pdf 2,8 MB)

Anna Langfus: SALZ UND SCHWEFEL

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Neu im November 2023

Anna Langfus (gestorben am 12. Mai 1966 in Paris) wurde als Hanka Regina Szternfinkiel am 2. Januar 1920 als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie in Lublin (Polen) geboren. Zusammen mit ihrem Ehemann Jakub Rais und ihren Eltern wurde sie im Frühjahr 1941 in das neu errichtete Ghetto von Lublin deportiert. Von dort flohen sie und lebten illegal in der Stadt. Der Vater kam in Lublin ums Leben, die Mutter im Warschauer Ghetto, wo sie sich mehr Sicherheit versprochen hatte. Auch das Ehepaar Rajs war 1942 nach Warschau geflohen. Sie blieben zunächst im Ghetto, versteckten sich dann auf der "arischen" Seite. Anna engagierte sich im polnischen Untergrund. Im November 1944 wird sie von der Gestapo verhaftet. Anna Rajs und ihr Mann werden als russische Spione verdächtigt und im Gefängnis von Nowy Dwór gefoltert. Jakub Rajs wird erschossen. Anna wird ins Gefängnis Płońsk überstellt, sie entgeht nur knapp einer Massenexekution und wird von der sowjetischen Besatzung freigelassen.

Anna Rajs-Szternfinkiel kehrt zunächst nach Lublin zurück, wo keine Verwandten mehr lebten. Sie beginnt dort ein Schauspielstudium. Etwa Mitte 1946 verläßt sie Polen und läßt sich in Frankreich nieder.
Als eine der ersten jüdischen Überlebenden der Shoah begann sie, literarisch ihre ihre Erfahrungen von Verfolgung, Verrat, Folter, Mord und Überleben zu veröffentlichen. In Frankreich entstanden bis zu ihrem Tod drei Romane sowie mehrere Theaterstücke, Erzählungen und Hörspiele.

Anna Langfus starb an einem Herzinfarkt im Alter von 46 Jahren. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Bagneux begraben.
Trotz Literaturpreisen und der Übersetzung ihrer Werke in fünfzehn Sprachen geriet sie ab den 1970er Jahren allmählich in Vergessenheit (heißt es in der französischen Wikipedia). In Deutschland wurde ihr Werk kaum zur Kenntnis genommen.

Die Autorin hat mehrfach betont, daß es sich bei SALZ UND SCHWEFEL nicht um eine Autobiografie handelt, sondern um einen "autobiografischen Roman". Der Roman zeigt unzählige Situationen, die nicht verarbeitet werden können mithilfe der Erfahrungen, der Empfindungen und Kriterien, der Moral, die wir für das mitmenschliche Leben gelernt und verinnerlicht haben: eine alltägliche Kette von Schmerzen und Demütigungen, die es jeweils zu überleben galt – irgendwie. Manchmal zeigt sich der innere Widerstreit zwischen Lebenswille und dem tiefen Wunsch, daß dieses schreckliche Leben endlich vorbei sein solle, egal auf welche Weise.
Literarische Gestaltung ist eine wichtige Verarbeitungsmöglichkeit traumatischer Erfahrungen. Empfindungen und Reflexionen können poetisch und in fiktiven Situationen distanzierter und dadurch oft nuancierter dargestellt und entfaltet werden als in einem in allen Einzelheiten an den tatsächlichen Abläufen orientierten Bericht.
Ein Wunder bleibt das sprachliche, literarische Niveau der Autorin, das tiefe Einblicke in menschliches Seelenleben ermöglicht: subtilste Beobachtung menschlicher Körpersprache, tiefe Einfühlung in zwischenmenschliche Situationen, die sie umsetzen kann in stimmige (theatermäßige bzw. filmische) Dramaturgie. Für existentielle Momente findet sie oft poetische Bilder.

Über die Realität der völkermörderischen Deutschen während der NS-Zeit enthält dieses Buch nichts, das nicht auch durch viele andere Zeugnisse bekannt wäre. Sein Wert liegt – wie jeder Bericht einer oder eines Überlebenden dieser Schrecklichkeiten – in dem Zeugnis eines Menschen, dieser jungen Frau, die – wie jeder Mensch, jedes Opfer – eine Welt für sich ist und als solche wert, bewahrt zu werden in ihrem Schicksal, ihren Empfindungen. Bewahrt zu werden auch im mitmenschlichen Protest gegen solche Taten. Deshalb müssen solche Zeugnisse weiterhin immer wieder neu veröffentlicht werden!

SALZ UND SCHWEFEL erscheint hier auf Grundlage der deutschen Erstausgabe (1964) als einzige deutsche Neuausgabe.
 Die Veröffentlichung enthält im Anhang einen zusätzlichen Text der Autorin, Literaturhinweise zum Thema "Juden und Polen" sowie ein Nachwort des Herausgebers (MvL).

auc-174-langfus-salz (pdf 2,6 MB)

Sh. M. Rubin: DIE FAMILIE

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Neu im November 2023

DIE FAMILIE ist eine Chronik jüdischen Lebens in Europa, exemplarisch erzählt in Episoden und als Generationenfolge einer fiktiven Familie über 900 Jahre: ein Geschichtsbuch im weitesten Sinne. Es umfaßt in zwei Bänden mehr als 1000 Seiten.

Trotz umfassender Bemühungen fand sich Anfang der 80er Jahre kein deutschsprachiger Verlag für das Manuskript. Stattdessen wurde eine "Sonder-Erstausgabe" herausgegeben. Ein Teil dieser Auflage wurde an Multiplikatoren und Institutionen in der BRD gesandt - mit der Perspektive, auf diese Weise doch die Veröffentlichung in einem Verlag zu erreichen. Auch mit Zeitungsannoncen wurde auf das Projekt aufmerksam gemacht.
1987 erloschen die Bemühungen der Herausgeber. In den folgenden Jahrzehnten gab es keinerlei Öffentlichkeit im Zusammenhang mit diesem Werk. Die Identität des Autors (oder der Autorin) ist nach wie vor unbekannt. Seine oder ihre existentielle Betroffenheit an der Situation des Judentums kann nicht bezweifelt werden. Es kann wohl davon ausgegangen werden, daß er (oder sie) Jude/Jüdin ist. Kein Zweifel ist möglich an der fundamentalen judaistischen Kompetenz des Autors.

In seiner überwältigenden inhaltlichen Fülle ist Rubins Buch Mahnmal für die "Familie" aller Juden und Jüdinnen: ihren Zusammenhang über Zeiten und Länder, über Leben und Tod: ist Klage über die immer neue Zerstörung dieses Zusammenhangs, aber ist auch Frage, inwieweit diese "Familie" heute noch empfunden und gelebt werden kann.

Nachdem seither kein Verlag sich dieser einzigartigen Publikation angenommen hat, erscheint jetzt als einzige Wiederveröffentlichung eine ebenfalls zweiteilige Faksimileausgabe bei A+C online (zum kostenfreien Download). Dieses einzigartige literarische Werk, dessen Entstehungsgeschichte einigermaßen obskur sein und bleiben mag, ist ohne Zweifel ein seriöses, bewahrenswertes Dokument des europäischen Judentums.

Das erste Buch: TOTSCHLAG

auc-172-rubin-totschlag (pdf 34,4 MB)

Das zweite Buch: MORD

auc-173-rubin-mord (pdf 32,2 MB)

Margit Kaffka: FARBEN UND JAHRE

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Neu im Oktober 2023

Margit Kaffka wurde am 10. Juni 1880 in Nagykároly geboren. Das Städtchen, das an der Pforte Siebenbürgens liegt, gehörte damals noch zu Ungarn; nach dem ersten Weltkrieg fiel es durch den Friedensvertrag von Trianon an Rumänien.
Kaffka wird Lehrerin, sie unterrichtet und nutzt jeden freien Augenblick, um Kurzgeschichten und Gedichte zu verfassen, die in den Zeitschriften "Hét" und "Magyar Geniusz" veröffentlicht werden. Bald bewegt sie sich in literarischen und intellektuellen Kreisen und nimmt an Treffen in bürgerlichen Salons teil, am "Sonntagskreis" etwa, dessen Mittelpunkt Georg Lukács war. Ihre Arbeiten werden auch in "Nyugat" (Der Westen) veröffentlicht. Ihr Ruf als Autorin wächst mit der Veröffentlichung ihres ersten Romans SZÍNEK ÉS ÉVEK (= FARBEN UND JAHRE) weiter. Die Rolle der Frau in einer Zeit rapider sozialer Veränderungen ist eines ihrer beiden Hauptthemen. Ebenfalls aus dem eigenen Lebenslauf motiviert, bilden die Verarmung des Landadels und die tristen Verhältnisse in der Provinz den zweiten Schwerpunkt ihres Werks.
Margit Kaffka besaß eine scharfe Beobachtungsgabe und gestaltete Erscheinungen und Erlebnisse aus ihrer unmittelbaren Umgebung, deren Zeuge sie wurde. Ihre schöpferische Tätigkeit nährte sich nicht aus der Phantasie; sie begnügte sich damit, das Geschehen der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit darzustellen, sie beschrieb Männer und Frauen, denen sie begegnete, schilderte vor allem die seelischen Krisen der Frauen und durch diese die Gesellschaft, die Erzeugerin der Krisen. Die Zeichen der Zersetzung offenbarten sich ihr vornehmlich in der Familie, im Leben der Frauen, die nach Selbständigkeit verlangten, sich aber meist noch hilflos treiben ließen, und in den Veränderungen, die das Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau erfuhr.

Mit der Verbürgerlichung, dem raschen Entstehen neuer Schichten in den Städten und dem Verfall der bisher herrschenden Klasse war eine Verschlechterung der literarischen Bildung Hand in Hand gegangen. Hatte die Leserschaft noch vor einigen Jahrzehnten bedeutende Schriftsteller zu würdigen gewußt, so begnügte sie sich jetzt häufig mit Unterhaltungsliteratur von zweifelhaftem Wert. Diesen Mißstand zu beseitigen, sah die neue Schriftstellergeneration zwischen 1900 und 1920 als ihre wichtigste Aufgabe an. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die um die Zeitschrift NYUGAT gruppierten Dichter, zu denen auch Margit Kaffka — eine der wenigen bedeutenden Schriftstellerinnen der fortschrittlichen ungarischen Literatur — gehörte. Es entbrannte ein regelrechter literarischer Freiheitskampf, und die Erneuerung der Literatur erwies sich als Vorläuferin der sozialen Erneuerung. Margit Kaffka stellte sich mit Begeisterung in den Dienst der Sache, und zwar sowohl als schöpferische Künstlerin wie auch als Publizistin.

Der Ausbruch des ersten Weltkrieges brachte einerseits Verwirrung in die Reihen der Schriftsteller, vertiefte aber andererseits die Bedeutung der fortschrittlichen Künstler. Nicht Pazifismus, sondern die klare Erkenntnis der menschlichen und nationalen Interessen ließ sie diesen Krieg verurteilen. Sie wußten, daß Ungarn, das gegen seinen Willen in den Krieg verwickelte Land, nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren hatte, ganz gleich, ob Deutschland oder die Entente den Sieg davontragen würde. Diese Einsicht führte die fortschrittlichen Intellektuellen (allen voran der Dichter und Publizist Endre Ady) immer mehr der Revolution zu.
Die Oktoberrevolution und die Ereignisse im Verlauf des verlorenen Krieges, die den Auftakt zu der Ungarischen Räterepublik bildeten, hat Margit Kaffka noch miterlebt und mitempfunden. Sie starb, ein Opfer der Spanischen Grippe, am 1. Dezember 1918, mit 38 Jahren. Ihr Werk umfaßt etliche Lyrikbände, Erzählungen, Romane und ein Tagebuch.

Das Lebensproblem der Magda Pórtelky in FARBEN UND JAHRE liegt darin, daß das Leben die möglichen Alternativen zu einer Ehe einengt; ob gut oder schlecht – die Ehe bestimmt die soziale Rolle der Frau. Magda ist voller Energie und Ehrgeiz. Doch nach dem Suizid ihres ersten Mannes muß sie diese grundlegende Abhängigkeit der Frau erkennen. Durch ihre zweite Ehe versucht sie, sich eine entsprechende Position zu sichern, jedoch mildert nicht einmal mehr diese traditionelle Geborgenheit des gesellschaftlichen Lebens ihre Enttäuschung. Magda wird zur passiven Frau in einer statischen Welt. Sie ist entscheidungsfreudig, doch ihr innerer Aufstand wird schließlich unterdrückt und zeigt sich entweder in billigen Affären oder in allgemeinem Ekel vor ihrem vergeblichen Sehnen. Kaffka zeigt hier die verfallen(d)e Welt des provinziellen Landadels aus dem Blickwinkel der besonderen Probleme von Frauen.

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Frances V. Rummell: DIANA … EINE BEFREMDLICHE AUTOBIOGRAPHIE

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Neu im September 2023

1939 erschien in den USA ein Buch mit dem Titel: "DIANA – A STRANGE AUTOBIOGRAPHY". Als Autorin wurde "Diana Fredericks" genannt. Es war die erste in den Vereinigten Staaten veröffentlichte Darstellung eines individuellen lesbischen Coming Out.
Etwa 1960 erschien eine deutsche Ausgabe im Weltspiegel-Verlag (der vorrangig Pornoliteratur verlegte), unter dem Titel "DIANA – MEIN LEBEN - MEINE LIEBE - MEIN SCHICKSAL", hier unter dem Autorinnennamen "Diana Francis". Sie wurde vermutlich kaum wahrgenommen. (Dieser – sehr sorgfältig übertragene –Ausgabe liegt die hier vorliegende erste deutsche Neuveröffentlichung zugrunde.)

Die Identität der Autorin von "Diana" blieb unbekannt bis zum Jahr 2010. – Es handelt sich um Frances Virginia Rummell (1907-1969), eine promovierte Pädagogin und Kolumnistin.

Vieles scheint sich grundlegend geändert zu haben im Umkreis von Sexualität und Geschlechtsrollen (Gender) und dem möglichen und menschengmäßen weiten Spektrum innerhalb und jenseits der traditionellen Dichotomie von Hetero- und Homosexualität. Ein Grundproblem junger Menschen mit ihnen selbst noch unklarer "Geschlechtsidentität" bleibt jedoch gleich – und hat sich sogar verkompliziert in unserer pluralistischen Welt: das ist der quälende Zwiespalt zwischen der zunächst in der konventionellen Sozialisation angenommenen "normalen" Geschlechtsidentität und den hiervon (offenbar) abweichenden eigenen Empfindungen und Bedürfnissen.
Die Sozialisierung im Jugendalter hin zu einer selbstbestimmten "Geschlechtsidentität" ist und bleibt ein persönlicher, intimer Prozeß, der seine Zeit benötigt.

Die Autorin, eine hochintelligente, akademisch gebildete junge Frau, berichtet, wie sie sich in den zurückliegenden Jahren über ihre Empfindungen, ihre Situation in der sozialen Welt der 1930er Jahre und gegenüber dem Phänomen "Lesbischsein" klarzuwerden versuchte – noch ohne den Hintergrund einer lesbischen Community. Außer den wenigen frühen sexualwissenschaftlichen, medizinischen und psychoanalytischen Ansätzen zum Thema Homosexualität hatte sie nichts als ihre Lebenserfahrungen, über die sie dazuhin kaum mit Außenstehenden sprechen konnte.
Rummells Buch ist alles in allem der lebenskluge, anrührende, lehrreiche Bericht einer individuellen Entwicklungszeit, in der es keineswegs nur um sexuelle Neigungen geht. Es zeigt erschütternde Situationen menschlicher Wahrheit und menschlicher Hilflosigkeit. Auch die nuancierte Darstellung eigener Ressentiments, Ängste, Vorlieben, Überzeugungen und Schlußfolgerungen macht uns die Persönlichkeit der Autorin (die hierbei zweifellos mit ihrer Protagonistin identisch ist) auch in Momenten vorstellbar, die keinen direkten Bezug zu ihrer psychosexuellen Entwicklung haben, jedoch natürlicherweise zu deren Grundbedingungen gehören.
Dargestellt wird die kontinuierliche Orientierungssuche der Protagonistin zwischen den Vorgaben der "normalen" Gesellschaft und den Erfahrungen mit dem Lesbischsein. Dabei werden subtilste Schwankungen des Selbstwertgefühls und der inneren Impulse nachvollziehbar. Sachte wandelt sich der Blickwinkel der Protagonistin im Verlauf der Handlung. Zunächst geht sie vorbehaltlos von der übergeordnet legitimierten heterosexuellen Normalität aus, dann entwickelt sich schrittweise ihr Selbstverständnis einer ebenso natürlichen potentiellen Normalität des Lesbischseins. Dies geht allerdings nicht so weit, daß sie demgegenüber jetzt die heterosexuelle Gesellschaft in Frage stellt.

Nachvollziehbar wird in Frances Rummells Buch, wie Lesben damals alle sozialen Üblichkeiten überprüfen mußten: Vieles mußte zuerst pauschal abgelehnt werden (weil es zur "normalen" Gesellschaft gehörte), bevor im Einzelfall entschieden werden konnte, daß es durchaus auch für Lesben (bzw. für die konkret reflektierende Frau) akzeptabel sein könnte (z.B. mit Frauen zu tanzen). Das gesamte Gefüge der innerhalb der "normalen" (heterosexuell orientierten) Gesellschaft verinnerlichten kindlichen/jugendlichen Sozialisation mußte Stein für Stein umgebaut werden.
Deutlich wird in diesem Bericht auch der gnadenlose normative Druck der gesellschaftlichen Sozialisation, dem sich nur wenige Menschen, und auch die nur mühsam, entziehen können.

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Ernst Kaeber: BERLIN 1848

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Ernst Kaeber wurde am 2. Mai 1882 in Charlottenburg (heute Berlin) geboren. Er promovierte 1906 an der Berliner Universität. 1908 bestand er die Prüfung für den höheren Archivdienst. 1913 wurde Kaeber zum Stadtarchivar in Berlin ernannt. Er bezeichnete sich selbst 1923 als parteipolitisch auf dem linken Flügel der bürgerlichen Parteien stehend, war Anhänger der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). 1937 wurde er (ohne Zahlung einer Rente) zwangspensioniert, weil er sich nicht von seiner jüdischen Ehefrau trennte. Ab Juni 1945 wurde ihm die Leitung des berliner Stadtarchivs wieder anvertraut. Kaeber, der 1935-54 in Moabit wohnte (Dortmunder Straße 6), begründete im Zusammenhang mit der administrativen Spaltung Berlins das Stadtarchiv Berlin im Westteil neu. Diesem Institut (ab 1951 Landesarchiv Berlin) stand er bis 1955 vor. Er starb am 5. Juli 1961. Seine Urne befindet sich seit 1988 auf dem jüdischen Friedhof Heerstraße.

Ernst Kaebers hier erstmalig wiederveröffentlichte Monographie "Berlin 1848" entstand zur Hundertjahrfeier der Märzrevolution, im Auftrag des Magistrats von Groß-Berlin; sie erschien 1948 in dem seit 1945 bestehenden Aufbau-Verlag Berlin.

Der Autor vermittelt nachvollziehbar die Vielfalt einzelner, unterschiedlicher und divergenter Impulse, Intentionen, Ereignisse, die zu einer eigentlich erst im Rückblick "Revolution" genannten Entwicklung führen können. Die Fülle der auch an das breitere Publikum gerichteten politischen Flugblätter, Einzeltexte und Periodika sowie auch die von Kaeber hingebungsvoll referierten Versammlungen in diesen Jahren zeigen, daß hier nicht nur mehr oder weniger etablierte Vereinigungen und einzelne Intellektuelle politisch engagiert waren, sondern daß die Suche nach menschenfreundlicheren Normen der politisch-gesellschaftlichen Struktur offenbar ein öffentliches Anliegen war, getragen von Bürgern wie Arbeitern, Studenten wie Handwerkern, Beamten und Publizisten, Großgrundbesitzern und (einigen wenigen) Adligen; dazu gehörten auch basisdemokratische Willenskundgebungen.

In der berliner Märzrevolution wurden durch ein breites Spektrum engagierter Einzelner aus allen Bevölkerungsschichten (einschließlich der Arbeiter!) Grundstrukturen einer sozialen demokratischen Gesellschaftsordnung in Deutschland erarbeitet. Kaebers deutliche Sympathie mit dem revolutionären Impuls 1848 hindert ihn jedoch nicht daran, die damals bestehenden Bewußtseins- und Machtverhältnisse angemessen darzustellen, unter denen Demokratisierung und soziale Interessen der Arbeiter den adligen und bürokratischen Interessengruppen unterlagen.

Auch die Veröffentlichung von 1948 selbst ist ein geschichtliches Dokument für die kurze Zeit des politischen Innehaltens nach 1945, bevor im Kalten Krieg das politische Nachdenken über Deutschland für Jahrzehnte ideologisch eingefärbt wurde – im Osten wie im Westen. Kaeber zeigt, daß in der revolutionären Situation 1848 (auch) für Deutschland die historische Chance einer zeitgemäßen demokratischen Ordnung gelegen hat … – eine Chance, die dann in der Kaiserzeit verspielt wurde, die 1918 neu bestand und wiederum verspielt wurde, – eine Chance, die wohl auch nach 1945 bestanden hat. Darin vermute ich eine Intention des Groß-Berliner Magistrats zu dieser Veröffentlichung. Ernst Kaeber zeigt sich in ihr als früher Vertreter eines demokratischen, eines humanen Sozialismus.

"Welche Barrieren eine demokratische Erinnerungskultur an die Berliner Revolution weiterhin zu überwinden hat, zeigt der Blick auf das aktuelle Straßenverzeichnis Berlins: vier Wilhelm-, drei Manteuffel-, zwei Wrangel- sowie nicht zu vergessen: vier Bismarckstraßen, zwei Bismarckplätze und eine Bismarckallee, ferner weitere, nach prominenten Gegenrevolutionären benannte Straßen springen dem Berlin-Touristen beim ersten flüchtigen Blick auf den Stadtplan entgegen. Demokraten des Revolutionsjahres wurden demgegenüber nur ausnahmsweise geehrt. Mit ähnlicher Vehemenz und noch größerem Erfolg sperrt sich die Obrigkeit seit mehr als 150 Jahren gegen Pläne zur Errichtung eines Denkmals für die am 18. März 1848 getöteten Barrikadenkämpfer." – So der Historiker Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann. Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Theodor W. Adorno: KULTUR UND VERWALTUNG. ERZIEHUNG NACH AUSCHWITZ. ZWEI VORTRÄGE

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Heutzutage werden in der Öffentlichkeit mit dem Namen Theodor W. Adorno (1903-1969) zumeist wohl seine umfangreichen philosophischen Arbeiten zur ÄSTHETISCHEN THEORIE und zur NEGATIVEN DIALEKTIK verbunden, gelegentlich auch Adornos aphoristische Sammlung MINIMA MORALIA und die mit Max Horkheimer verfaßten Aufsätze der DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG. Der Begriff der Autoritären Persönlichkeit geistert immerhin gelegentlich durch die Medien, auch Adornos Bedeutung in Zusammenhang mit der sogenannten Studentenbewegung um 1968. Inwieweit Adorno gelesen, verarbeitet wird, steht auf einem anderen Blatt.

Theodor W. Adornos tiefgründige Reflexion halte ich mehr denn je für unverzichtbar angesichts der erschreckenden und hilflos machenden globalen gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. In vielen Aspekten sind seine Überlegungen noch immer tiefgründiger und relevanter als Arbeiten, die sich an ihm abzuarbeiten meinen.

In diesen beiden Vorträgen bringt Adorno Zusammenhänge auf den Punkt, die grundlegend sind für seine Sozialphilosophie und zugleich präzise unsere Gegenwart betreffen: Mediale und administrative Macht- und Einflußzusammenhänge auf dem Hintergrund von Ökologie, Internet, neuem Nationalismus, Krieg. Keineswegs sind es "Nebenarbeiten". Nicht zuletzt können gerade diese eher alltäglich orientierten Überlegungen sensibilisieren für Adornos bis in winzige Momente hinein dialektisches Bewußtsein: jenseits aller Schwarz-Weiß-Dichotomie; genau dies brauchen wir heute, um uns in den Gespinsten der online-Gesellschaft auch nur ansatzweise zu orientieren, um nicht der Kakophonie interessengeleiteter (oder einfach engstirniger) medialer Rhetorik zu unterliegen.

Adorno, ein verschollener Autor? Das natürlich nicht. Aber ein zu wenig gelesener.

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Gudrun Tuulia: DIE ERDE IST EIN BEFREMDLICHER ORT. AFRIKA 1

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"Wie soll ich sanft sein, wenn rundherum Krieg ist. Sanftheit. Tiger. Pures Sein. Krieger. Schleicher. Unberechenbar. Skorpion. Man lebt allein, man stirbt allein. Vom Zehnmeterbrett in die Leere springen. Durchtauchen und ein goldener Schild aus Licht. Schützend, heilend. Darunter beginnt sich die Wunde zu schließen. Unter einer Pyramide aus Gold und Licht. Uralt. Mir scheint es ewig, dass ich von einer Welt zur anderen wandere, und das ganze ist wie ein einziger langer Tag. Von einem Leben zum nächsten. Nicht anders als die Schuhe zu wechseln. Die letzten paar hundert oder tausend Jahre als Beobachterin und Zeugin, eine Art Auslandskorrespondentin für das universelle Archiv." GUDRUN TUULIA

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Jeannette Lander: AUS MEINEM LEBEN

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Jeannette Lander (1931-2017) war Tochter eines in die USA ausgewanderten polnisch-jüdischen Ehepaars. Sie wuchs mit Englisch und Jiddisch als Muttersprachen auf. Ab 1934 lebte die Familie in einem vorwiegend von Afroamerikanern bewohnten Viertel von Atlanta (Georgia).
1960 übersiedelte Jeannette Lander nach BERLIN und studierte Anglistik und Germanistik an der Freien Universität. 1966 promovierte sie dort mit einer Arbeit über William Butler Yeats. Sie veröffentlichte von nun an als freie Schriftstellerin ausschließlich in deutscher Sprache.
Von 1984 bis 1985 hielt sie sich in Sri Lanka auf. Ab 1995 lebte Jeannette Lander im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg; ab 2007 war sie  im brandenburgischen Landkreis Havelland ansässig.

2017 erschien in Kooperation mit der Autorin eine Neuausgabe ihres ersten Romans (EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.) bei A+C online.

In den Jahren 2011-2014 arbeitete Jeannette Lander an Lebenserinnerungen, die jedoch nur in einem Privatdruck (ohne ISBN) veröffentlicht wurden. AUS MEINEM LEBEN erscheint hier erstmalig als Ausgabe mit ISBN, online und zum kostenfreien Download.

Für Jeannette Lander war Kreativität ganzheitlich und alltäglich, sie ließ sich ein auf Möglichkeiten, Phantasie und Wagnisse. Ihre Bereitschaft zu spontanen Entscheidungen führte zu einem von Umschwüngen und Wechselduschen geprägten Leben, das in ihren Erinnerungen deutlich wird.
Lander schreibt diese Erinnerungen al fresco: als hätte sich alles vor kürzester Zeit zugetragen, als säße sie neben uns und erzählte, wie es in ihr aufsteigt. Manche Einzelheiten wären an sich belanglos – hier aber tragen sie bei zur Färbung, zur Atmosphäre, zur mitmenschlichen Nähe, die sich einstellt bei Lesen. Aber auch Momente der Persönlichkeit, der Lebenshaltung Jeannette Landers lassen sich ahnen. Oft liegt der Sinn (die Botschaft) einer Anekdote ganz in Zwischentönen, die leicht überlesen werden können in ihrem locker-anekdotischen Erzählen. Noch beim mehrfachen Lesen zeigen sich in diesen redlichen, genauen, aber zugleich locker skizzierten Erinnerungen Momente, die zu Motiven ihres Werks geworden sind.

Die Unverblümtheit, mit der Jeannette Lander in diesen Erinnerungen, mit über 80 Jahren, von ihrem Lebensweg auch anhand deprimierender Alltagserfahrungen und persönlichster, ja intimer Empfindungen und angreifbarer eigener Verhaltensweisen berichtet, lese ich nicht zuletzt als Manifest ihrer letztlichen Befreiung aus dem Prokrustesbett der gesellschaftlichen Konventionen darüber, was "man" (d.h. vielmehr: "frau"!) zu tun hat, um anerkannt zu sein. – "Das Private ist politisch!" war ein Blickwinkel, der vor allem durch die Frauenbewegung ab 1970 profiliert wurde und zweifellos auch Jeannette Landers politische Bewußtheit bestimmte.

Ein Lebensthema Jeannette Landers ist das Bemühen, das von Verdrängung und Vorurteil geprägte Verhältnis von "Opferjuden" und "Täterdeutschen" zu durchdenken. Vorschnelles Zuordnen von Schuldigen und Unschuldigen verweigert sie auch bei partnerschaftlichen Konflikten oder im Hinblick auf die bürgerkriegsähnlichen Umstände auf Sri Lanka.
Eine "Ethik der Analogie" wird Landers Arbeiten in dem hier im Anhang dokumentierten Aufsatz der Germanistin Katja Schubert zugeschrieben: gewaltförmiges Denken und Verhalten gehört zu uns Menschen, ist nicht beschränkt auf einzelne Gruppen oder Personen. Davon sollten wir ausgehen, um die Arroganz der Macht vielleicht zunehmend als solche ethisch zu diskreditieren, jenseits der Ideologien, mit denen sie sich jeweils verbrämt. Die Chancen menschenwürdigeren Verhaltens innerhalb oder am Rande solcher Gewaltzusammenhänge sind jeweils zu gewichten, zu stärken.

Neben allem anderen vermitteln Landers Erinnerungen nachdrückliche Einblicke in das Funktionieren der "Kulturindustrie" nach 1945, in das anscheinend selbstverständliche Zusammenspiel von Autor*innen, Institutionen, Verlagen, Finanzierungsmöglichkeiten, Medien und Leser*/Käufer*innen.

Die Lebenserinnerungen werden ergänzt durch zwei tiefgründige Veröffentlichungen zu Jeannette Lander: ein Interview mit der Autorin (Marjanne Goozé/Martin Kagel 1999) sowie einen Aufsatz von Katja Schubert (2012). Daneben wird eine Rezension Landers zu Doris Lessings Romanzylus KINDER DER GEWALT (in EMMA 1984) dokumentiert.

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Anne Moody: ERWACHEN IN MISSISSIPPI

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Anne Moody (1940 – 2015) war das älteste von acht Kindern einer afro-amerikanischen Familie in Mississippi. Das Leben war bestimmt von materieller Not. Bereits als Kind begann sie, für weiße Familien in der Gegend zu arbeiten, ihre Häuser zu putzen und deren Kindern für wenig Geld bei den Hausaufgaben zu helfen. Später absolvierte sie ein akademisches Studium am Tougaloo College. Seit dieser Zeit engagierte Anne sich beim Congress of Racial Equality (CORE), der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und dem Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC). Sie nahm an einer Vielzahl von gewaltfreien Protestformen wie Märschen und Sitzstreiks teil. Als zentrale Aufgabe wurde darin gesehen, die Schwarze Bevölkerung zu motivieren, sich als Wähler*innen zur Wahl des Gouverneurs von Mississippi einschreiben zu lassen. (Freedom Summer, 1964) Dieses grundlegende demokratische Wahlrecht wurde kontinuierlich von Störmanövern, massiven Bedrohunen und bürokratischen Finessen hintertrieben. Es war den meisten Afro-Amerikaner*innen in den Südstaaten zu dieser Zeit kaum möglich, ihre begründete Angst vor der (gelegentlich auch tödlichen) Bedrohung durch die Weißen zu überwinden, um den Weg zur Wählerregistrierung zu wagen.

Anne Moody berichtet in ihrer hier erstmalig seit 50 Jahren auf Deutsch wiederveröffentlichten Autobiografie umfassend vom Kampf der Bürgerrechtsbewegungen, soweit sie daran beteiligt war.
Nach 1964 mußte sie sich wegen chronischer Erschöpfung (und auch Resignation) von der aktiven Arbeit in den Bewegungen zurückziehen. Sie zog nach New York. 1965-67 schrieb sie ihr hier vorliegendes Buch COMING OF AGE IN MISSISSIPPI.

Anne Moody steht für den Übergang zwischen dem gewaltlosen Engagement Martin Luther Kings und vieler anderer einerseits und dem in Erbitterung und Haß auch zu Gegengewalt übergehenden Kampf von Menschen wie Angela Davis, Assata Shakur (und anderen) bzw. den Black Panthers. Dennoch hatte Moody zunehmend Zweifel an einer einseitig an der Situation der Afro-Amerikaner* innen orientierten Bürgerrechtsbewegung. Sie sagte: "I realized that the universal fight for human rights, dignity, justice, equality and freedom is not and should not be just the fight of the American Negro or the Indians or the Chicanos. It’s the fight of every ethnic and racial minority, every suppressed and exploited person, everyone of the millions who daily suffer one or another of the indignities of the powerless and voiceless masses."
In den folgenden Jahren arbeitete Anne Moody an der privaten Cornell University Ithaka, NY., engagierte sich später auch in der Anti-Atomkraft-Bewegung und als Beraterin für das New York City Poverty Program.

Anne Moodys nuancierte und unmittelbar nachfühlbare Darstellung der vielfältigen Formen sozialer Kontrolle, Diskriminierung und Unterdrückung geht weit über das Thema Segregation und Rassismus gegen die Farbigen in den USA hinaus. Diese und ähnliche Mechanismen wurden und werden zu allen Zeiten und in jeder Gesellschaft, jedem sozialen Verbund angewandt, um Menschen dem Diktat der jeweils Stärkeren zu unterwerfen, sei es auch nur zu deren situativer Bequemlichkeit: in Schulen und Kindergärten, in Arbeitsstellen, Vereinen und politischen Parteien, in Wohnheimen, Krankenhäusern, in Familien und in der Nachbarschaft. Zeugnisse wie das hier vorliegende können dazu sensibilisieren, solche Mechanismen zu erkennen, sie nicht mitzutragen, können Mut machen, Widerstand gegen sie zu leisten.

Bei all den widerwärtigen Erfahrungen, die sie mit Weißen, gelegentlich aber auch mit Farbigen in Kindheit und Jugend machen mußte, blieb Anne Moodys Selbstbild das eines Menschen von eigenem Recht. Sie identifizierte sich weder mit dem Leid, das ihr angetan wurde, noch mit einer schematischen Frontstellung gegen die Weißen. Sie zeigt Menschen in ihren unvereinbar scheinenden Aspekten, legt sie nicht fest auf (moralisch bestimmte) Rollen, wie es oft geschieht in derlei Erinnerungen. Haß und Selbsthaß, Verletztsein und verletzen wird in ihrem Bericht deutlich in seinem unauflösbaren Zusammenhang. Ihre politische Autobiographie enthält eine Fülle von Einzelheiten zum Leben der Farbigen in den Südstaaten der USA in den 50er und 60er Jahren; wir lesen von Menschen, die zerrieben werden zwischen den Ideologemen, dem Haß, den Traditionen einer durch und durch zerstörten Gesellschaft, zerrieben oft auch von der Unmöglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Seelisch zerstört sind aber auch die Weißen in dieser rassistischen Gesellschaft. –

COMING OF AGE IN MISSISSIPPI erschien 1968, wurde von Anfang an hochgelobt und (in den Südstaaten) medial bekämpft, es wurde in etliche Sprachen übersetzt; in den Vereinigten Staaten ist es bis heute eines der bekannten Bücher zum Thema, bei (vor allem studentischen) Leser*innen wie in der Presse, in Fachveröffentlichungen und unter Bürgerrechtler*innen. – Der Kampf gegen die Segregation (in ihren "zeitgemäßen" Varianten) ist in den USA noch keineswegs beendet.

Auf Deutsch erschien das Buch 1970 (S. Fischer) sowie 1971 in der DDR (Verlag Neues Leben), jeweils in der Übersetzung von Annemarie Böll, mit Vorwort von Heinrich Böll. Eine Taschenbuchausgabe bei S. Fischer von 1972 sollte dann für 50 Jahre die letzte deutsche Ausgabe des Buches sein, – bis zu der hier vorliegenden kostenfreien online-Veröffentlichung (Text und Übersetzung weitestgehend nach der früheren Ausgabe) beim Verlagsprojekt Autonomie und Chaos.

Die Neuausgabe enthält als Anhang das Script eines Interviews, das Anne Moody 1985 gab; es handelt auch von ihrem Leben in den 10 Jahren seit Erscheinen ihrer politischen Autobiografie.

Hier direkt angehört und heruntergeladen werden kann die Audiodatei eines Interviews von 1969, aus Anlaß der Veröffentlichung ihres Buches:

Und hier ist das Buch:

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Hinweis: Zum Thema Segregation / Rassismus in den USA ist bei A+C wiederveröffentlicht worden der Roman Fremde Frucht ("Strange Fruit") von Lillian Smith, einer weißen Bürgerrechtlerin. Die Neuausgabe enthält einen umfassenden Anhang zum Thema.

Victor Kravchenko: ALS FUNKTIONÄR IM SOWJETISCHEN STALINISMUS

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("I Chose Freedom", 1946)

Victor A. Kravchenko wurde geboren am 11. Oktober 1905 in Jekaterinoslaw (heute Dnipro/Ukraine); er starb am 25. Februar 1966 in Manhattan. Er war ein sowjetischer Ingenieur und späterer Handelsdiplomat in Washington, D.C., der dort 1944 um politisches Asyl gebeten hatte. Sein 1946 veröffentlichtes Buch I CHOSE FREEDOM war das erste umfassende Zeugnis zur terroristischen Bürokratie des sowjetischen Stalinismus jener Zeit. Es erregte weltweites Aufsehen und wurde in viele Sprachen übersetzt.

Für Menschen in westlichen Ländern, die damals oft in gläubiger Unbedingtheit an ihrem Ideal einer fortschrittlich menschenwürdigen Sowjetgesellschaft hingen, bedeutete Kravchenkos Zeugnis Skandal und Tabubruch – wogegen eine Vielzahl auch prominenter Intellektueller und Künstler mit allen Mitteln der medialen Öffentlichkeit Einspruch erhob. In einer kommunistisch orientierten französischen Zeitung erschien ein diffamierender Artikel, in dem nicht nur die Aussagen des Kravchenkobuches insgesamt bestritten, sondern auch der Autor in jeder nur möglichen Weise persönlich diffamiert wurde. Deshalb verklagte Kravchenko die Zeitung wegen Verleumdung. In einem ebenfalls aufsehenerregenden Prozeß (1949) wurde monatelang gestritten – nicht eigentlich um ein Buch oder Kravchenkos Persönlichkeit, sondern um die Situation im sowjetischen Staat!
Victor Kavchenkos Zeugnis in Verbindung mit dem von ihm angestrengten Prozeß (den er gewann) lenkte erstmals die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die menschenverachtenden, die mörderischen Zustände in der stalinistischen Sowjetunion.

Auf Grundlage des Prozesses konzipierte Kravchenko sein zweites buch: I CHOSE JUSTICE (New York 1950). Es bleibt wohl die gewichtigste Veröffentlichung zum Prozeß und ist zugleich eine bedeutende Ergänzung zum ersten Buch.
I CHOSE JUSTICE stellt den Pariser Prozeß, Kravchenkos Recherchearbeiten im Vorfeld und den grundsätzlichen Ablauf übersichtlich dar. Jedoch liegt der Schwerpunkt in Kravchenkos zweitem Buch deutlich auf den Zeugnissen der überlebenden Stalinismus-Opfer (sei es im Zusammenhang mit der Zwangskollektivierung oder der Verschleppung in Zwangsarbeitslager). Hier stand Gerechtigkeit für die schuldlosen Opfer dieses Regimes im Mittelpunkt – die vielleicht allenfalls durch das öffentliche Zeugnis, das Urteil der Geschichte möglich ist! Hier konnten Menschen einfach von dem Leid berichten, dem sie ausgesetzt waren und das sie vielleicht für den Rest des Lebens begleiten sollte – ohne kritische Befragungen und diskriminierende Zweifel. (Der Anhang der vorliegenden Veröffentlichung enthält eine kurzgefaßte Übersicht der ausführlicheren Zeugenaussagen sowie Namen vieler Opfer, die in jenem Buch genannt wurden.)

Spätestens nach dem russischen Überfall auf die Ukraine läßt sich die Frage nicht verdrängen, inwieweit es innere Verwandtschaften geben könnte zwischen dem sowjetischen Stalinismus (auch der Zeit nach Stalin) und dem von Wladimir Putin bestimmten aktuellen politischen System in Rußland. Ich meine, wir (im Westen) sollten uns bemühen, mehr zu verstehen von unserem Nachbarn Rußland, von der Entwicklung der russischen Gesellschaft, vom Lebensgefühl und Lebenssituation auch der dörflichen und kleinstädtischen Bevölkerung dieses größten Flächenstaates der Welt, um von daher den an der Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft in Rußland Interessierten solidarisch die Hand reichen zu können.

Victor Kravchenko lebte in den 50er Jahren meistens in Südamerika, wo er einen Großteil seines (durch die unzähligen Auflagen seines ersten Buches verdienten) Vermögens nutzte, um Silber- und Kupferminen zu finanzieren. Auch Projekte zur Organisation der armen Bauern in Genossenschaften scheint er dort unterstützt zu haben. Angeblich hatte er zunächst beträchtlichen Erfolg als Prospektor und Bergwerksunternehmer. Zeitweise hielt er sich in New York und auf der Ranch seiner Gefährtin Cynthia Earle in Arizona auf, bei seinen Söhnen Anthony und Andrew. Die Unternehmungen in Südamerika waren auf lange Sicht erfolglos, Kravchenko scheint deshalb viel Geld verloren zu haben.
In dieser Zeit erreichten ihn Gerüchte, daß seine Verwandten in den Lagern umgekommen seien.
Kravchenko hatte offenbar auf das mit Chruschtschow verbundene "Tauwetter" in der Sowjetunion gehofft. Dessen Sturz (1964) deprimierte ihn tief.
Am 25. Februar 1966 wurde Kravchenko mit einer Schußwunde in seiner Wohnung in Manhattan gefunden.

Kravchenkos Buch I CHOSE FREEDOM erschien auf Deutsch 1947 in Zürich, zwei Jahre später kam eine Ausgabe in Hamburg heraus, dann war Schweigen in der ja keineswegs kommunistenfreundlichen jungen BRD. Auf dem Hintergrund der kollektiv verdrängten NS-Vergangenheit tat sich die westdeutsche Öffentlichkeit möglicherweise besonders schwer damit, über eine menschenverachtende, terroristische Diktatur nuancierter nachzudenken.
Die hier vorliegende Ausgabe beim Verlag Autonomie und Chaos (2023) ist die einzige deutschsprachige Wiederveröffentlichung des Buches. (Demgegenüber gibt es zwei englische und eine französische Wiederveröffentlichungen.)

Der Anhang der vorliegenden Veröffentlichung enthält neben einer ausführlichen inhaltlichen Übersicht zu Kravchenkos zweitem Buch  einen Aufsatz des Historikers Sebastian Voigt (zur Bedeutung des Kravchenkoprozesses für die Dissidentin und GULAG- wie KZ-Überlebende Margarete Buber-Neumann), Exzerpte aus Veröffentlichungen von Swetlana Alexijewitsch (zur Situation im nach-sowjetischen Rußland) sowie von Arthur Koestler (einem seinerzeit prominenten Dissidenten). Von einer russischen Website stammt Alex Klevitskys Bericht zu Victor Kravchenkos nachgelassenem Archiv. Die Literaturliste enthält vor allem Hinweise zu autobiographischen und belletristischen Werken russischer und sowjetischer Autor*innen; auch auf Dokumentationen zu Kravchenkos Prozeß sowie andere Arbeiten zum Thema Stalinismus wird im Anhang hingewiesen. Die Neuveröffentlichung enthält außerdem Fotos aus dem Prozeß sowie ein Nachwort des Herausgebers (MvL), in dem mögliche Kontinuitäten der russischen Gesellschaft (von der Zarenzeit bis zum Putin-Regime) zur Diskussion gestellt werden.

Zum Thema "Stalinismus" siehe auch das bei A+C wiederveröffentlichte Buch von Moshe Zalcman: Als jüdischer Arbeiter in Polen und im stalinistischen GULAG.

!- Grundlegender Widerspruch der "Söldnergruppe Wagner" zu den taktischen Begründungen des Putin-Regimes für den Krieg gegen die Ukraine! (23./24.6.23) ! - Der Anführer der Gruppe (Jewgeni Prigoschin) kam bei einem ungeklärten Frlugzeugabsturz ums Leben (August 2023).

! - Der oppositionelle Politiker Alexei Anatoljewitsch Nawalny ist seit 2021 inhaftiert und muß eine mehrjährige Gefängnisstrafe absitzen. Im August 2023 wurde ein weiteres Urteil gegen Nawalny bekannt gegeben und die Zeit im Straflager auf 19 Jahre Haft erhöht. - !  Kam im Februar 2024 im Gefängnis ums Leben.

 

 

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Michael Brink: REVOLUTIO HUMANA

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'Revolutio humana',michael brinks 1946 erschienenes vermächtnis, ist kein buch nur für christen. Es meint menschheitliche bindung an die schöpfung und korrespondiert in mancher hinsicht mit gedanken martin bubers und dietrich bonhoeffers, mit nikolai berdjajew und meister eckhart. Auf dem hintergrund der unfaßlichen nazibarbarei reflektiert michael brink zwischen verzweiflung und hoffnung über die wahrheit katholischer, christlicher spiritualität – in der reinheit, schlüssigkeit und radikalität eines künders (propheten) und kämpfers – gerichtet an eine zukünftige gesellschaft: für uns.

Im august 1947 stirbt der katholische denker und widerstandskämpfer michael brink. – Wer in deutschland hätte ein buch wie 'Revolutio humana'lesen wollen in den folgenden jahren? Alltagsnot und wiederaufbau standen im vordergrund, traumatisches nichtbegreifen, leugnen und vertuschen, besatzungsmächte und Kalter Krieg.
Fünfzig jahre später sind auch in deutschland viele menschen wieder auf der suche nach religio, spiritueller verbundenheit mit dem sinn der welt. Zunehmend wird anerkannt, daß wir alle dabei unseren eigenen weg finden müssen. Michael brink geht es um "Religion verstanden als Verwirklichung und dauernde Instandsetzung der Bindung vom konkreten einzelnen Menschen zum konkreten persönlichen Gott." Auch christen sind wir nicht, weil wir als kind getauft wurden oder weil wir CDU/CSU wählen. – Jetzt könnte brinks flaschenpost von "Armut, Ganzheit und Freiheit" endlich entdeckt werden als moment der vielfältigen gegenbewegung zur progressiven entfremdung und verdinglichung, zum "Prozeß einer allgemeinen Entmenschlichung".

Michael brink verweist deutlich auf die weiterhin bestehende "Verheißung des Alten Bundes"(zwischen YHWH und israel). Sie impliziert nicht zuletzt die forderung, die gesetze gottes innerhalb der sozialen gemeinschaft zu verwirklichen. Von daher hat der jüdische glaube einen genuin politischen (nicht jedoch machtpolitischen!) anspruch. Das widerspricht für ihn offenbar keineswegs dem zeugnis jesu christi von der bindung (religio) an ein jenseits: "Der Christ ist nicht Bürger dieser Welt" – aber er "sieht vom Kreuz her die Zeichenhaftigkeit auch der größten Not."

Im letzten kapitel der 'Revolutio humana' geht es dem katholiken brink um eine "Vollendung der Reformation", wobei er kritisch anknüpft an den"lutherischen Aufruhr". Er nimmt in diesem zusammenhang nicht nur intentionen der heutigen ökumenischen bewegung vorweg, seine gedanken korrelieren auch eng mit martin bubers dialogischem verständnis und romano guardinis personaler pädagogik.

Emil piepke, der spätere autor michael brink, ist mir wichtig und herzensnah in seiner kämpferischen tiefgründigkeit, seiner der menschenwelt zugewandten christlichen religiosität; wie gerne hätte ich mich mit ihm austauschen wollen! – selbst wenn ich auch durch ihn kein christ geworden bin.

(Mondrian v. lüttichau, aus dem nachwort)

Auch michael brinks 1942 erschienenes (und umgehend verbotenes) buch "Don Quichotte. Bild und Wirklichkeit" wurde bei A+C wiederveröffentlicht.

Siehe auch mondrian v. lüttichau: ''Armut, Ganzheit, Freiheit - Mensch werden nach Auschwitz? Michael Brink (1914-1947)'', in friedhelm köhler, friederike migneco, benedikt maria trappen (hg): ''Freiheit Bewusstheit Verantwortlichkeit: Festschrift für Volker Zotz zum 60. Geburtstag'' (münchen 2016, S.311-334)

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Anne de Tourville: JABADAO

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Anne-Marie Jeanne Nouël de Tourville de Buzonnière, die sich Anne de Tourville nannte, wurde geboren am 26. August 1910 in Bais, Ille-et-Vilaine (Bretagne). Sie starb in Vitré, Ille-et-Vilaine am 24. September 2004.
Anne de Tourvilles Geschichte rund um den alten bretonischen Tanz Jabadao liest sich wie die Nacherzählung einer bretonisch-keltischen Legende. Es geht um das ewig menschheitliche Thema: ein Junge und ein Mädchen lieben einander, jedoch sollen sie nicht zusammen kommen, weil sie verschiedenen Schichten und Dörfern angehören. Während wir das Keimen dieser Liebe, ihr Blühen, die bösartigen Gefahren und das glückliche Ende im allerletzten Augenblick verfolgen, werden wir an der Hand genommen und hineingeführt in die halb mythische, halb historische Welt bretonischer Sagen, Symbole und Zeremonien, Kleider und Speisen, Geheimnisse, Tiere und Pflanzen, Gerätschaften, Arbeitsroutinen, Namen, Überzeugungen und Traditionen, zwischen Toten, Naturmächten und Zauberei, Ängsten und Leidenschaften. Eindrückliche Frauengestalten stehen im Mittelpunkt der Erzählung. Vermutlich konnte die Autorin, die ihr Leben lang in ihrer engeren Heimat Ille-et-Vilaine (dem östlichsten Département der Bretagne) blieb, hierfür auf die mündlichen Überlieferungen ihrer Umgebung zurückgreifen. – Aber was wird heute noch davon existieren (außer touristisch funktionalisierter Versatzstücke)?

Ihr Roman erschien in Frankreich 1951 (mit Neuauflagen 1957 und 1979), auf deutsch 1953. Er wurde auch ins Englische, Italienische, Holländische und Portugiesische übersetzt.
Diese einzige deutsche Neuausgabe wird eingeleitet durch einen Text von Seth A'Peara, der sich fast kontrapunktisch bezieht auf Jabadao und doch bei sich bleibt: in wieder anderen Welten.

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nina ranalter: AMORT

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Nina ranalter wurde 1940 in tübingen geboren, wo sie auch aufwuchs. Sie arbeitete als sozialarbeiterin in gefängnissen und einem resozialisierungsprojekt. Mit karola bloch (architektin und partnerin des philosophen ernst bloch) war sie befreundet , auch mit der dichterin friederike mayröcker.
Der gedichtzyklus AMORT (1989) ist nina ranalters einzige selbständige veröffentlichung.

Am ehesten läßt sich AMORT als ein in episoden gegliedertes prosagedicht verstehen: epitaph für einen verlorengegangenen liebsten. (Daneben ist der zyklus wohl eins der schönsten parisgedichte deutscher sprache.) Von irgendwoher wird die (behauptete? mögliche? bezweifelte? irreale?) lebendigkeit einer frau berichtet. Sich selber fremd geworden – irrt diese frau (im november? im märz?) durch paris, in ihrer wortgewaltigen, schweigenden, verständnislosen, herzzerreißenden klage um den geliebten. Er, der aus prag zu stammen scheint (und mit ihr zusammen in paris westliche lebensverhältnisse kennenlernte), geistert durch ihre schattenhaften erinnerungen. Sie lotet aus, was sie in sich zu finden meint von dieser liebe, läßt das verlorene nid d'amour (liebesnest) in den straßen zurück und auf dem friedhof père lachaise, treibt vorüber an spuren der pariser geschichte, um sich an ihnen festzuhalten, gleitet von allem ab; – manchmal wörter aus der fremde: "was gefühlt fühle über sich hinaus ohne gegenrichtung" – aber vielleicht macht jedes erinnern reale erfahrungen zu etwas irrealem?

In diese neuveröffentlichung wurden weitere texte ranalters aufgenommen. Außerden enthält sie beiträge von sara päthe: fotografien und einen text. Beides versteht sich als spiegelungen oder imaginärer dialog mit dieser verloren gegangenen frau.

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Moshe Zalcman: ALS JÜDISCHER ARBEITER IN POLEN UND IM STALINISTISCHEN GULAG

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Jüdischkeit in Europa – damit verbinden sich uns meist Lebensberichte, Zeugnisse und Erzählungen mehr oder weniger "assimilierter" Juden und Jüdinnen in Westeuropa. "Ostjuden" tauchen eher als undifferenzierte Kategorie mit für uns seltsamem Habitus auf. Bis heute sehr verbreitet sind die Stereotypien des Händlers und des traditionell religiösen Juden, schwarzgekleidet, mit Kippa und Stirnlocken. Moshe Zalcmans Bericht zeigt uns eine völlig andere Welt osteuropäischer Jüdischkeit!

Das Buch verbindet Zalcmans mitreißend erzählte Lebensgeschichte zunächst mit einer unglaublichen Fülle an Informationen zur Situation der jüdischen Bevölkerung in Polen vor 1933. Ein roter Faden des gesamten Buches sind detaillierte Hinweise auf Aktivist*innen der damaligen jüdischen Arbeiterbewegung in Polen und Sowjetrußland. Zalcman erinnert an unzählige jüdische Opfer der stalinistischen Terrors, nennt ihre Namen, skizziert ihr Leben und ihr Leid. Sein Buch ist ein wichtiges und zumindest deutschsprachig durch nichts zu ersetzendes Zeugnis zu diesem sonst wohl wenig beachteten Kapitel in der Geschichte des europäischen, speziell osteuropäischen Judentums, das trotz seiner Orientierung an den religiösen Formen integriert war ins soziale Leben der nichtjüdischen Umgebung (wobei Zalcman hier vorrangig von seiner Heimatstadt Zamość berichtet), in verschiedensten Berufen und eben auch im politischen Engagement. Eine Kehrseite ist jedoch der in Polen und Rußland damals immer wieder aufflammende Antisemitismus, manchmal geschürt aus politischen Gründen, immer mit bösen, tödlichen Folgen.

Nicht weniger detailgenau und zugleich ergreifend nachfühlbar erzählt geht es im zweiten Teil um Zalcmans Schicksal ab 1933, in Sowjetrußland, wo er mitarbeiten wollte am Aufbau einer menschenwürdigen "neuen" Gesellschaft. Dieses Engagement führte für Zalcman in Stalins paranoidem Staatssystem zu Verhaftung, Gefangenschaft, Folterung, Zwangsarbeit (1937-47) und Verbannung (1948-56).

Zalman berichtet von ökonomischen und alltäglichen Lebensumständen der Bevölkerung in Rußland, in Sibirien und (für die Zeit nach 1948) in Georgien. Wir erfahren nuancierte (auch strukturelle, sozialpsychologische) Einzelheiten zu Leid, Tod und zum Überleben unter menschenunwürdigen, von bürokratischer Indolenz, Machtmißbrauch, menschlicher Abstumpfung und Sadismus geprägten Umständen. Zalcman berichtet von entsetzlichen, kaum glaublichen bürokratisch-terroristischen Gewalttaten gegen einzelne Menschen. Insbesondere in Zalcmans Bericht aus seiner Zeit in Georgien (1948-56) wird sinnlich nachvollziehbar, wie der Alltag einer durch Korruption, Seilschaften, Bürokratenwillkür, Staatskapitalismus und organisiertes Banditentum der Funktionäre verkrebsten Gesellschaft abläuft.

Moshe Zalman (geboren 1909) hat seinen Lebensbericht auf Jiddisch geschrieben; im Jahr 1977 wurde er in französischer Übersetzung veröffentlicht. Eine deutsche Ausgabe erschien 1982 im Verlag Darmstädter Blätter. Während der Autor und sein Bericht in Frankreich bis heute medial präsent ist, wurde das Buch in der Bundesrepublik offenbar kaum zur Kenntnis genommen. Hier erscheint es in seiner ersten Neuausgabe.

Zum Thema Stalinismus siehe auch das bei A+C wiederveröffentlichte Buch von Victor A. Kravchenko: Als Funktionär im sowjetischen Stalinismus.

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Jeannette Lander: EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.

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Georgia, USA, 1944/45. – Jeannette Landers erster Roman bewahrt Momente einer Lebenswelt, die bald darauf verlorenging im zunehmend aggressiven Kampf der farbigen Amerikaner um ihre Bürgerrechte und gegen die traditionelle, strukturelle Gewalt der Weißen. Das Buch handelt von einer wohl seltenen lokalen Konstellation in den Südstaaten der USA, in der Fremdenfeindlichkeit, Rassismus sich aufzulösen schien, in der eine Heilung der babylonische Sprachzersplitterung vorstellbar schien. Aber es war nur eine dünne, wenig tragfähige Schicht Humanität über der Gewalt, dem Rassenhaß, der vorteilsbedachten gegenseitigen Ausgrenzung – auf seiten der Weißen wie der Schwarzen.

Erzählt wird durchgängig aus dem kognitiven und affektiven Blickwinkel der vierzehnjährigen Itke. Die drei Lebenskreise ihrer Kindheit, "der jiddischamerikanische, der schwarzafrikanische und der weißprotestantische", nicht zuletzt die Sprachwelten verdichten sich zu vielfältig-schamanischen Bedeutungszusammenhängen, einer Alchimie der Erfahrungen. Zwei Schwerpunkte hat diese Kindheit (im wesentlichen zweifellos diejenige der Autorin): die Sehnsucht all dieser Menschen nach einem einfachen Leben miteinander, nach Frieden und mitmenschlicher Wärme, – und andererseits die Auswirkungen einer Welt der Jim Crow-Gesetze, der Rassentrennung: Mißachtung, Gewalt, Mißtrauen, Demütigung, Resignation, hilfloses situatives Aufbegehren. Daneben die informellen Hierarchien: zwischen helleren und dunkleren Farbigen, besser und schlechter Ausgebildeten; es gibt die Verordnungen einer indolent-menschenverachtenden Bürokratie, dann das lokale Establishment der Weißen, davon abgegrenzt die armen Weißen, und nochmal darunter die Juden (also auch Itkes Elternhaus), mit denen zumindest bestimmte angloamerikanische Weiße sich nicht abgeben mögen. Doch auch zwischen Diaspora-Juden und in Amerika geborenen bestehen hierarchische Abgrenzungen. Dazu kommen Warenbeschränkungen und andere Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs. Es gibt rituelle jüdische Vorschriften, die jedoch nur sehr flexibel eingehalten werden. Und das geschäftsbedingte Taktieren beim Vater, dem "karitativen Kaufmann" mit seiner "brüchigen Humanität". Dann das ganz Fremde der Farbigen: die gnadenlose Armseligkeit vieler, die Ekstase ihrer Gottesdienste, ihrer Tänze, Hoodoo Rituale. Hilflose Wut flackert auf zwischen einzelnen Menschen. Ahnungen von politischer, struktureller, traditioneller – ungreifbarer – Ungerechtigkeit und Gewalt. Und Sex – für manche AfroamerikanerInnen einzige Möglichkeit, selbstbestimmte Lebendigkeit zu entfalten; wodurch sie Weiße faszinieren und ihnen gelegentlich zum Vorbild werden. Basso continuo zu alldem ist die archaische, grell-heiße, üppige Natur des Südens.

In der Sprache dieses Romans kobolzt die kindliche Freude, Varianten, Assoziationen, Alliterationen und Neologismen auszuprobieren. Regeln zu Syntax, Zeitenfolge und Zeichensetzung haben nur periphere Bedeutung. Darin liegt die für Itke (das Kind) zweifellos vor allem kreative sprachliche Vielstimmigkeit, das teils regelhafte, teils spontan-zufällige soziale Durcheinander ihrer heimatlichen Szenerie: es sind Sprachbilder, nicht zuletzt Sprachwelten. Manche Szenen erinnern (mich) an James Joyce, an surrealistische oder dadaistische Kurzfilme, in anderen zerreißt jedes soziale Miteinander, brutal zeigt sich die Realität menschlicher Entfremdung und läßt uns hilflos am Rand des Textes zurück. Itkes polnisch-jiddische Eltern läßt die Autorin jiddisch reden – auch mit den afroamerikanischen KundInnen, deren Slang verblüffend authentisch ins Deutsche übertragen wurde.

Ein Sommer in der Woche der Itke K. erschien 1971 bzw. 1974. Diese erste Neuausgabe entstand in Kooperation mit der Autorin. Bestandteil der Wiederveröffentlichung ist die Audio-Datei ihrer Lesung aus dem Buch (siehe hier unterhalb).

2023 erschienen bei A+C als Erstausgabe Jeannette Landers Erinnerungen: "Aus meinem Leben" - Hier !

Jeannette Lander starb am 20. Juni 2017.

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Jeannette Lander • Lesung aus
EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.

Paavo Rintala: DIE MENSCHEN, DIE STADT UND DER HUNGER

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Während des Zweiten Weltkrieges wurde die sowjetische Stadt Leningrad (nach 1990 wieder: Sankt Petersburg) 871 Tage lang von deutschen Truppen belagert. In der Zeit der Belagerung vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, in der die Wehrmacht auf Befehl Hitlers keine Eroberung Leningrads versuchte, sondern stattdessen die Stadt systematisch von jeglicher Versorgung abschnitt, starben über eine Million Zivilisten. Eine geheime Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 23. September 1941 lautete: "Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse am Fortbestand dieser Großsiedlung."

Die erste Dokumentation zur Blockade Leningrads, in der das Augenmerk vorrangig auf dem Leid der hungernden Bevölkerung liegt, ist dieses 1968 in Finnland erschienene Buch des finnischen Schriftstellers Paavo Rintala. Es wurde 1970 VEB Hinstorff Verlag Rostock (DDR) auf Deutsch veröffentlicht, eine zweite Auflage erschien 1985. Die Neuausgabe 2022 bei A+C ist die einzige deutsche Wiederveröffentlichung.

Durch das ständige Wechseln der Perspektive (übergangsloses Springen zu verschiedenen Leningrader Bürger*innen, gefolgt von überblickshaften Sequenzen) sowie das Überblenden der Ebenen (Zeit der Blockade, Gespräche mit Überlebenden, Fragen der kleinen Tochter und dazwischen die Kommentare des Autors) erleichtert Rintala die identifizierende, mitfühlende Präsenz seiner Leser*innen: immer geht es um ALLES: den Krieg, die Nazis, die Leningrader Bevölkerung, die einzelnen Bürger*innen in ihrem individuellen Schicksal, um das Damals und das Heute und die Zukunft menschenwürdigen Lebens. Wohl unverkennbar ist der Einfluß von Brechts epischem Theater.
Implizit bedeutet das 1968 erschienene Buch für den Autor (1930-1999) zweifellos auch eine weitere Aufarbeitung der persönlichen Geschichte als junger Angehöriger eines Volkes, das, wie er schreibt, "die ersten faschistischen Mörder" hervorbrachte, nämlich die wohlhabenden Finnlandschweden während der Zeit des finnischen Bürgerkriegs.

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Paul la Cour (1902-1956): FRAGMENTE EINES TAGEBUCHS

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Der Verleger und Schriftsteller Michael Krüger schrieb in einem Essay zu dänischer Literatur:
"Am Anfang der deutschen Wahrnehmung der dänischen Poesie der Nachkriegszeit steht ein Buch, das in seiner Schönheit, Klarheit und Tiefe bis heute lesenswert geblieben ist – oder anders gesagt: gibt es eine vehemente, beflügelte und beflügelnde dänische Verteidigungsschrift der Poesie, die, wenn es noch mit richtigen Dingen zuginge (…), von allen gelesen werden sollte, denen die Zukunft vielleicht nicht mehr der Poesie, aber doch des Poetischen von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung zu sein scheint. (…) Wenn man über die großen poetologischen Versuche von Dichtern in der Nachkriegszeit redet, dann sollte neben Namen wie Auden, Octavio Paz oder Joseph Brodsky auch der Name des Dänen Paul la Cour stehen."


FRAGMENTER AF EN DAGBOG erschien in Dänemark im Jahr 1946, die deutsche Übersetzung kam 1953. In Dänemark erschienen 1993 und 2020 Neuausgaben;  die Ausgabe bei A+C ist die erste deutsche Wiederveröffentlichung. Sie wurde ergänzt durch einige Gedichte Paul la Cours im dänischen Original mit deutscher Übertragung von Ase Hera Tåp. Eine Impression von ihr leitet den Band ein.
In einem Anhang hinzugefügt wurden Texte zu Paul la Cours Leben und Werk sowie zur Geschichte dieser ursprünglich französischen Familie. Aufgenommen werden konnte auch ein englischer Aufsatz des Skandinavisten Gherardo Giannarelli: "Paul la Cour as a translator".

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Günter Steffens: DIE ANNÄHERUNG AN DAS GLÜCK

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Erst 1965 publizierte Günter Steffens (1922–1985) einen kleinen Roman unter dem Titel DER PLATZ. Danach war es lange Zeit wieder still um ihn, bis 1976 ein zweites Buch herauskam, der hier erstmalig wiederveröffentlichte autobiographische Roman DIE ANNÄHERUNG AN DAS GLÜCK. Äußerer Anlaß des Buches war das unaufhaltsame Sterben seiner an Krebs erkrankten Frau. Nach ihrem Tod versinkt Leo, der Protagonist, in eine depressive Selbstzerstörung, die zur einzig möglichen Selbstbewahrung wird. Es gibt keinen Trost in sozialer Bestätigung, gar Geborgenheit; Momente von Bewältigung liegen allenfalls noch im sprachlichen Dingfestmachen des Weiterlebens. Aber es gibt kein Gegenüber für diese Erfahrungen.
Der maßlose, ausschweifende, chaotische, zärtliche, hilflose, egozentrisch-narzißtische Bewußtseinsstrom trägt seinen Sinn in sich; kein Satz ist überflüssig – oder jeder Satz könnte es sein: das rhizomatische Prinzip, - ein gewalttätiges Wurzelgeflecht des Lebens; nur so war dem Autor weiterleben noch möglich. Am Ende steht der Impuls, diese drei Jahre nach dem Tod von B zu dokumentieren. – Primum vivere, deinde scribere? Die Aporie des kreativen Menschen ist wohl das innerste Thema dieses Nicht-Romans.
Die Schublade Regression drängt sich auf, ja – aber wie Leo (der Autor?) diesen Sog der Regression (dem möglicherweise eine traumatische Sozialisation vorausging – manches deutet darauf hin) gedanklich und sprachlich formt, legitimiert die regressive Haltung als Lebensbewegung. Auch das kann Leben sein, auch so. Wieviel LEBEN ist in dieser Totenklage über ungelebtes Leben, für die B's Tod nur Anlaß war!
Das Buch läßt sich als bewußt-unbewußte Gegenbewegung zum Karzinom, dem Leben zerstörenden Lebensprozeß verstehen. Das ganze gelebte Leben wird hineingenommen in dieses Buch vom Sterben und vom Tod, wie in den mittelalterlichen Totentänzen. Der sogenannte soziale Abbau der Hauptperson, Leo (des Autors?) ist ein Ringen um Selbstachtung angesichts des schrittweisen Verlusts von Selbstachtung. Zugleich bildet Steffens' Text den Krebs selber ab – die unausweichliche Zerstörung des organischen, seelischen wie sozialen Gewebes. Hoffnungslos entfremdet waren die Beziehungen zwischen den erwachsenen Hauptpersonen seit jeher; erst jetzt wird es offensichtlich.
Sympathisch muß uns der Icherzähler nicht sein; wahrhaftig ist seine Selbstdarstellung zweifellos. Ein qualvoll ehrliches Buch ist das. Und es steht für uns alle, für die unvermeidliche Entfremdung des Menschen (aller Menschen) und der mitmenschlichen Beziehungen zumindest in unserer entwickelten Zivilisation. Für das mehr oder weniger hilflose Bemühen, im Schlamm der (Selbst-)Entfremung authentische, lebenswerte Empfindungen, Interpretationen und Entscheidungen zu erspüren. "Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, ist das ganz Normale, wie alles, was schrecklich ist."
(Aus dem Nachwort)

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Bettina v. Arnim / Rudolf Baier: ZEUGNISSE EINER ARBEITSBEZIEHUNG (1844-47)

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Bettina v. Arnim veranstaltete seit 1839 eine Gesamtausgabe der Werke ihres 1831 verstorbenen Ehemanns Achim v. Arnim und suchte hierfür einen Mitarbeiter, der ihr bei der Neubearbeitung der Volksliedersammlung DES KNABEN WUNDERHORN, die ebenfalls in diese Gesamtausgabe aufgenommen werden sollte, zur Hand ginge. Der damals 26jährige Student Rudolf Baier, dem diese wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der gefeierten, fast 59jährigen Bettina als ein unverdientes Glück und eine große Auszeichnung erscheinen mußte, stellte sich dafür gern zur Verfügung und so ist Baier zwei Jahre lang Bettinas Mitarbeiter an der Neufassung des WUNDERHORNS gewesen. Die Zusammenarbeit endete jedoch mit dem durch Bettine vollzogenen Abbruch der Beziehung.

Diese in der Bettine-Forschung bisher wohl allenfalls selektiv ausgewertete Dokumentation von Tagebuchaufzeichnungen Baiers sowie Briefen Bettine v. Arnims und ihm birgt aufgrund der sehr speziellen Beziehung und inhaltlichen Konstellation zwischen beiden eine Fülle von Hinweisen, die über andere Zeugnisse nicht zu finden sind.

Die Veröffentlichung durchbricht ein offenbar durchgängiges Tabu des Bettine zugewandten Publikums (damals wie heute): ihre krasse Egozentrik mit seinen unangenehmen sozialen Folgen zur Kenntnis zu nehmen, zu dokumentieren oder gar darüber nachzudenken. Die betreffenden Verhaltensweisen (von denen andere Zeitgenossen in umschreibenden Formulierungen, wie hinter vorgehaltener Hand, zu schreiben pflegten – falls sie sie aus ihren Erinnerungen nicht gänzlich herausließen) waren jedoch keine "Ausrutscher", sondern grundlegende Elemente ihrer Persönlichkeitsstruktur, sind – so meine Hypothese – Folge ihrer sozialen Einsamkeit und Isolation in und seit der Kindheit, der sehr gebrochenen und widersprüchlichen Entwicklung ihres Selbstwertgefühls. Diese Arbeitsbeziehung zwischen Bettine v. Arnim und Rudolf Baier zeigt deutlicher als jedes andere Zeugnis Bettines vitale Grenzen – und wie sie damit umging, wenn sie nicht ausweichen konnte in ihr gemäßere Formen der Kommunikation und der Aktivität.

Bettines Briefe an Rudolf Baier vermitteln beim aufmerksamen, nachvollziehenden und mitfühlenden Leser/der Leserin einen ansonsten in den letzten Lebensjahrzehnten nur in Momenten deutlichwerdenden Aspekt ihrer Persönlichkeit, eine Anmutung, die sich jedoch in ihren frühen Briefen häufig zeigt. Ich meine jene bereits angesprochene tiefgründige – und sprachlose! – Hilflosigkeit, die durch Eloquenz und verbale Überschwemmungen überspielt wird. Was in früheren Jahren noch geprägt war von der offensichtlichen Suche nach Möglichkeiten, ihr eigenes Leben zu verwirklichen in der mitmenschlichen Umwelt, hat jetzt (zumindest für mein Empfinden) etwas defensiv Beharrendes. Bettine bleibt bei sich, aber sie hat keine Kraft mehr, wirklich auf die Welt zuzugehen.

Durchgängig lese ich die hier vorliegenden Briefen bzw. Tagebuchaufzeichnungen als Zeugnisse für Bettines Bemühen, sich im durchaus angemessenen eigenen Interesse durchzusetzen in der von Warentausch und banal materiellen Interessen geprägten gesellschaftlichen Normalität. Diese Menschenwelt entsprach allerdings in keiner Weise Bettines Vorstellungen von menschlichem Miteinander! Daß sie selbst im Laufe dieser Lernprozesse situativ zu machttaktischen Verhaltensweisen griff (die teilweise ziemlich arrogant wirken), ist nachvollziehbar. –

Die vorliegende Dokumentation der Arbeitsbeziehung mit Rudolf Baier verstehe ich in mancher Hinsicht als Ergänzung der ebenfalls bei A+C veröffentlichten erweiterten Ausgabe einer Arbeit des Germanisten Werner Milch: DIE JUNGE BETTINE UND IHR SCHWERER WEG IN DIE MENSCHENWELT.

(aus der Einleitung)

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Kurt Münzer: DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN

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EIN ENTWICKLUNGSROMAN

DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN ist ein Buch über die Liebe… dieses ewige Menschheitsthema. Aber was ist "Liebe"? Es gibt in diesem Entwicklungsroman die Mutterliebe (als Liebe der Mutter wie der Liebe zur Mutter), die Liebe als Suche nach Bindung, Geborgenheit, sozialer Versorgung, die Liebe als Synonym für Sexualität, es gibt homosexuelle Liebe und Liebe als Sehnsucht, Traum und Utopie, als Moment von Selbsterfahrung bis hin zu (weiblicher) Emanzipation und poetischer Tiefe, es gibt die rigide Trennung zwischen "reiner Liebe" und "Kampf der Geschlechter" oder spirituell anmutende Inszenierungen und es gibt eine (mehr oder weniger ehrliche) kameradschaftliche Liebe in Erkenntnis der eigenen begrenzte Liebes- und Beziehungsfähigkeit. Die konventionell-ideologischen Geschlechtsrollen geistern durch die Begegnungen und Beziehungen – jedoch nicht als starre Stereotype, sondern amalgamiert mit individuellen Bedürfnissen und Lebenserfahrungen. – Kolportage (was Münzers Werk oft vorgeworfen wurde) ist eher die Flut heutiger Romane und Spielfilme, bei denen in immer neuen Varianten die immergleiche dichotomische Konzeption von (romantischer) "Liebe" versus "Sex" exerziert wird.

Nicht zuletzt stellt der Autor in diesem 1914 veröffentlichten Roman für seinen männlichen Protagonisten eine Form sozialen Leids dar, das üblicherweise einseitig Frauen zugeordnet wird: "Für sie [die Frauen] war er nichts als schön: Gegenstand ihrer Sehnsucht und Befriedigung. Seine Existenz bedeutete, daß man Forderungen an ihn stellte, und verpflichtete ihn, sie zu erfüllen. All das empfand Lucian wohl und empfand es als Schimpf, allen nur als Symbol von Mannesschönheit und Mannestum zu gelten." – Daß auch Männer darunter leiden können, ist – unter richtigen Männern – bis heute Tabuthema.

Kurt Münzers Texte erzählen meist von Menschen, die durch ihre individuellen seelischen Verwundungen hindurch ein ihnen selbst einigermaßen angemessenes Leben suchen, manchmal finden. Dabei werden auch seelische Verkrüppelungen, Einseitígkeiten, neurotische Verhärtungen zum Material dieser individuellen Lebensweisen. – So ist es auch in dem Märchen, der Parabel vom Ladenprinzen. Dies gilt nicht nur für den Protagonisten Lucian Flamm, sondern auch für die meisten anderen relevanten Figuren; daß dies alles Frauen sind, ist kaum Zufall. Auch bei ihnen (deren Lebensdynamik jeweils nur angedeutet wird) geht es um problematische Konstellationen, die für sie jedoch Wahrheit sind, in der ihr subjektiver Lebenssinn sich ausspricht. Solche ganz und gar subjektiven Wahrheiten stellt Kurt Münzer uns vor; darin liegt meines Erachtens das Kostbare vieler seiner Werke.

DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN (erschienen 1914) haben vermutlich viele Menschen nicht gemocht – weil sie die Handlung nicht verstehen (oder nur mißverstehen) konnten in seiner subtilen Darstellung seelischer Haltungen und Empfindungen, für die es zu jener Zeit noch keine Alltagssprache gab. Allenfalls tiefenpsychologisch orientiertes Problembewußtsein hätte hierfür Ansätze geboten; aber selbst die damalige Psychoanalyse verstand z.B. Homosexualität als krankheitswertige Störung. – Heutzutage, im Zeichen der Genderdiskussionen und nachdem "divers" zur amtlichen Kategorie geworden ist, dürften schrittweise neue Momente beziehungsmäßiger Realität Thema von Reflexion und künstlerischer Darstellung werden; und vielleicht wird einmal auch Kurt Münzer als einer der Vorläufer dieser Regenbogen-Menschlichkeit erkannt werden!

Lucian Flamms Interesse an (hetero-)sexuellen Kontakten scheint eher Moment gesellschaftlicher Sozialisation zu sein: um "seine Schuldigkeit als Mann zu tun"; woanders: "(…) nicht aus Lust am Ende, sondern um sich und anderen sein Mannestum zu beweisen." Diese Leistung vollzieht er in zunehmend virtuoser Weise, begünstigt durch seine leibliche "Schönheit", die ihm das Begehren der Frauen einträgt. Seine anhaltende Entfremdung (?) – Empfindungslosigkeit (?) –Blockiertheit (?) im Bereich der Sexualität wird zum Spiegel etlicher Varianten des Umgangs mit "Liebe"/Sexualität bei den jeweiligen Partnerinnen. – Jedoch steht im Mittelpunkt des Romans Lucian Flamms Leid an seiner eigenen Isolation vom Leben.

Diese siebte Kurt Münzer-Wiederveröffentlichung bei A+C enthält ein ausführliches biobibliographischen Nachwort: "Mutmaßungen über Kurt Münzer und Lucian Flamm".

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Heinz Brandt: EIN TRAUM, DER NICHT ENTFÜHRBAR IST

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Leben für einen humanen Sozialismus …Heinz Brandt (1909–1986) war kommunistischer Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. 1934 wurde er zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, 1940 in das KZ Sachsenhausen überstellt. Von dort wurde er 1942 ins KZ Auschwitz deportiert. Nach der Evakuierung des KZ im Januar 1945 wurde Brandt in das KZ Buchenwald verbracht und erlebte dort die Befreiung. Nach 1945 wurde er SED-Funktionär, ab 1952 als Sekretär der Berliner SED -Bezirksleitung für Agitation und Propaganda.
Im Zusammenhang mit dem Aufstand vom 17. Juni 1951 kam er in Konflikt mit der stalinistischen Machtclique um Walter Ulbricht. (Diese Erfahrungen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Buches.) 1958 floh Brandt in den Westen; 1961 wurde er während eines Kongresses in West Berlin in die DDR entführt, dort wurde er wegen "schwerer Spionage in Tateinheit mit staatsgefährdender Propaganda und Hetze im schweren Fall" zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt. Es folgten zwei Jahre Haft in der Sonderhaftanstalt Bautzen II. Eine weltweite Kampagne der IG Metall, von Linkssozialisten, Amnesty International und Bertrand Russell führte 1964 zu seiner Freilassung. Nach der Rückkehr in die Bundesrepublik stritt Brandt für einen humanen Sozialismus.

Die skandalöse, verbrecherische und spektakuläre Entführung Heinz Brandts durch Agenten des MfS war seinerzeit zweifellos der publikumswirksamste Aspekt des Buches; heute erkennen wir seinen Wert vorrangig in Brandts Insider-Zeugnissen zur frühen DDR-Geschichte. Aber auch die Erinnerungen an seine Kindheit in der jüdischen Familie (in Posen), vor und im ersten Weltkrieg, und als Kämpfer gegen die NS Diktatur (bereits lang vor 1933), die Gefangenschaft in den Zuchthäusern Luckau und Brandenburg sowie den KZ Sachsenhausen, Auschwitz und Buchenwald sowie zum politischen Antisemitismus in der Sowjetunion wie in der DDR, auch der beeindruckende Einblick in Machtkämpfe innerhalb der damaligen politischen Führung von Sowjetunion und DDR sowie Brandts Beteiligung an den Ereignissen um den 17. Juni 1953 gehören zu den bedeutenden Zeugnissen in diesem Buch. Brandts luzide Kritik der politischen Entwicklung Rußlands (vom Zarenreich über die Oktoberrevolution bis zum Stalinismus) zeigt sich heute, spätestens mit Wladimir Putins großrussischen Halluzinationen und seinem verbrecherischer Krieg gegen die Ukraine, als weiterhin relevant, wenn auch der Versuch einer Revolution von oben durch Michail Gorbatschow die gesellschaftlichen Ressourcen für eine menschengemäßere Entwicklung der russischen Gesellschaft deutlich gemacht hatte.

Die polit-strategischen und -taktischen Abläufe, die Heinz Brandt aus der Frühzeit der DDR nuanciert nachvollziehbar macht, gab es nicht nur dort und in der Sowjetunion: sie sind wesentlicher Aspekt des machttaktischen Normalität immer und überall, natürlich auch heutzutage. Deswegen können wir aus dieser Darstellung historischer Vorgänge lernen, können Sensibilität entwickeln für derartige machtorientierte Rhetorik: in den Verlautbarungen der heutigen Politiker, in den Medien, im Arbeitsleben und gelegentlich auch im privaten Alltag.

Dieser autobiographischer Bericht erschien ursprünglich 1967 im Paul List Verlag München, dann 1977 in Andreas Mytzes verlag europäische ideen. Die bisher letzte Buchhandelsausgabe erschien 1985 im Fischer Taschenbuch Verlag. Diese erweiterte Taschenbuchausgabe (1985) wird jetzt (2022) als online-Ausgabe (zum kostenfreien Download) neu herausgegeben. Dazugekommen sind Literaturempfehlungen des Herausgebers.

(Aus dem Nachwort 2022)

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Liane Tjane Michauck & Co: SCHRITTE INS LEBEN

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GEDICHTE AUS DREISSIG JAHREN 

Wir sind die familie Michauck - -
das heißt wir sind multipel und heutzutage leben fünf personen in einem körper.
Physische, psychische, sexuelle und rituelle gewalt haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind.
Inzwischen ist der körper 63 jahre alt und es gibt zwei erwachsene (liane und martina), zwei jugendliche (jane und krissy) und ein kind (taralenja).
Aber es war nicht immer so. Wir waren einige personen mehr, die inzwischen durch fusionen zusammen gefunden haben. Wir lebten jahrzehnte lang am rande des abgrundes. Suizidgedanken und verletzungsdruck begleiteten uns ständig.
Eine jahrelange traumatherapie stabilisierte uns nicht. Aber zumindest wurde nach einigen jahren Dissoziative Identitätsstruktur (DIS, "Multiple Persönlichkeit") diagnostiziert.
Trotzdem wurde und wird von uns erwartet, dass wir funktionieren.
Wir haben in unserem leben zwei studienabschlüsse gemacht, jahrelang gearbeitet, ein kind groß gezogen.
Später haben krankenhausaufenthalte, eine erneute traumatherapie sowie ein jahr außenwohngruppe uns sehr geholfen, uns zu stabilisieren. Seit 2020 müssen wir wegen unserer schwerwiegenden körperlichen erkrankungen in einem pflegeheim leben.

Jahrelang haben wir nach möglichkeiten gesucht, unsere vergangenheit aufzuarbeiten. Wir haben gemalt und gedichte geschrieben. Beides spiegelt alle unsere facetten wider, unsere verzweiflung, den lebensüberdruss, aber auch schönheit und lebensfreude.
Diese online-veröffentlichung enthält unsere allermeisten gedichte (und viele zeichnungen und gemälde). In manchen gedichten und bildern geht es um schreckliches – das uns geschehen ist, wie es noch unzähligen anderen menschen widerfährt, auch heutzutage, auch bei uns – vielleicht beim nachbarn!

Wir bitten alle leser*innen, auf sich aufzupassen und manche gedichte vielleicht zu überblättern.

Aber es geht auch um schönes, hoffnungsvolles, um liebevolle momente. Es ist unser leben.

jane & MARTINA & liane & krissy & taralenja

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Martin Puder: ADORNO - HORKHEIMER - BENJAMIN

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Die vor allem mit THEODOR W. ADORNO und MAX HORKHEIMER verbundene, seit 1937 im exil entstandene Kritische Theorie ist seit langem aus dem öffentlichen interesse verdrängt worden. Assoziiert wird sie heutzutage zumeist mit dem ambivalenten verhältnis zwischen adorno und der protestbewegung ab 1968 sowie mit ihrer angeblichen weiterentwicklung durch jürgen habermas und dessen philosophische schüler. Die Kritische Theorie (im sinne horkheimers und adornos) wurde jedoch weder unwahr noch irrelevant. Im gegenteil – die weltweiten gesellschaftlich-politischen entwicklungen der letzten fünfzig jahre bestätigen in erschreckender prägnanz ihre analysen, hypothesen und antizipationen.

Als einer von wenigen hatte der junge philosophieprofessor martin puder anfang der 70er jahre zurückverwiesen auf essentielle aspekte der Kritischen Theorie, die in dieser zeit aus dem philosophischen wie dem gesellschaftspolitischen diskurs jener zeit zunehmend abgedrängt wurden. Puders verstummen in der publizistischen öffentlichkeit seit den 80er jahren bedeutet zweifellos eine lebensentscheidung. "Heute zielt alles darauf, die objektive Verzweiflung, die Adornos Philosophie motiviert, zu verscheuchen", schrieb er in einem essay.

Martin puders hier erstmals zusammengetragene essays sind mitreißende, sternschnuppenhaft funkelnde einführungen in momente der Kritischen Theorie (mit schwerpunkt auf adornos werk) nicht für fachwissenschaftler mit zwei professoralen generationen sekundärliteratur im hinterkopf, sondern für menschen, die vorrangig ihre eigenen erfahrungen zur grundlage der reflexion über die menschenwelt machen. Puders arbeiten verstehe ich vorrangig als anknüpfungspunkte, die dazu beitragen könnten, von adorno zu lernen für unsere zeit. "Um zu sehen, wie aktuell Adorno ist, muß man nur die Zeitung aufschlagen", sagte christoph türcke in seinem referat auf der Berliner Adorno Tagung 1989. Oder heutzutage im internet surfen.

Wohl als erster hatte michail gorbatschow ab 1986 auf die unabwendbare notwendigkeit einer "weltinnenpolitik" hingewiesen. Die katastrophe von tschernobyl, die von brutalster gewalt bestimmten bürgerkriege auch hier in europa, das flugzeugattentat auf das WTC, genozid und flüchtlingsströme, die überall auf der welt eskalierende umweltzerstörung, aber auch fundamentale soziologische und sozialpsychologische veränderungen im zusammenhang mit der informationstechnologie, neuerdings die irrationale eskalation zwischen NATO und dem russischen machtzentrum.. – nichts davon sollte uns überraschen; diese prozesse lassen sich zumindest strukturell verstehen auf grundlage von sozialphilosophischen konzeptionen und hypothesen der Kritischen Theorie. Reflektiert wird jedoch über sie (zumindest in den medien) vorrangig auf der ebene politisch-taktischer erwägungen und reaktionsmöglichkeiten. Bei politischen handlungsträgern ist das nicht unbedingt anders.

Der autor martin puder wurde 1938 geboren. er studierte 1956 bis 1961 in berlin germanistik und altphilologie. Nach dem staatsexamen war er über ein jahr in indien, indochina und japan. 1963 kehrte er nach westdeutschland zurück und begann in frankfurt philosophie zu studieren. Die promotion (mit einer arbeit über kant) erhielt er bei theodor w. adorno und jürgen habermas. Puder war bis zu seiner emeritierung professor für philosophie an der Leibniz-Universität Hannover. Öffentliche wortmeldungen von ihm gibt es nur bis 1985; er starb im jahr 2000.

Einige von martin puders aufsätze waren für mich in den 70er jahren erste orientierungshife im umkreis der Kritischen Theorie. In ihrem unprätentiösen engagement sind sie weiterhin lesenswert und selbst noch relevant. Sie sollten bewahrt werden; auch deshalb diese veröffentlichung.

Mein nachwort skizziert den standort der Kritischen Theorie während der 68er-zeit und gibt hinweise auf aktuelle arbeiten zu ihren intentionen und ihrer relevanz für das 21. jahrhundert.

In der 2. auflage wurde ein text hinzugefügt, die 3., wesentlich erweiterte auflage im november 2016 (neuausgabe) enthält zusätzlich die erstveröffentlichung einer vollständigen vorlesung martin puders: WIRKUNG UND ERFOLG DER KRITISCHEN THEORIE (hannover, WS 84/SS 85) sowie zwei weitere kleine texte. Ein schwerpunkt der vorlesung ist die bedeutung WALTER BENJAMINs innerhalb der Kritischen Theorie.

Diese neuausgabe enthält einige zusätzliche abbildungen, auch das nachwort wurde erweitert.

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Paul Verlaine: BRIEFE GEDICHTE TEXTE

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Arthur Rimbaud bei Autonomie und Chaos, Teil V

Während der Arbeit an den Veröffentlichungen von und zu Arthur Rimbaud bedrängte mich immer wieder die Frage nach dem Dichter Paul Verlaine, mit dem Rimbaud in einem so verwirrenden Verhältnis gestanden hatte. – Schon 1870, noch in Charleville, hatte er Verlaines Gedichte für sich entdeckt, im September 1871 nahm er brieflich Kontakt zu ihm auf, schickte eigene Texte. Verlaine reagierte enthusiastisch, lud den zehn Jahre Jüngeren zu sich nach Paris ein. Offensichtlich fühlten sich beide voneinander im Innersten berührt und angesprochen. Eine leidenschaftliche Beziehung entstand. Aber grade in solcher Nähe und Unbedingtheit werden wir verwundbar, zeigen sich früher oder später Fremdheiten, die manchmal unüberwindbar sind. So war es auch hier. Während Rimbaud 1876 Europa floh, wurde Verlaine auf einem von Leid, Einsamkeit, Selbstzerstörung und später Religiosität bestimmten Weg zu einem anerkannten, ja berühmten Dichter eines Werkes, das weitab lag von der früheren literarischen Verbundenheit zwischen ihm und Rimbaud. Und obwohl Rimbaud nicht nur von seinem eigenen Werk, sondern auch von dem Freund nichts mehr wissen wollte, setzte sich Verlaine bis zum Lebensende publizistisch und persönlich ein für Rimbauds Werk. Ohne Verlaines spätere Popularität wäre es ihm kaum möglich gewesen, erfolgreich für Rimbauds Werk einzutreten. Und ohne Paul Verlaine wären Rimbauds Gedichte zweifellos zerstoben und für die Menschheit verloren. – Alles in allem eine seltsame lebenslange schicksalhafte Verbindung zwischen den beiden, über die wir nur staunen können!

Gerhart Haugs Buch Paul Verlaine. Die Geschichte des armen Lelian erschien 1944 in einem Schweizer Verlag. Es wird hier erstmalig wiederveröffentlicht – wesentlich erweitert um Gedichte, Texte, Abbildungen und Faksimiles und unter einem neuen Titel.

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Helga Kaschl: FRAUEN IN VIRGINIA WOOLFS HOGARTH PRESS

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Virginia Woolf (1882-1942), die bedeutende Schriftstellerin der Moderne, hat lebenslang protestiert gegen Marginalisierung kreativ arbeitender Frauen, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb ihres von den gesellschaftlichen Konvention vorgegebenen Lebens als Ehefrau und Mutter oft nicht einmal "ein Zimmer für sich" (A Room of One’s Own) hatten, um ungestört an literarischen, wissenschaftlichen, musikalischen oder bildnerischen Werken arbeiten zu können. Zusammen mit ihrem Mann Leonard Woolf gründete sie 1917 die HOGARTH PRESS, einen Verlag, in dem Werke weiblicher Autorinnen ein besonderes Gewicht hatten: Schriftstellerinnen, Dichterinnen, Wissenschafterinnen, Journalistinnen, Politikerinnen, Frauenrechtlerinnen / Feministinnen. Die in der HOGARTH PRESSE veröffentlichten Autorinnen gehören zur ersten Generation von Frauen, die sich in ihrem Schaffen nicht mehr vorrangig an männlicher Kreativität orientieren mußten.
Die österreichische Wissenschaftlerin Dr. Helga Kaschl stellt in ihrer bei A+C als Originalveröffentlichung erschienenen Arbeit 77 dieser Autorinnen in ausführlichen biobibliographischen Artikeln vor. Dabei werden jeweils alle wesentlichen Werke der Autorinnen genannt, also nicht nur die in der HOGARTH PRESS veröffentlichten. Ergänzt wird die umfangreiche Arbeit (448 Seiten) durch viele Abbildungen und einige kurze Hintergrundtexte. Helga Kaschls fachlich äußerst nuancierte Dokumentation ermöglicht uns einen speziellen Blick auf die Kreativität von Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Für A+C ist es eine Ehre, daß die Autorin ihre Arbeit bei uns veröffentlicht!

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Jacques Rivière: RIMBAUD. Ein Essai

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Arthur Rimbaud bei Autonomie und Chaos Berlin, Teil VII

Dieser umfangreiche und tiefgründige Essai des französischen Literaturkritikers Jacques Rivière (1886–1925) wurde vollständig erst 1930 veröffentlicht, fünf Jahre nach dem Tod des Autors. Die deutsche Übersetzung erschien 1968, dann nochmal im Jahr 1979. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der existentiell-spirituellen Dimension von Rimbauds Leben und Werk, eine Fragestellung, die in der Rezeptionsgeschichte weitgehend ausgegrenzt wurde, nachdem ihre frühen Vertreter*innen (Rimbauds Schwester Isabelle, deren Ehemann Paterne Berrichon sowie der katholische Schriftsteller und Diplomat Paul Claudel) in unangemessener und einseitiger Weise versucht hatten, Rimbaud zum christlichen Dichter zu verklären.

Rivières komplexe Stil- und Motivuntersuchungen (mit genauen Belegen in Rimbauds Werk), seine Überlegungen zum Verhältnis der ILLUMINATIONS zu UNE SAISON EN ENFER und sein Enthusiasmus machen diese tiefgründige, poetische und wagemutige Arbeit bis heute zu einem unersetzbaren Glücksfall der Rimbaudrezeption.

Die umfangreiche Einleitung des Romanisten Rolf Kloepfer (bereits in der deutschen Originalausgabe enthalten) erläutert Hintergründe und Zusammenhänge der Arbeit, das Nachwort zur Neuausgabe 2022 trägt ergänzende Überlegungen bei.

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Werner Milch: DIE JUNGE BETTINE UND IHR SCHWERER WEG IN DIE MENSCHENWELT

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Werner Milch (1903-1950) war Germanist und Literaturhistoriker. Nach 1933 wurde er im Zuge der NS-Rassengesetze aus seinen Ämtern entlassen. Er stand in Kontakt mit Bettines Enkelin Irene Forbes-Mosse und konnte den Arnim'schen Nachlaß auswerten. 1938 wurde Milch kurzzeitig im KZ Sachsenhausen gefangengehalten; im Juni 1939 emigrierte er in die Schweiz, von dort nach Großbritannien. Nach 1945 kehrte Milch nach Deutschland zurück, wurde 1949 an die Universität Marburg berufen. Das 1936/37 begonnene Buch "Die junge Bettine" blieb liegen, bis es zu spät war. Peter Küpper, akademischer Schüler Milchs und in dessen Beschäftigung mit Brentano/Arnim einbezogen, überarbeitete Jahre nach dem Tod des Autors das Manuskript; 1968 wurde das Buch bei Lothar Stiehm, einem jungen germanistisch orientierten Verlag, veröffentlicht.

Deutlich wird Milchs nuancierte Sensibilität für seelisch-psychologische, philosophische und spirituelle Momente. Seine hermeneutische Achtsamkeit, sein Bemühen, Bettines "innere Biographie" zu erkunden und darzustellen, tragen zum besonderen Wert seines Buches bei. Er sucht in Bettines schriftlichen Äußerungen durchgängig nach authentischen Bewußtseinsprozessen. Milchs Fokussierung auf die seelische wie auch die spirituelle innere Wahrheit der jungen Bettine stand am Beginn meiner an sein Buch anschließenden Überlegungen: "Bettines schwerer Weg in die Menschenwelt".

Bettines Werke einschließlich ihrer Briefe sind in allem Wesentlichen genuine Schöpfungen ihres Innern, Resultat einer lebenslang nach außen drängenden kreativen seelischen, poetischen, spirituellen Selbstentfaltung. Diese sie selbst in gewisser Weise wohl überfordernde Flut wollte sie auf unterschiedliche Weise in die sie umgebende soziale und gesellschaftliche Normalität integrieren – die ihr jedoch zeitlebens fremd blieb (wie sie oft bekundete).

Bettine ist es wert, in ihrer menschheitlichen Eigen-Art neu entdeckt zu werden. Auch deshalb war es mir wichtig, daß in dieser Veröffentlichung nicht nur über sie geredet wird, sondern sie selbst ausführlicher zu Wort kommt: in längeren Auszügen aus Briefen und Werken sowie einigen zeitgenössischen Zeugnissen.

Eine Fortführung dieses biografisch-psychologischen Blickwinkels bildet die ebenfalls bei A+C als erweiterte Neuausgabe erschienene Dokumentation der Arbeitsbeziehung zwischen Bettine v. Arnim und Rudolf Baier (in den Jahren 1844/45).

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HEIDI SCHMIDT: das wahrnehmen der schwingungen und der buntheit zwischen den geschehnissen macht das leben voll

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Tagebücher, texte, gedichte, bilder und ein stück, entstanden 1973 bis 1976

Heidi schmidt war radikal in ihrer suche nach wahrhaftigkeit – und tapfer in ihrer einsamkeit, die sich durch solche wahrhaftigkeit gewiß nicht ändern konnte! Sie erkannte, daß die gleichaltrigen der '68er-zeit, der alternativkultur mehrheitlich nicht wahrhaftiger (nicht weniger entfremdet, verdinglicht) waren als die majorität der erwachsenen, der sie zu entfliehen suchte. Eine bittere, schmerzhafte erkenntnis, wenn zugleich die sehnsucht nach beziehung, liebe, bindung, sozialer gemeinsamkeit so stark ist wie bei heidi schmidt. "sie rufen die leute zusammen sie wollen etwas wichtiges sagen und sie erzählen nichts von sich sie achten immer darauf wie die anderen es hören was sie sagen es ist wie im kino"

Voraussetzung solch leidenschaftlicher, radikaler und sprachgewaltiger selbstbefragung (und befragung der sozialen normalität) ist wohl immer ein moment indivueller verrücktheit. Ich lass' das jetzt mal so stehen. Die damalige alternativ-scene konnte jedenfalls mit heidi schmidts büchern mehrheitlich wenig anfangen. Offenbar hat kaum jemand damals verstanden, "dass meine andersartigkeit / und mein nicht-mitmachen-wollen / eine chance wäre".

Heidi schmidts tagebücher, texte und gedichte können unter dem blickwinkel ihrer einsamkeit, ihrer beziehungslosigkeit und isolation gelesen werden, sie können aber auch gelesen werden als zeugnisse ihres lebenswillens, ihrer kritischen kreativität, ihrer achtsamkeit für momente von entfremdung, verdinglichung – nicht nur bei anderen menschen, sondern auch bei sich selbst. Durch ihre erschütternd schonungslose ehrlichkeit sich selbst gegenüber – auch im bemühen, kompensationsformen, rationalisierungen und andere selbsttäuschungen zu entlarven, ihre seelischen verrücktheiten zu verarbeiten, werden ihre texte zu einer radikalen, wenn auch äußerst egozentrischen selbsterkundung. Indem heidi vorbehaltlos ihre individuelle selbsterfahrung formulierte, spricht sie für viele, viele menschen, denen es nicht gegeben ist, so tief in ihr inneres zu loten: "es gibt innere stimmen die dir antworten die stärker sind als jede traurigkeit wenn du dich nur richtig fragen kannst". Ihr eigenes leben und leiden, hoffen und sehnen, ihre resignation und verzweiflung wurde ihr zum erkenntnisinstrument für den zustand der beziehungen von menschen in unserer gesellschaft. Antriebskraft dieser tagebücher, gedichte, textfragmente und bilder war ihr individuelles leid ebenso wie ihre kreative intention: ihr eigenes leben wurde zum kunstwerk, dessen schöpferin sie war.

Heidi schmidts AKROBATENBUCH (ihre bilder) wurde bereits früher bei A+C wiederveröffentlicht - hier!

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Irene Forbes-Mosse: ALTE WEGE GEHN..

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Mit Hinweisen auf Vernon Lee

Mit dieser neu zusammengestellten Sammlung erscheint bei A+C die vierte und letzte (Wieder-)Veröffentlichung von Werken der fast vergessenen Dichterin Irene Forbes-Mosse (1864-1946).

Oft liegt der Sinn ihrer Erzählungen in dem mit wehmütig-ironischem Abstand geschilderten Kaleidoskop der "Gegenstände" (wozu auch Umgangsformen, Formulierungen, Begriffe und soziale Konventionen gehören), in denen das Lebensgefühl, die Identität die Personen verwurzelt ist. – Aber es geht darüber hinaus, denn "alles hatte seine heimliche Sprache" – die von den Menschen erspürt werden kann.

Nicht selten geschieht kaum etwas in ihren Texten als das pure Leben. Ja: fast pflanzliches Leben ist es, das eben auch zu uns Menschen gehört oder gehören sollte: entschleunigte Zeit. Forbes-Mosse erzählt vom sozialen Leben kaum anders als von der sogenannten "Natur"; es gibt keine grundsätzlichen Verschiedenheiten zwischen ihren Empfindungen, ob ihr dies oder jenes herzensnah wird – das ist wohl ein Schlüssel zu dem Zauber, den ihre Geschichten in uns wecken. Denn schließlich sind wir ja – praktisch, sinnlich, gegenständlich – Momente dieser Natur.

Irene Forbes-Mosses Geschichten haben keine Moral von der Geschicht', in ihnen spricht Liebe zur Welt, eine zärtliche, achtsame Menschenliebe. Dies nicht in idealistischer Träumerei, sondern in klarem Blick auf all die menschlichen Schwächen, Einseitigkeiten und Unvollkommenheiten, die untrennbar auch zum Leben gehören. Ernst und Spaß gehen bei Forbes-Mosse oft ineinander über: Kaleidoskope des Lebens! Einseitig ist natürlich auch diese Haltung dem Leben, der Menschenwelt gegenüber – wie jede andere.

In hintergründig-versponnener, unaufdringlicher Weise ist sie eine feministische Autorin. Forbes-Mosse schreibt "Frauenbücher" – aber nicht im Sinne der Unterhaltungsliteratinnen, sondern weil sie Frauen zweifellos mehr, nein: subtiler lieben kann als Männer. Die haben in ihrem Werk oft nur eben ihre Aufgaben im Plan der Schöpfung; demgegenüber frappiert, wie selbstverständlich die Welt der Frauen beim Lesen wird: "Le palais des taupes, quoi! Gott, wie es da aussah. Überall lagen die Tanten herum, auf allen Sofas, des vieilles avec des burnous, mit gelben Babuschen an den bloßen Füßen und die Hände voll kostbarer Ringe – und die Nägel gelb von Tabak."

Abgesehen von Gedichten hat Irene Forbes-Mosse erst nach dem Tod ihres Mannes 1904 zu schreiben begonnen, da war sie vierzig. Aus einer unabweisbaren inneren Notwendigkeit, sich auszudrücken, ihr schon aus der Kindheit bezeugtes überreiches inneres Leben zu verwirklichen, aber auch um ihr Leid, den Tod geliebter Menschen, den Verlust der Kindheitsheimat zu verarbeiten, wurde sie zur Schriftstellerin – so darf vermutet werden.

Ein eigenes Gewicht haben ihre Gedichte. Viele von ihnen gehören zur bewahrenswerten deutschsprachigen Lyrik Anfang des 20. Jahrhunderts, obwohl sie zum offiziellen literaturwissenschaftlichen Kanon der "Moderne" nicht passen. Im Gegenteil: diese Gedichte (nicht alle von ihr) schlagen die Brücke zurück bis zu Goethe, sie atmen, sind unprätentiös und nichts weniger als epigonal oder bildungsbürgertümlich.

Eine besondere Bedeutung nahm in Forbes-Mosses Leben die Freundschaft mit der Essayistin und Kunsthistorikerin Vernon Lee ein, deren eigenartiges und kompromißloses Werk (und Leben) im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert wurde. Auch deshalb wurden Hinweise zu  Vernon Lee in diese Veröffentlichung aufgenommen.

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Liane Michauck & Co. / Mondrian v. Lüttichau: TAGEBUCH EINER DIS-THERAPIE

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Diese Veröffentlichung dokumentiert den therapeutischen Weg einer Überlebenden schwerster Psychotraumatisierungen mit DIS (Dissoziative Identitätsstörung/ Multiple Persönlichkeit) in den Jahren 2006–2010 mit dem Dipl.-Sozialpädagogen Mondrian v. Lüttichau.

Bei einer psychotraumatologisch orientierten DIS-Therapie liegt die Aufmerksamkeit auf strukturellen und neurophysiologischen Gegebenheiten (traumatische Dissoziation, innersystemische Funktionen, Konditionierungen, Mind Control). Daneben setze ich (MvL) auf die bewegende Kraft der mitmenschlichen Beziehung; das scheint mir nahezuliegen bei KlientInnen, die vollständig über einzelne Teilpersönlichkeiten ("Ichs") mit unterschiedlichem subjektivem Lebensalter und unterschiedlichen Lebenserfahrungen organisiert sind. Therapeutische Grundhaltung war es, die dissoziativen Anteile/Persönlichkeiten/Ichs bedingungslos ernstzunehmen als Gegenüber, mit ihnen weitestmöglich in Ich-Du-Beziehung (Buber) zu gehen und gleichwohl nie die Orientierung an der Wahrheit des Ganzen, des Systems, der Klientin zu verlieren – und diese Orientierung im Austausch immer neu in angemessener Weise zu konkretisieren.

Als ich Liane Tjane Michauck im September 2006 kennenlernte, waren zumindest die erwachsenen Anteile mehr oder weniger lebensmüde im tiefsten Sinne. So viele Jahre hatten sie um ihr eigenes Leben, um Gesundheit gekämpft, so viele Jahre Therapie, eigenes ehrenamtliches Engagement, Leben als berufstätige alleinerziehende Mutter – und noch immer Ängste , Panikattacken, Suizidalität, Perspektivlosigkeit, dazu die zunehmenden somatisch-medizinischen Probleme.

Es wird beim Lesen wohl nachvollziehbar, wieso DIS-Therapie mit möglichst allen Anteilen unabdingbar ist, da sämtliche Anteile nicht nur eigene traumatische Erinnerungen bewahren, sondern zugleich unverzichtbare Ressourcen zur Heilung tragen. Bei der damals fast chronisch suizidalen und krisengeschüttelten Klientin wäre die Therapie ohne das stabile lebenszugewandte Potential der Kinderpersönlichkeiten nicht möglich gewesen! Beziehungsmäßiger Kontakt mit Kinderanteilen bedeutet also keineswegs eine Art Bemutterungsposition; selbst "kleine" kindliche Anteile sind ernsthafte TherapiepartnerInnen, die auf ihre Weise mitarbeiten wollen und können und eigene therapierelevante Ressourcen haben. Zudem stehen innere Ressourcen und entwicklungspsychologische Kompetenzen bei den Anteilen eines multiplen Systems bis zu einem gewissen Grad wechselseitig unterschiedlichen Anteilen zur Verfügung. Dies scheint plausibel, da es in der traumatischen Vorgeschichte meist keine Notwendigkeit gab, diese Freiheitsgrade amnestisch abzuspalten. Erfahrungen mit "Außenkindern" können nur sehr bedingt Vorbild sein für den Umgang mit dissoziativen Kinderanteilen.

Eine sogenannte "Alltagspersönlichkeit" ("Gastgeberpersönlichkeit") ist erstmal nichts anderes ist als ein Anteil von mehreren, also nichts systemisch Übergeordnetes. Welche strukturell bedingte Ressourcen derjenige Anteil hat, der in der Vorgeschichte vorrangig den Alltag organisiert hat, muß innerhalb der Therapie erst geklärt werden. Die strukturelle (systemische) Innenfunktion eines dissoziativen Ichs kann sehr differieren von ihrer Funktion in der sozialen Außenwelt.

Die üblichen Bereiche einer Traumatherapie sind Stabilisierung, Traumakonfrontation und Traumaintegration. Bei Betroffenen mit DIS oder DDNOS ist die therapeutisch angeleitete Weiterentwicklung (Umstrukturierung) des Persönlichkeitssystems ein hierzu gleichwertiger Bereich, keine Nebensache, die "sich von selbst versteht". Dabei geht es um Psychoedukation für die einzelnen Anteile, Co-Bewußtsein, Altersprogression, -regression, Fusion von Anteilen, das Unterscheiden einzelner Funktionen, Erkennen von Täterintrojekten und Kontaktaufbau mit ihnen, Konditionierungen, Mind Control. Deutlich wird die Relevanz dieser "DIS-Therapie" (im Rahmen einer Traumatherapie) auch in vielen alltagsbezogenen Momenten, für die einzeln (und mit den unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten) Brücken gebaut werden müssen zwischen der traumabedingten theory of mind und gesünderen Empfindungen, Konfliktlösungsmethoden, nicht zuletzt: der banalen gesellschaftlichen Realität. Deutlich wird das extrem labile seelische Gleichgewicht – nicht aufgrund eines bestimmten Störungsmusters, sondern aufgrund vieler Faktoren (mit unterschiedlicher Genese), die situativ ausgeglichen werden müssen. Auch die Heilungsfortschritte liegen wechselseitig in all diesen Faktoren; es ist wie ein Bäumchen wechsle-dich, bei dem Ressourcen und Möglichkeiten sich überall verstecken können und vom Therapeuten/der Therapeutin dort angesprochen und gestärkt werden müssen.

Solches Flottieren von Persönlichkeits- und Entwicklungsmomenten zwischen Anteilen (bzw. "Ego States") findet sich grundsätzlich genauso bei Menschen ohne DIS, nur wird es dort bei konventioneller Sozialisation (bzw. Psychotherapie) ausgerichtet am Ideal eines widerspruchslosen "erwachsenen Ich".

Unser therapeutischer Weg macht vielleicht nachvollziehbar, wie gerade der vorbehaltlose Ich-Du-Kontakt mit möglichst sämtlichen dissoziativen Teilpersönlichkeiten die Motivation zur zunehmenden Innenkooperation stärken kann. Allerdings bleibt dies eine ständige Gratwanderung, bei der die Orientierung auf das Ganze durch die therapeutischen HelferInnen immer neu ins System eingebracht werden muß! Andernfalls würden die speziellen Einzelbedürfnisse der Anteile an einen Beziehungskontakt überwiegen (mütterliche/elterliche Zuwendung, Schutz, leibliche Nähe, Orientierung an bestimmten Lerninhalten, Wunsch nach kindgerechten SpielgefährtInnen, Täterprojektionen, Ausagieren von Erfahrungen mit destruktiver Sexualität, Sehnsucht nach selbstbestimmter Sexualität).

Vorstellbar wird auch das sehr organische und individuelle Heilewachsen einzelner Anteile, das allerdings viel Realzeit erfordert. Derart umfassender, ausdifferenzierter Austausch mit den dissoziativen Ichs läßt sich mit der Zeitökonomie einer kommerziellen Psychotherapie meist nicht vereinbaren. Dieses Therapietagebuch könnte immerhin dazu beitragen, Betroffenen, Angehörigen und HelferInnen die konkrete Beziehungsdynamik zwischen Traumaüberlebenden mit DIS und HelferInnen affektiv vorstellbarer zu machen, als es Fachbücher oder nachträglich verfaßte autobiografische Berichte von Betroffenen vermögen.

(Aus dem Nachwort)

Siehe auch  von Liane Tjane Michauck & Co.:  "SCHRITTE INS LEBEN. Gedichte aus dreißig Jahren" (hier)

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Arthur Rimbaud: BRIEFE UND DOKUMENTE

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Arthur Rimbaud bei Autonomie & Chaos, Teil I

Die hier in einer erweiterten Ausgabe wiederveröffentlichte kommentierte Übersetzung der meisten und wichtigsten Briefe des französischen Dichters Arthur Rimbauds (sowie von Dokumenten zu seinem Leben) erschien ursprünglich 1961 im Verlag Lambert Schneider, Heidelberg.

Der Übersetzer Curd Ochwadt schreibt in seinem Nachwort: "Rimbauds Briefe, auch die späten, müssen in aufmerksamem Hinüber- und Herüberblicken mit seinen Dichtungen zusammen gelesen werden. Denn die Briefe bieten einen ausgezeichneten Zugang zu Rimbauds eigenem Verständnis seiner Dichtung und verhelfen damit zu einer angemessenen Annäherung an diese. Andererseits ist bei wenigen Dichtern das Dasein im Ganzen so sehr vom Geschick ihrer Dichtung bestimmt wie hier — Sensation und Mythus um Rimbaud haben das bisher nur verdeckt. Darum öffnen sich auch die Briefe erst dem, der beachtet, in welchem Maße die in der Werkhinterlassenschaft niedergelegte Erfahrung das Dasein dieses Briefschreibers beherrschte."

Die vorliegende Neuausgabe wurde ergänzt durch Erinnerungen der Schwestern Vitalie und Isabelle Rimbaud (ebenfalls in Ochwadts Übertragung), Faksimile-Abbildungen und französische Transkriptionen von Briefen, die ausführliche Dokumentation des neuentdeckten bedeutsamen Briefes an Jules Andrieu (1874) (Übersetzung Petra Bern für A+C) sowie durch Abbildungen und einige Hinweise des Herausgebers. Sie steht im Zusammenhang mit einer Reihe Arthur Rimbaud bei Autonomie und Chaos, zu der noch weitere fünf Wiederveröffentlichungen gehören, die 2021 und 2022 erscheinen (werden).

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Margarete Hannsmann: DREI TAGE IN C.

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Neben einem ersten Gedichtbändchen ist der kleine Roman DREI TAGE IN C. (1965) Margarete Hannsmanns erste selbständige Veröffentlichung. Die Autorin (1921–2007) verstand sich lebenslang als Dichterin, Gedichtbände nehmen den größten Raum ihrer Veröffentlichungen ein. Ihre (autobiographisch begründeten) Prosaarbeiten gelten offenbar noch immer eher als Nebenprodukte. Jetzt, nach ihrem Tod, mit dem Überblick über Leben und Werk, wäre es angemessen, sie auch als Prosaautorin zu entdecken. DREI TAGE IN C. ist einer der ersten frühen schriftstellerischen Versuche einer persönlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.

Gegenüber dem späteren vielfältigen Werk Margarete Hannsmanns bedeutet dieser Roman etwas Singuläres: es ist einfache erzählende Prosa – aber Prosa einer Dichterin! Das lebt in Bildern, Assoziationen, Zusammenklängen, Dissonanzen, in Rhythmen und Brüchen, theatergerechten Szenen, innerem Monolog und Gesprächen mit den interessierten oder gelangweilten Kindern, – aufgeregt und nachdenklich in eins. Wortselig, oft wie skizziert oder aquarelliert verbindet die Autorin Bilder zu Collagen, schieben sich Assoziationen ineinander oder stehen dissonant gegeneinander; der gesamte Text ließe sich rezitieren, deklamieren, als Theaterstück aufführen. Dieser berichtende, erinnernde, erzählende, manchmal pathetische, assoziierende, über die Ufer tretende Text umspannt in Schichten und Blickwinkeln, die einander Satz für Satz durchdringen, fünfzig Jahre deutscher Geschichte, vom ersten Weltkrieg bis nach dem Mauerbau: wehmütig, dissonant, hautnah und ungreifbar. Letztlich gilt dies für Margaretes Lebenswerk insgesamt.

Die lebenslange Aufarbeitung der eigenen NS-Sozialisation, des ambivalenten Verhältnisses zum Elternhaus sowie der NS-Zeit insgesamt sollte ein roter Faden auch der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit HAP Grieshaber werden. Zu ihrer Konsequenz wurde Margaretes unermüdliches praktisches, poetisches, publizistisches Engagement für Menschenrechte, Demokratie, gegen Gewalt und Umweltzerstörung. Gerade die nichtmenschliche Umwelt, die sogenannte Natur war von Kindheit an existentieller Lebensraum der Autorin – und wurde wohl, noch vor der Literatur, zum bedeutsamsten Heilmittel gegen die ideologische Zerstörung des NS; auch dies wird deutlich in DREI TAGE IN C.

Diese Ausgabe bei A+C ist seit Jahrzehnten die erste Wiederveröffentlichung eines Buches von Margarete Hannsmann. Sie erscheint aus Anlaß ihres hundertsten Geburtstags am 10. Februar 2021. (Siehe auch einen Hinweis des STUTTGARTER SCHRIFTSTELLERHAUSES.)

Ein biobibliografischer Anhang enthält neben einem Nachwort des Herausgebers (MvL) zwei Schulaufsätze von 1935 und 1936 sowie das Langgedicht "Ballade von der Kindheit". Es folgen Auszüge aus Briefen an mich (MvL). – In den Auszügen aus einem Radiogespräch mit Franz Fühmann (1980) stellt Margarete Hannsmann wesentliche Aspekte ihres Lebensweges aus einem für ihre schriftlichen Äußerungen ungewöhnlichen Blickwinkel dar. Am Schluß des Anhangs steht eine Gesamtbibliographie der veröffentlichten Arbeiten Margarete Hannsmanns.

2001 schrieb sie über ihr Erwachsenenleben:

"Fronttheater am Atlantikwall, Kinder geboren unterm Bombenhagel, Ziel für MG- und Granatwerferfeuer, mit dem Sarg des Vaters auf einem Lastwagen, Totenwache beim Ehemann, die Familie ernährt durch Verkauf von ausgestopften Füchsen, Kehlköpfen in Spiritus, Menschenskeletten, nichts als Literatur im Sinn, während die Gruppe 47 florierte und meine Generation, ihre Reste, den Kahlschlag verkündete, bis die Nachgeborenen andere Gedichte, Romane, Hörspiele schrieben. Ich war siebenunddreißig, als sich der Würgegriff lockerte, als das Leben mir Luft ließ zu fragen, was denn sein Sinn sei: mein erstes Gedicht.
Seit 1964 erscheinen 23 Lyrikbände, etliche Hörspiele, fünf biographische Zeitromane. Vierzig Lebensläufe geschrieben. Makulatur von Jahr zu Jahr. Entscheidende Impulse durch Griechenland. Mühsames Begreifen, daß jedem Aufstieg ein Fall, jedem Fall ein neuer Aufstieg folgt, jeder These eine Antithese, daß für Einzelgänger in freier Wildbahn der Weg zur Synthese durchs Labyrinth führt. Das Wolfsgesetz Entweder – Oder eintauschen dgegen das Sowohl: Als auch. Gelernt, daß man sich ducken muß unterm Hieb der Dialektik, bis man sich selbst als Paradoxon erkennt: als introvertierte Extrovertierte, die Lebenswegen von ebensolchen Künstlern gekreuzt hat. (Unangenehmes Elixier: himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt.) Nachgeholt, was keine Univerisität lehren kann: Niederlagen in Siege zu verwandeln, Siege in Niederlagen.
Ein halbes Jahrhundert Engagement durch das Wort. Scham, daß die Taten nachhinken. Zu viele Lebenspartikel in die Kunst gebracht, als Chauffeur und Gefährtin HAP Grieshabers unterwegs, um für eine bessere Welt zu streiten, drei Schritte vor, zwei zurück, gegen die Unterdrückung von Minderheiten: Pflanzen, Tiere, Menschen; gegen die Zerstörung ihrer Lebensbedingungen durch Technik und Habgier, für die Erhaltung der dahinschwindenden Natur. An zu vielen Gräbern gestanden. In den Armen der Melancholie (die schöpferisch ist) Depression mit den Füßen wegtretend. Am Ende mein vielleicht schönster Gewinn: Prototyp des Jahrhunderts zu sein, dessen Bauch meine Leidenschaften beherbergt."

Nein, Margarete Hannsmann hat sich nicht vorenthalten; lebenslang hat sie sich mit Leib und Seele, Reflexion und tätigem Engagement hineingeschmissen in Situationen, Empfindungen, Überzeugungen, Beziehungen, Aufgaben, hat alles ausgelotet, ausgekostet bis zur Neige – und sich gleichwohl nicht verloren, sondern ihre Eigen-Art immer weiter geklärt. Sie ist hautnah am Leben geblieben, bis zuletzt, – zwischen meditativer Achtsamkeit und etwas tun wollen. "Was mich nicht entzündet, was nicht brannte inwendig, ist verlorengegangen.", schreibt sie in ihrem TAGEBUCH MEINES ALTERNS (1989). - Dazu eine Aufzeichnung (ARD Talkshow 1991): hier!

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Clara Krollmann: ARTHUR RIMBAUD. EIN DEUTUNGSVERSUCH

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Arthur Rimbaud bei Autonomie & Chaos, Teil VI

Clara Krollmann wurde am 15. 12. 1896 in Köln geboren und legte ihr Reifezeugnis 1924 am Realgymnasium Mainz ab. Sie studierte zunächst in Frankfurt/Main und Würzburg, später in Bonn, wo sie am 15.12.1928 mit der hier wiederveröffentlichten Arbeit promoviert wurde. Weitere Lebens- oder Werkzeugnisse waren leider nicht zu ermitteln. –

Der niederländische Romanist Johan Wilhelm Marmelstein schrieb 1933: "Das schöne Buch ist ein Versuch, die Homogenität sowohl im Werk als auch im Wesen des beunruhigendsten aller Dichter und des widersprüchlichsten aller Menschen zu rekonstruieren." In Deutschland wurde die Arbeit kaum zur Kenntnis genommen.

In beeindruckenden Souveränität verbindet Krollmann schrittweise die Faktoren der Persönlichkeits- und Werkentwicklung Rimbauds und vermittelt uns plausibel, emotional nachvollziehbar und nah an entsprechenden Werkzeugnissen sein Werden als organischen (existentiellen) Bewußtseinsprozeß. Zentrale Aspekte ihrer Interpretation sind dabei Rimbauds frühe Orientierung an der Antike (Prometheus) und Renaissance, – seine Suche nach einer metaphysischen Wahrheit (nach "Gott"?), – die Einsamkeit des Individuums in der modernen Welt (Rationalismus), – das Angebot eines Eingebundensein in die Ordnung der christlichen Tradition, – Rimbauds Kunst als "der Wirklichkeit anheimgegebene ganz persönliche Willensakte", – existentielle ("geistige") Hintergründe seiner Hinwendung zum Orient, – der grundlegende Unterschied zwischen Kulturflucht der Romantik und Rimbauds Intention, eine Funktion des Orients als Läuterungsprozeß...

Ohne Zweifel nimmt auch die Suche nach Bindung an etwas Umfassenderes (nennen wir's Spiritualität, Mystik, Religion, Gott, oder Urheimat) hohen Stellenwert ein bei Rimbaud. Einem christlichen, anti-aufklärerischen oder nationalistischen "Lager" kann Rimbaud jedoch genausowenig einverleibt werden wie später dem surrealistischen oder expressionistischen. Arthur Rimbaud wird heutzutage zu recht zu den ProtagonistInnen einer umfassenden Erneuerung des Lebens im sogenannten "Abendland" gezählt. Dazu zählen kreative Verbindungen zwischen gesellschaftlich-politischen Problemen und den Künsten, Individualität und Gemeinschaft, Mensch und Umwelt. Auch Spiritualität und Religion gehören integral zu diesen Grundparametern des menschlichen Lebens. All das findet sich in Rimbauds Werk und in seinem Leben. Die Bedeutung seiner Persönlichkeit und seines Werks für uns liegt gerade darin, daß er vielen unterschiedlichen Bewußtseinsbewegungen Impulse geben konnte und weiterhin kann, die sich naturgemäß verdichten und dann von Rimbaud wegführen. Jede intensive Lektüre auch nur eines Gedichts führt von Rimbaud weg: in die Welt des Lesers und der Leserin.

Bis heute wohl durch keine andere Arbeit zu ersetzen ist Krollmanns Dissertation in ihrer subtilen Achtsamkeit für Rimbaud in dessen spiritueller Suche. Das ernste Bemühen der Autorin, kulturelle, menschheitsgeschichtliche Zusammenhänge nachzuvollziehen, wird zwar im letzten Teil zum (bewundernswert konsequent durchgehaltenen) ideologischen Klapparatismus, zuletzt auch zu ekstatischer Überhöhung Rimbauds. Gleichwohl können auch diese Passagen ihrer Dissertation mit Gewinn gelesen werden, da auch sie bedenkenswerte Überlegungen enthalten, die allerdings auf Grundlage unserer heutigen Kenntnisse anders interpretiert werden können oder müssen.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: PFADE NACH UTOPIA. Berliner tagebücher 1986-92

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Die jahre 1986-92 stehen für den weitgehenden rückzug von meinen bisherigen sozialen kontakten und aktivitäten. Grundlegender als bisher mußte ich klären, was ich eigentlich machen will in meinem leben, mit welchen menschen ich mich verbinden möchte. – Die zeit in westdeutschland wurde endgültig vergangenheit; berlin wurde zu meiner heimat (und ist es geblieben). Weitgehend vergessene bücher, die ich auf den westberliner flohmärkten fand, wurden zu wichtigen pfadfindern beim nachdenken über die menschen, über gesellschaft und politik.

Die welt zu verstehen und selber ganz zu bleiben, diesen "kinderwunsch" hatte ich nie hinter mir gelassen, und schrittweise konnte ich dran gehen, ihn zu  verwirklichen. Achtsamkeit für die vielschichtigen nuancen menschlicher entwicklung muß zum selbstverständlichen aspekt der sozialen lebendigkeit werden, denn die zunehmende ausdifferenzierung der individualitäten (und damit der anstieg von problematischen kombinationen) wird für jahrhunderte normalzustand in der entwickelten zivilisation bleiben. - Ich begann ein politikwissenschaftliches studium und brach es nach ein paar semestern frustriert ab. Am ende dieser umbruchzeit stand die entscheidung, als behindertenpädagoge zu arbeiten.

Im mittelpunkt des zweiten buches (Berliner tagebücher 1989-92)  stehen außerdem erfahrungen und reflexionen im zusammenhang mit der verwandlung von berlin nach dem fall der mauer sowie hoffnungen, erwartungen, illusionen und neue perspektiven für die DDR, für deutschland und vielleicht auch für europa.

Siehe auch das buch 'ELSTERN IN BERLIN' sowie meine berlin-fotos bei flickr.

Band I: Berliner tagebücher 1986-89
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Band II: Berliner tagebücher 1989-92
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Claudia Beate Schill: IMMER WERDEN WIR FREMDLINGE SEIN

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Eine Auswahl (1978-2009)
(Hrsg. Mondrian v. Lüttichau)

Freiheit zu neuschöpfendem sein findet die lyrikerin claudia beate schill im dschungel der wörter. Sie bricht durchs unterholz der sprache, schwirrt der sonne entgegen wie die lerche, sucht leben, sucht sinn - irgendwo zwischen paradies und apokalypse. Ich bin dankbar und froh, daß diese auswahl ihrer anrührenden, vieldeutigen, archaischen, liebevollen, versponnenen, trotzigen poesie bei AUTONOMIE UND CHAOS möglich wurde.
Enthalten ist auch ein wichtiges, bisher unveröffentlichtes 'Traktat aus einem Privatbrief über Lyrik'.

Claudia Schill starb am 11. November 2022. Eine Veröffentlichung zur Erinnerung an sie ist bei A+C in Arbeit.

Siehe auch die federzeichnungen 'Menschen in Bewegung' von claudia beate schill.

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Mária Ember: SCHLEUDERKURVE. Jüdische Ungarinnen und Ungarn im NS-Arbeitslager 1944-45

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Neuausgabe, mit einem Anhang: Moshe (Miklós) Krausz – ein fast vergessener Kämpfer für die ungarischen Jüdinnen und Juden

Mária Ember (1931–2001) wurde 1944 in das österreichische Durchgangslager Strasshof an der Nordbahn und von dort in das Zwangsarbeitslager Wien-Stadlau deportiert. Nach 1945 ging sie zurück nach Ungarn. Dort studierte sie und arbeitete als Journalistin. Wegen ihres politischen Engagements erhielt sie nach 1956 vier Jahre lang Publikationsverbot. 1968 und 1971 erschienen zwei Romane, 1974 der hier wiederveröffentlichte romanhafte Bericht HAJTŰKANYAR (Schleuderkurve), in dem sie die Erfahrung der Deportation aus der Sicht eines 12-13jährigen Jungen verarbeitet.

Anfang der 80er Jahre recherchierte sie in Moskau zum Schicksal Raoul Wallenbergs. In den frühen 80er Jahren verlor Ember durch ihre Solidarität mit der Prager Charta ‛77 ihre Arbeitsstelle.

HAJTŰKANYAR (Schleuderkurve, Haarnadelkurve, Kehre) berichtet halbdokumentarisch von der Deportation einer Gruppe jüdischer Ungarn aus Szolnok und Debrecen zur NS-Zwangsarbeit nach Österreich, ab April 1944. Durchgängige Handlung des Buches ist die mäandernde, bruchstückhafte Erinnerung an den Terrors durch ungarische, ukrainische, österreichische und deutsche NS-Schergen. Schattenhafter Protagonist des Berichts ist ein wohlerzogener namenlos bleibender Junge aus bildungsbürgerlichem Elternhaus, in Márias damaligem Alter.

Die Erinnerungen (des Jungen), die Zeiten schieben sich zunehmend ineinander, lassen sich oft nicht mehr zuordnen. Seine Aufmerksamkeit, seine Wachheit zieht sich mehr und mehr in sich selbst zurück, in seinen Leib, in den Dämmerschlaf: hinter seine geschlossenen Augenlider… Gegenwart als durchgängige Zeitebene gibt es in dem Buch nicht; die Stationen der Entrechtung durch die Nazis und ihre ungarischen (und ukrainischen) Verbündeten tauchen unvermittelt als Bruchstüche in der Erinnerung des Jungen auf und versinken wieder im traumatischen Nichts. Begebenheiten werden sprunghaft und mit plötzlichen Abbrüchen berichtet, ganz so, wie wir im Innern vergrabene, gleichwohl tief bedeutsame Einzelheiten zutage fördern, um sie uns selbst oder jemandem zu erzählen.

Die vielen Momente, mit denen Gefangene versuchen, unter den Umständen der menschenverachtenden, brutalen Verschleppung ein Mindestmaß an zwischenmenschlicher Ordnung, an sozialer Stimmigkeit zu erreichen, beeindrucken und berühren. Nicht zuletzt geht es um die Perspektive von Frauen in der Shoah – ohne daß dabei biologistischen Ideologemen Vorschub geleistet werden soll. Im Hinblick auf den (fast erfolgreichen) Genozid an ungarischen Jüdinnen steht hier neben (und zeitlich gesehen vor) HAJTŰKANYAR der ebenfalls bei A+C wiederveröffentlichte autobiografische Bericht von Katalin Vidor (Vidor Gáborné).

Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der nüchternen, unsentimentalen Erzählung werden selbst die nur in Schlaglichtern vorgestellten weiteren Personen der Gruppe spürbar als Menschen mit einem individuellen Schicksal; da geht es nicht um die tausende, hundertausende, Millionen Opfer, sondern um die Individuen, aus denen sich solche nicht mehr wirklich vorstellbaren Menschenmengen zusammensetzen.

In SCHLEUDERKURVE geht es nicht um die Situation in Auschwitz oder anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Es geht "nur" um die Deportation aus Ungarn in ein österreichisches Arbeitslager. Aber auch innerhalb dieser Prozedur zeigte sich die intendierte Demütigung, dieselbe schrittweise Zerstörung von Selbstwertgefühl und sozialer Identität scheint auf in herzzerreißenden Szenen. In wenigen Zeugnissen wird die alltägliche Entwürdigung und Verhöhnung der jüdischen Opfer nachfühlbar wie hier. Bei jeder neuen Unterdrückungsmaßnahme greifen sie hilflos nach den noch verbliebenen Ressourcen sozialer Normalität und Selbstbestimmtheit (an die sie auf einer Ebene ihres Bewußtseins selbst nicht mehr glauben können) – und jedesmal sind es weniger Ressourcen. Hilflose Nuancen der Rationalisierung, auch Momente von Unterwürfigkeit zeigt Ember, die peinlich, würdelos genannt werden könnten, falls wir uns nicht klarmachten, daß sie zu unserem natürlichen Überlebensrepertoire gehören. Die jüdischen Opfer sind "ganz normale" Menschen wie du und ich, – mit allem mehr oder weniger spontanen Eigennutz, mit Klatsch und Engstirnigkeit, Feigheit und Bequemlichkeit, mit Vorurteilen und Trägheit des Herzens. Alle wollen sie "nur" ihr eigenes Leben, ihre Normalität und möglichst viel von ihren vertrauten Umständen bewahren.

Einen Schwerpunkt des Berichts bildet die erbarmungslos kalte, höhnische Menschenverachtung der ungarischen Gendarmen gegenüber den ungarischen Juden. Ungarische Bürger waren es, die 1944 binnen weniger Wochen rund 500.000 jüdische Mitbürger deportierten. In diesem Zusammenhang schrieb die Autorin: Ennek a könyvnek a tárgya nem a zsidó sors. Amit ez a könyv elbeszél, az magyar történelem. – Das Thema dieses Buches ist nicht das jüdische Schicksal. Was dieses Buch erzählt, ist ungarische Geschichte.

(Aus dem Vorwort)

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Johanna Herzog-Dürck: PERSONALE PSYCHOTHERAPIE ALS ELEMENT INTEGATIVER TRAUMATHERAPIE

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Eine kommentierte Textsammlung. Herausgeber: Mondrian Graf v. Lüttichau

Der hier vorgestellte psychotherapeutische Ansatz wurde entwickelt von der Psychotherapeutin Johanna Herzog-Dürck (1902–1991). Er wird zu den anthropologischen Psychotherapien gezählt, die den Kranken in seinem individuellen ganzheitlichen Gefüge in den Mittelpunkt der psychotherapeutischen Arbeit stellen.

Personale Psychotherapie kann die therapeutische Praxis ergänzen um ihre hermeneutische und imaginative Achtsamkeit für bestimmte Aspekte menschlichen Erlebens, Erleidens und Bewußtseins, nicht zuletzt um die anthropologisch orientierte Aufmerksamkeit für die spirituelle Dimension menschlichen Bewußtseins, die sich in individuell sehr unterschiedlicher Weise äußern kann: philosophisch, ökosophisch-ganzheitlich, buddhistisch, orientiert an Tao oder anderer fernöstlicher Spiritualität, pantheistisch oder monotheistisch.

Liebe, ein Zentralbegriff ihres Menschenbildes, versteht Johanna Herzog Dürck als "reziproke Reifung von Du zu Du" , jedoch nicht in der Engführung einer Partnerschaft, vielmehr als anthropologische Grundlage, die sich in allen Formen mitmenschlicher Begegnung oder Beziehung äußern kann.

Herzog-Dürck beschreibt Satz für Satz seelische (psychische) Erfahrungen und Befindlichkeiten, die wir alle kennen – wenngleich manche von ihnen oft weit abgedrängt sind aus dem alltäglichen Bewußtsein und seinen sozial konsensuellen Momenten. Trotz ihrer Orientierung an der überragenden Bedeutung der psychischen Entwicklung in der Kindheit geht dieser Ansatz aus von einer lebenslang möglichen Weiterentwicklung der Persönlichkeit; therapeutisches Ziel ist also nicht nur die Kompensation psychischer (Entwicklungs-) Defizite. Herzog-Dürcks Personale Psychotherapie ist radikal und vorbehaltslos orientiert am Möglichkeitsraum oder Möglichkeitssinn (Robert Musil) des Menschen. Dazu gehört auch die Orientierung an der Wahrheit jeder Neurose als Ausgangspunkt des therapeutischen Weges.

Besonderes Gewicht liegt bei Herzog-Dürck auf der Traumdeutung, – die sich allerdings erheblich unterscheidet von dem öffentlich bekannteren Umgang mit Träumen, wie er von Sigmund Freud geprägt wurde. Ihre grundlegende Haltung zu diesem Thema formuliert sie folgendermaßen: "Nun ist bekanntlich die Interpretation von Träumen eine umstrittene Sache in der Tiefenpsychologie, bei der es wesentlich auf den Verstehenshorizont, auf das Menschenbild ankommt, von dem der Therapeut ausgeht. Gehört es doch gerade zum Wesen des Symbols, in verschiedene Dimensionen der menschlichen Existenz einzustrahlen, um sie im Bild zusammenzufassen. So zeigt sich bei den wissenschaftlichen Kontroversen über die Deutung eines Traums oft, daß die Auffassungen sich nur scheinbar widersprechen, in Wirklichkeit sich aber ergänzen, um eine gemeinsame Achse kreisen. Wesentlich aber scheint es uns, daß der Traum nicht benutzt wird, um eine Theorie zu beweisen, sondern daß diejenigen Züge des Traumgeschehens herausgearbeitet werden, die für das Suchen des Leidenden nach Selbsterkenntnis und Selbstfindung fruchtbar sind."

Wir Menschen haben durchaus subjektive Kriterien für unsere seelische Gesundheit und unseren Lebensweg, wir haben individuelle seelische Ressourcen – das entspricht der Natur des Menschen als einem sich seelisch lebenslang nach Maßgabe individueller Erfahrungen verändernden (bzw. veränderungsfähigen) System. Dies ist zumindest das Menschenbild der anthropologischen Psychotherapien und also auch der Personalen Psychotherapie Johanna Herzog-Dürcks.

Psychoanalytisch orientierte Therapien fokussieren bekanntlich auf psychodynamische Strukturzusammenhänge, die nicht zuletzt durch Entwicklungstraumata (Kindheitstrauma) beeinflußt werden. Durch die therapeutisch bewirkte Nachreifung und Neuordnung solcher Strukturen (auch im Erwachsenenalter) sollen die seelisch verletzenden Erfahrungen weitgehend neutralisiert werden. – Die teils neurobiologisch, teils erfahrungsbasierte Psychotraumatologie geht darüberhinaus davon aus, daß bestimmte schlimme Erfahrungen den Rahmen des bisherigen Selbstbilds/Weltbilds sprengen und dadurch psychisch nicht verarbeitet werden können; nur für sie verwendet die Psychotraumatologie den Begriff "Psychotrauma" bzw. "Traumatisierung". Aus diesem Grund müssen solche bösen Erfahrungen neurophysiologisch auf besondere Weise (unverarbeitet) gespeichert werden (traumabedingte Dissoziation). Durch die nachträgliche Verarbeitung und Integration solcher Inhalte (durch spezielle psychotraumatologische Methoden) kann der symptomatische Leidensdruck der Betroffenen gemindert werden oder verschwinden. Psychotraumatologisch orientierte Therapie fokussiert also auf die weitgehend nicht integrierten (vielmehr abgespaltenen/dissoziierten) traumatischen Inhalte selbst.

Eine Neigung zu technizistisch-mechanistischen Lösungen haben sowohl die (medizinisch-somatisch begründete) Psychoanalyse als auch die (weitgehend neurophysiologisch begründete) Psychotraumatologie. Dies wirkt sich im traumatherapeutischen Arbeitsfeld mittlerweile aus in der Konzeption immer neuer traumatherapeutischer Methoden (und "Instrumente"), die dazuhin gerne ins Korsett von Therapiemanualen geschnürt werden. Insbesondere Überlebende schwerwiegender Entwicklungstraumata (d.h. Beziehungstraumatisierungen in der Kindheit) mit ihrer Verletzung, Verwirrung und teilweisen Unentwickeltheit psychischer Strukturen brauchen jedoch therapeutische Unterstützung im gesamten Feld ihres Menschseins; – statt nur zu "überleben", müssen sie leben erst lernen.

Es gibt regelhafte Folgen von Psychotraumatisierungen, die bei beiden "Schulen" nur peripher beachtet werden und der indiviellen Kompetenz von TherapeutInnen/HelferInnen anheim gestellt sind. Stichworte für solche Folgen sind:  Scham – Schuld(gefühl) – Wozu bin ich auf der Welt? – Wer bin ich? – Wieso geschah es gerade mir? – Bin ich wert, daß mir geholfen wird? – Suche nach inneren Ressourcen, Intentionen, eigenem Wollen, eigenen Bedürfnissen – Schicksal als unauflösbare Verfügung? – Was ist "ein Mensch"? – Was ist gut? Was ist böse? – Kann ich auch anders sein? – Zukunft, Hoffnung – Was ist Liebe (für mich)? Sexualität? – Ambivalenz: Zuneigung zum Täter (primäre Bezugspersonen) – Abgrenzungen – Nein sagen … Das alles ist jedem Therapeuten/jeder Therapeutin bekannt, am Rande der "eigentlichen" therapeutischen Themen gehört es irgendwie dazu.

Meiner praktischen Erfahrung nach müssen diese Probleme bei solchen in der Kindheit einsetzenden Traumatisierungen den höchsten Stellenwert in traumapädagogischer/-therapeutischer Arbeit haben. Das mit diesen Stichworten angedeutete Leid ist meist schwerwiegender als die konkreten bösartigen Handlungen, denen die Betroffenen ausgesetzt waren. (Mit Akuttraumatisierungen habe ich keine eigenen Erfahrungen, jedoch lese ich aus entsprechenden Berichten oft eine vergleichbare Gewichtung.)

In der längerfristigen Begegnung mit Überlebenden schwerster Psychotraumatisierungen seit der Kindheit (allermeist sexualisierte Gewalt durch Bezugspersonen, Organisierte Rituelle Gewalt mit Zwangsprostitution) zeigt sich oft ein so hohes Maß an humaner Gesinnung, daß sich die Frage aufdrängt: wie kann das sein bei Menschen, die vor allem in Kindheit und Jugend fast nur unbeschreiblich grausame, sadistische Gewalt erfahren haben? Und woher kommt die Kraft zum Heilungsweg? Was haben diese Menschen für Ressourcen? Meine grundlegende Verbindung mit solchen Überlebenden war immer der Kontakt mit einer Lebenszugewandtheit jenseits aller (schlimmer) Erfahrungen, einer Lebenszugewandtheit, die durchaus auch in täterorientierten, therapieaversiven Persönlichkeitsanteilen zu spüren ist. Es war und ist im Grunde das pure Leben, das ich mit meinem puren Leben ansprechen konnte, das sich angesprochen und bestätigt, gestärkt fühlte; dies war mein "Therapiepartner". Es geht hier also auch um eine Beziehungsebene jenseits der traumatherapeutischen Methoden, der trauma-pädagogischen Interventionen. Genau diesen Blickwinkel, diese Haltung habe ich jetzt, nach bald 20 Jahre Erfahrung mit diesem Klientel, bei Johanna Herzog-Dürck wiedergefunden. Sie schreibt dazu: "Es ist die Intentionalität der Person, die zwar abgedrängt und aufgespeichert im Unbewußten, dennoch gerichtet bleibt auf die Einstimmung des Menschen in die Welt."

Nicht (nur) Symptome, Syndrome, Krankheitsbilder und theoretisch fundierte (gleichwohl hypothetische) psychische Strukturen zu behandeln, sondern Menschen auf Grundlage ihres individuellen Gewordenseins, ist in der psychotherapeutischen Praxis keineswegs selbstverständlich. Bei Johanna Herzog-Dürcks Ansatz steht genau dies im Mittelpunkt. "Alle Formen der Neurose haben das gemeinsam, daß der Mensch am Prozeß der Selbstwerdung von früh an gehindert worden ist, um sich bald in späteren Stadien selbst daran zu hindern." – Dies gilt natürlich in extremer Form für Überlebende schwerer Entwicklungstraumatisierungen!

Bereits die gedankliche, meditierende Beschäftigung mit Herzog Dürcks Ausführungen und die daraus erwachsene Selbst-Sensibilisierung kann das Spektrum der Achtsamkeit im professionellen wie ehrenamtlichen oder privaten Umgang mit seelisch oder/und körperlich leidenden Menschen erweitern. Johanna Herzog-Dürck macht Mut. Die Personale Psychotherapie hat ihre Grenzen, wie alles Menschenwerk sie hat, aber abgesehen davon ist sie radikal, das heißt: sie reicht an Wurzeln des Menschseins, soweit Psychologie das überhaupt kann. Darüberhinaus mögen manche spirituelle Wege gehen.

Diese Neuveröffentlichung versteht sich nur am Rande als Beitrag zur Psychotherapiegeschichte. Herzog-Dürcks Angebot ist offen in die Zukunft, offen für Weiterentwicklungen; es könnte hilfreich werden in unterschiedlichen therapeutischen Settings, in psychoanalytisch-entwicklungspsychologisch orientierten und psychotraumatologischen, in Seelsorge (d.h. auch christlich orientierter Hilfe) und Beziehungstherapie, Drogentherapie, Erziehungsberatung und Kinderpsychotherapie, Trauer- und Sterbebegleitung, Lebensberatung, möglicherweise in der Psychosenpsychotherapie und sogar im Zusammenhang mit spirituellen Retreats.

(Aus der Einleitung des Herausgebers)

Zugleich mit dieser Textsammlung wurde Johanna Dürcks Dissertation von 1927 als Faksimile (pdf) wiederveröffentlicht. Sie trägt den Titel: DIE PSYCHOLOGIE HEGELS.

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Martha Wertheimer: ENTSCHEIDUNG UND UMKEHR

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(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Der hier erstmalig wiederveröffentlichte roman erschien 1937 (unter dem titel 'Dienst auf den Höhen'). Die autorin wurde 1942 ermordet, wahrscheinlich im vernichtungslager sobibor.

Martha wertheimer studierte in frankfurt/m., arbeitete als redakteurin, war fechterin, engagierte sich für das frauenwahlrecht. Sie verstand sich als zionistin und übernahm nach 1933 vielfältige aufgaben in entsprechenden institutionen, organisierte und begleitete transporte jüdischer kinder ins rettende ausland. Nachdem ihrer schwester (mit der sie dauerhaft zusammenlebte) der paß entzogen worden war, entschied sich auch martha, in deutschland zu bleiben. Sie engagierte sich stärker im religiösen leben, übernahm funktionen, die sonst rabbinern vorbehalten waren. Dabei orientierte sie sich an jüdischen gelehrten und (reform–) rabbinern, die brücken schlagen wollten zwischen dem 20. jahrhundert und dem spirituellen und ethischen gehalt der jüdischen tradition: leo baeck, martin buber, franz rosenzweig, max dienemann und anderen.

'Entscheidung und Umkehr' interpretiert das biblisch überlieferte geschehen um die könige david und salomo sowie salomos schwester tamar. Das unmittelbare bündnis gottes mit den juden als gemeinschaft legt das gewicht der religio (als rückbindung an eine übergeordnete grundlage menschlichen seins) auf die diesseitige menschliche gemeinschaft: Gottes wahrheit läßt sich nur im menschlichen miteinander verwirklichen! Die befreiung des judentums aus angemaßter macht oder totem ritual erwächst aus individuellen entscheidungen in der sozialen gegenwart; - diese grundlage der jüdischen religiosität gilt für martha wertheimer (in orientierung vor allem an dem religionsphilosophen martin buber) auch für ihre eigene zeit - und sie ist heute mehr denn je eine relevante alternative zum christlichen verständnis göttlicher gnade.

'Entscheidung und Umkehr' ist darüber hinaus eine der ersten (angemessenen) literarischen darstellungen der folgen einer vergewaltigung im kindesalter aus dem blickwinkel der betroffenen frau. Herzzerreißend deutlich wird das persönliche leid des mädchens tamar als opfer männlicher arroganz der macht vermittelt - tamars versuche, die vergewaltigung durch den halbbruder seelisch zu überleben. Im ganzen buch wird martha wertheimers besondere aufmerksamkeit deutlich für das empfinden der beteiligten frauen, ein blickwinkel, der in der biblischen überlieferung keine rolle spielt. - 'Entscheidung und Umkehr' wird getragen von wertheimers sehnsucht nach einer menschenwürdigen welt jenseits von patriarchalischer machtgier – und ihrer hoffnung darauf. Hier hat martha wertheimer ihre liebe zum leben bewahrt, ihre tiefe menschenkenntnis und ihre trauer über das leid, das wir menschen einander zufügen ungewollt oder willentlich, zu allen zeiten. Das buch ist eine der bedeutenden botschaften des vernichteten deutschen judentums, ist teil des zeitlosen widerstands gegen zerstörung des lebens durch vom ganzen der welt abgespaltene menschenmacht.

Mit einem anhang: Martha wertheimer über hanna rovina und das zionistische theater HABIMA.

(Achtung: Martha wertheimer wurde 1890 geboren, nicht 1880, wie im buch behauptet. Der fehler wird in einer späteren auflage korrigiert werden!)

Ebenfalls bei A+C wiederveröffentlicht wurde martha wertheimers 1933 erschienener antimilitaristischer krimi "Maschine F 136".

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Arthur Rimbaud: ZWEISPRACHIGE WERKAUSGABE

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Arthur Rimbaud bei  Autonomie & Chaos, Teil II

Jean Nicolas Arthur Rimbaud (1854 – 1891) gilt er als einer der einflußreichsten französischen Lyriker. Poetische Werke verfaßt hat er allerdings nur zwischen seinem 15. und 20. Lebensjahr. Sein weiteres Leben wurde bestimmt von Reisen (London – Stuttgart – zu Fuß nach Italien – Paris – Wien – Brüssel – Java – Nordeuropa – Alexandria – Hamburg – Italien – Zypern); diese wurden immer wieder unterbrochen durch kurzzeitige Rückkehr nach Charleville, den Ort seiner Herkunft, wo seine Angehörigen lebten. Auf Zypern leitet Rimbaud kürzere Zeit die Arbeiten in einem Steinbruch. 1880 gelangte er nach Aden (im heutigen Jemen) und wurde dort Angestellter einer französischen Firma, die mit Pelzen und Kaffee handelte. Anfang 1891, während eines Aufenthalts in Somalia, bekam Rimbaud starke Schmerzen im Knie. Er liquidierte sein Geschäft und reiste unter großen Strapazen nach Marseille. In einer dortigen Klinik stellte sich heraus, daß er Knochenkrebs hatte und das Bein amputiert werden mußte. Hiernach verbrachte er, auf Genesung hoffend, einige Sommerwochen in Roche, fuhr dann unter Schmerzen wieder in die Klinik nach Marseille. Dort starb er am 10. November 1891.

1873 hatte Rimbaud den Zyklus UNE SAISON EN ENFER veröffentlicht, die einzige von ihm initiierte Buchveröffentlichung, die für ihn zugleich das Ende einer grundlegenden poetischen Lebenshaltung bedeutete. 1874/75 arbeitete er an Reinschriften von Prosagedichten mit der Intention, diese für eine anders orientierte Veröffentlichung zusammenzustellen. Diese Reinschriften wurden (unter dem Titel ILLUMINATIONS) ab 1886 von anderer Hand und ohne Rimbauds Wissen in mehreren Varianten veröffentlicht. Sein Leben als Dichter war spätestens 1876 abgeschlossen. – –

Rimbaud irritiert, verstört, andererseits berühren viele seiner Formulierungen schon beim ersten Lesen unmittelbar. Dazu kommt das frühe Lebensalter, in dem sein Werk entstand, kommt der nur schwer zu verstehende Abbruch seiner literarischen Arbeit in einem Alter, in dem andere Künstler – mit derart hohem kreativen Potential – gerade erst angefangen haben.

Der Einfluß des Werkes sowie auch der mysteriösen Persönlichkeit Rimbauds auf die Dichter des Symbolismus und des Expressionismus war beträchtlich, die Surrealisten mit ihrer Idee des nur vom Unbewußten gesteuerten Schreibens, der écriture automatique, orientierten sich an ihm, in anderer Weise die französische Künstlergruppe Le Grand Jeu. Rimbaud wird auch als bedeutender Protagonist der US-amerikanischen Beat Generation verstanden. Bis heute beziehen sich KünstlerInnen unterschiedlicher Provinienz auf Rimbaud, darunter Henry Miller, Patti Smith und Jim Morrison, Wolfgang Hilbig, Thomas Brasch und Volker Braun.

Nach der ersten umfassenderen Rimbaudausgabe auf deutsch (K. L. Ammer 1907, Einführung Stefan Zweig) wurde 1925 Franz v. Rexroths erste Übertragung vorgelegt. – 1954 veröffentlichte der Limes Verlag Wiesbaden dann die Werkausgabe Franz v. Rexroths. Diese wird hier wiederveröffentlicht, erweitert um die französischen Originaltexte. Gedichte, die bei Rexroth fehlen, wurden hinzugefügt. Die Neuausgabe enthält darüberhinaus Faksimiles, 90 zusätzliche Übersetzungen anderer AutorInnen, einen Exkurs zu Rimbauds Brief an Jules Andrieu (16. April 1874), Abbildungen und ein Nachwort des Herausgebers.

Ältere Lyrikübersetzungen aus größerem zeitlichen Abstand wieder zur Hand zu nehmen, kann durchaus Erkenntniswert haben. Sie bewahren den Blick einer anderen Generation, aus anderen sozialen und gesellschaftlichen Umständen auf das Werk. Blinde Flecke, Ressentiments, Moden gibt es in jeder Generation, nur immer wieder verschiedene. Aber auch besondere Sensibilitäten und Nuancen des Menschseins. So gesehen wäre die vergleichenden Lektüre verschiedener Übersetzungen einzelner Rimbaudtexte vielleicht sogar ideal! – Zum Erkunden von Nuancen Rimbaud'scher Gedichte möchte die ergänzende Aufnahme von Einzelübersetzungen anderer AutorInnen in diese Neuausgabe der Rexroth'schen Arbeit einladen.

Mittlerweile gibt es eine Fülle erläuternder Hinweise zu rätselhaften Stellen seines Werkes, auch innerhalb von deutschsprachigen Werkausgaben. Jedoch bleiben viele Gedichte Rimbauds schwierig, lassen keine eindeutige Interpretation zu – im französischen Original so wenig wie in irgendeiner Übertragung gleich welcher Sprache. Hundert Jahre Rimbaud-Exegese konnten diese Rätsel nicht hinwegerklären.

Weitere Veröffentlichungen zu Arthur Rimbaud erscheinen 2022/23 bei A+C.

(Aus dem Nachwort des Herausgebers)

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Walther Vetter: DER KAPELLMEISTER BACH

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Versuch einer Deutung Bachs auf Grund seines Wirkens als Kapellmeister in Köthen

Die 1950 erschienene Monographie BACH ALS KAPELLMEISTER des Musikwissenschaftlers Walther Vetter (1891-1967) macht Johann Sebastian Bach als künstlerische Persönlichkeit auch für nichtfachliche Musikhörer greifbar in einer Weise, wie es streng philologischen, theologischen oder  geschichtswissenschaftlichen Arbeiten kaum je gelingt. Aus diesem Grund wird das Buch jetzt – 70 Jahre später – online wiederveröffentlicht.

Obwohl Vetters Argumentation den Bezug zur musikwissenschaftlichen Forschung nie verliert (zumindest empfinde ich als Laie dies so), entfaltet sie sich an vielen Stellen zu erfrischender essayistischer Freiheit, dies gerade dann, wenn er einen Zusammenhang aus prima vista inkompatibel erscheinenden Blickwinkeln beleuchtet.

Als Autor musikwissenschaftlicher Auseinandersetzung dürfte Vetter nur noch der Wissenschaftsgeschichte angehören; für mich (der ich Musik nur ganz naiv mit dem Herzen höre) wurde das Buch ein neuer Zugang zur Musik Johann Sebastian Bachs – und wohl auch zu ihrem Komponisten. Walther Vetters Monographie beschränkt sich nicht auf die notwendige musikwissenschaftlich-philologische Dimension. Er begibt sich auf die Suche nach dem Komponisten JSB in seinem künstlerischen Entwicklungsweg, der "schaffenspsychologischen" (Vetter) Dimension. Dies wird an unzähligen Stellen des Buches deutlich. Beispielsweise, wenn er die musikpädagogische Konzeption des Klavierbüchleins für Wilhelm Friedemann erläutert und dabei die Weiterentwicklung dortiger kompositorischer Ideen im Wohltemperierten Klavier einbezieht. Schon der vollständige Titel seines Werkes verweist ja darauf, daß es keineswegs nur um Köthen geht. Walther Vetters Aufmerksamkeit liegt deutlich auf dem gesamten Leben und Wirken Bachs.

Vier Beigaben enthält diese Neuausgabe: Texte des Theologen und Musikwissenschaftlers Friedrich Smend, der Bachforscherin und -interpretin Rosalyn Tureck, der Cembaloforscherin und -spielerin Eta Harich-Schneider sowie des Schriftstellers und Orgelbauforschers Hans Henny Jahnn: unterschiedliche Plädoyers, der sogenannten Alten Musik einen ihnen gemäßen Raum in unserer Zeit zu ermöglichen. Die Standpunkte ergänzen einander durchaus, auch wenn gelegentlich Unvereinbarkeiten im Vordergrund stehen mögen.

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Petra Bern: ESCAPICTORA

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86 Fotografien von Petra Bern.

"Zäune, Zäune, Gitter, Tore, Türen, Mauern, Wände, überall stehen wir davor. Und was dahinter ist? Ein Kätzchen mal ganz am Rand, eine blühende Forsythie ganz am Rand, eine andere Katze im Schatten (obwohl 1 mm Kamerabewegung sie ins Licht hätte fassen lassen), eine Frau, die durch die Scheibe (Spiegel?) sich selbst darstellte und noch mal an einem Auto, die einzigen "Lebewesen" – doch wer fotografiert?: ein Lebewesen. Eine Frau. Hinten stellt sie sich dar. Lisa?

Der Geist stirbt nie, die Augen, die dies alles gesehen und wiedergegeben haben, auch nicht. Lisa hat nun viele, viele, fast zuviele Zäune,  Zäune, Gitter, Mauern, Türe, Wände gesehen, Kondor, Kondor, die übergroße Trauer der beiden und zum Schluß zieht die schöne, überschöne Frau in Paris die Vorhänge im Zimmer dicht zu und weint die ganze Nacht. Dies Gemälde von Stifter kann ich fast auswendig, und wie der Künstler dort wird auch Lisa die Vorhänge eines Tags aufziehen und ernst-fröhlich mit weit ausgestreckten Armen hinter die Zäune, Zäune, Gitter und Mauern stürzen. Schau!: auf Seite 31 endlich ein Mensch! Schau ihn kniend an!"

Aus einem Brief von Christa Stiehm

Siehe auch von Petra Bern: Lisa und Ludwig (1992)

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Anne-als-sie-selbst. Anne Franks Botschaft

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Wir alle wissen, was Anne Frank ist: "Das Tagebuch der Anne Frank gilt als ein historisches Dokument aus der Zeit des Holocaust und die Autorin Anne Frank als Symbolfigur gegen die Unmenschlichkeit des Völkermordes in der Zeit des Nationalsozialismus", steht bei Wikipedia. Aber wer war Anne Frank? Überlebende Freunde und Bekannte betonten manchmal, sie sei "trotzdem ein ganz normales junges Mädchen" gewesen; auch Rezensenten des Tagebuchs und Biografen sprechen gern von "normalen Gemütsschwankungen der Jugend". Anne selbst hätte es wohl anders gesehen; auch das ist dem Tagebuch zu entnehmen – nur mögen Erwachsene derlei ungern ernstnehmen, wenn sie ihren eigenen Anspruch an Authentizität und Selbstidentität längst verloren haben.

Annes Vater schrieb über seine Begegnung mit dem Tagebuch seiner Tochter: "Eine ganz andere Anne enthüllte sich mir aus diesen beschriebenen Seiten als das Kind, das ich verloren hatte. Ich hatte keine Ahnung von der Tiefe ihrer Gedanken und Gefühle gehabt."

Anne Frank wollte bekanntlich Journalistin oder Schriftstellerin werden; ihre schriftstellerische Begabung ist offensichtlich. Als grundlegendere individuelle Kompetenz erlebe ich jedoch ihre tiefgründige psychologische und spirituelle Achtsamkeit, die in diesen Lebensjahren (ihren letzten) erblühte. Um diese Anne Frank ging es mir in dieser Zusammenstellung von Passagen aus ihren Tagebüchern.

Die im zweiten Teil dokumentierten Zeugnisse von Annes (überlebenden) Schicksalsgefährten aus den Monaten in Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen bezeugen die Integrität ihrer kompromißlosen Mitmenschlichkeit auch dort. "Das völlig belanglose Tagebuch eines jungen Mädchens, das von sich selbst so völlig eingenommen und von seiner Intelligenz so dermaßen überzeugt ist, dass man sie nicht mal sympathisch finden kann" (wie eine amazon-Kundin kommentierte), war eben nicht nur pubertärer Widerspruchsgeist oder literarische Ambition. Auch in den kritischen Aufwallungen gegen die Mutter hatte Anne Frank nicht eigentlich gegen diese gekämpft, sondern ist, innerhalb ihrer Möglichkeiten, für ein höheres Niveau an Mitmenschlichkeit eingetreten.

Nicht selten wird Anne Frank mehr oder weniger deutlich als Symbol für die Millionen Opfer der Shoah profiliert. Dies ist unangemessen; jeder dieser Menschen repräsentiert sein einmaliges, unverwechselbares Leben. – Anne stand ein für Möglichkeiten menschenwürdiger Integrität, menschlichen Potentials angesichts schrecklicher, menschenunwürdiger Lebensumstände. Dies ist ihre Flaschenpost, als Moment einer nunmehr in jeder Generation unabdingbaren Erziehung nach Auschwitz.

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Mary Jane Ward: SCHLANGENGRUBE

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Die amerikanische Schriftstellerin Mary Jane Ward (1905–1981) war 1939/40 Patientin einer psychiatrischen Klinik.  Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen dort schrieb sie den hier wiederveröffentlichten Roman THE SNAKE PIT (1946). Die Veröffentlichung löste in der amerikanischen Öffentlichkeit, auch unter Psychiatern und Gesundheitspolitikern, lebhafte Reaktionen aus. Das Buch und ein nach ihm gedrehter Spielfilm führten in mehreren Staaten der USA zu Reformen der psychiatrischen Unterbringung und Behandlung. In Großbritannien wurde der Film erst nach einigen Schnitten zugelassen. In der BRD gab es keine nennenswerte öffentliche Reaktion.

Die Autorin vermittelt uns einen nuancierten, oft tief berührenden Einblick in die Erfahrungen und das Empfinden einer Frau des amerikanischen Mittelstands, die es in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts in eine "Irrenanstalt" verschlägt. Jenseits psychiatrischer Begrifflichkeit werden Momente psychotischer Verwirrung und Verlorenheit im kontinuierlichen (aber gebrochenen) Bewußtseinsstrom der Protagonistin deutlich. Unaufdringlich werden im Fluß der Handlung die kommunikativen Verknotungen, Verwirrungen zwischen psychiatrischen Patientinnen und "den Gesunden" vermittelt. Unangemessene, unsensible Kommunikationsweisen gerade in einem psychiatrischen Krankenhaus, wo Betroffene sich fachliches Verständnis versprechen, führen zur iatrogenen Zerstörung des Selbstwertgefühls – damals wie heute! Psychiatrische PatientInnen sind sich ihrer Symptomatik zeitweise durchaus bewußt. In der unsicheren Einschätzung des Grads der eigenen Gesundheit oder Krankheit schämen sie sich, versuchen kognitive Defizite zu verbergen vor anderen (insbesondere den Ärzten), sie zu rationalisieren. Nicht selten fühlen sie sich den Ärzten und klinischen Psychologen gegenüber wie SchülerInnen, die verbergen wollen, daß sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben.

Daß die paranoiden, halluzinatorischen, wahnhaften Verkennungen in der Psychose um nichts weniger evident sind als Eindrücke im nichtpsychotischen Zustand, daß in der Psychose beides in vielfältiger Abstufung ineinander übergeht, Minute für Minute, läßt sich gerade in diesem romanhaften Bericht besonders gut nachvollziehen, weil es hier durchgängig um alltägliche Umstände und Klärungsprozesse geht, – nicht um ausufernde psychotische Phantasien, wie sie üblicherweise als Beleg für das angeblich Nichteinfühlbare der Psychose angeführt werden. Deutlich wird auch, wie leicht es ist, psychiatrische PatientInnen zu verfehlen, wenn wir nur nach psychotischen Symptomen Ausschau halten und die alltäglichen Lebenserfahrungen vernachlässigen.

Bei allen kritischen, sarkastischen und ironischen Bemerkungen porträtiert die Protagonistin ihre Mitpatientinnen im allgemeinen achtungsvoll, mit soviel Einfühlung, wie sie aufbringt. Oft läßt sie uns deren Einsamkeit und die individuellen Kompensations- und Rationalisierungsversuche nachfühlen. Die ganz eigene Authentizität von PsychiatriepatientInnen stellt sie mehrfach der sozialen Normalität der Außenwelt gegenüber, wobei diese keineswegs besser abschneidet. Selbst ihrem eigenen Gesundungsprozeß steht Virginia gelegentlich ambivalent gegenüber: "Ich nähere mich dem Nichtpatientenstatus. Mein Mitgefühl verliert sich. Meine Sympathie. Ja, und meine Großzügigkeit …"

Trotz der unterschiedlichen Ausgangslage läßt sich dieser romanhafte Bericht in vielem auf die heutige stationäre Psychiatrie übertragen, auch im Hinblick auf die instititutionellen und sozialen Umstände der Betreuung.

(Aus dem Nachwort)

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ANGEPASST ODER MÜNDIG? – Briefe an Christa Wolf im Herbst 1989

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Unter dem polemischen Titel Das haben wir nicht gelernt veröffentlichte Christa Wolf in der DDR-Wochenzeitschrift WOCHENPOST (Nr. 43/1989) einen Artikel, mit dem sie, wie sie selbst schreibt, "eine erste Annäherung an das Thema Jugend" beabsichtigte. Sie benennt darin Ursachen für die Identitätskrise junger Menschen in der DDR, die vor allem seit dem Beginn der massenhaften Ausreise im Sommer 1989 — der "Abstimmung mit den Füßen" — nicht mehr aus dem öffentlichen Bewußtsein zu verdrängen war. Die Autorin hinterfragt Anspruch und Wirklichkeit bisheriger Bildungs- und Erziehungspolitik, konstatiert gravierende Versäumnisse — alles in allem ein Befund, der betroffen machte. Die Reaktion waren um 300 Briefe von DDR-BürgerInnen an die WOCHENPOST, – zustimmende, ablehnende, Erfahrungsberichte, Trauer, Resignation – die meisten aus dem Blickwinkel von pädagogischen MitarbeiterInnen, SchülerInnen oder Eltern. 170 dieser Briefe wurden in einer Dokumentation gesammelt, die 1990 im VERLAG VOLK UND WISSEN erschien.

Das Buch ist eines der bedeutendsten Zeugnisse der Endzeit der DDR, ein exemplarisches Stück oral history – aber wurde nie mehr neu herausgegeben! So genau wollte das alles wohl niemand mehr wissen.
Die Dokumentation wird jetzt bei A+C neu veröffentlicht, wegen ihrer historischen Bedeutung als Digitalisat (Faksimile).
Ergänzt wird sie durch Tagebuchauszüge aus den Monaten Oktober bis Dezember 1989, in Berlin (Autor: Mondrian v. Lüttichau).

auc-147-angepasst-oder-muendig-briefe-an-christa-wolf Digitalisat (pdf 24,5 MB)

Johanna Dürck: DIE PSYCHOLOGIE HEGELS

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Faksimile der Dissertation von 1927.

"Fragt die naturwissenschaftliche Psychologie: Wie sind die höchsten und komplexesten Gebilde des Seelenlebens in einfache Elemente aufzulösen, so stellt der Idealismus die gerade entgegengesetzte Frage: Wie ist auch das primäre Seelische, dasjenige, in dem die schöpferische Freiheit, die das Wesen des Seelischen bildet, nicht ersichtlich ist, – wie ist auch dies aus der Einheit dieser schöpferischen Freiheit zu verstehen?"

Bereits in Johanna (Herzog-)Dürcks Dissertation von 1927 zeigt sich unmißverständlich ihr Bemühen um eine "wertverwirklichende, sinngebende" Psychologie. Grundkategorien hierfür fand sie in Hegels Anthropologie , wobei sie – nach eigenem Bekunden – wesentlich unterstützt wurde von ihrer philosophischen Lehrerin Anna Tumarkin. Ab 1933 nahm sie ihr Psychologiestudium auf; zweifellos konnte sie ihre psychologische und psychotherapeutische Konzeption gerade durch die alltäglichen Erfahrungen im NS praktisch und theoretisch ausdifferenzieren. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entwickelte die Psychotherapeutin Johanna Herzog-Dürck (1902–1991) ihre PERSONALE PSYCHOTHERAPIE. Sie wird zu den anthropologischen Psychotherapien gezählt, die den Kranken in seinem individuellen ganzheitlichen Gefüge in den Mittelpunkt der psychotherapeutischen Arbeit stellen.

Die Schlußsätze der Dissertation lauten: "Das Problem ist noch nicht gelöst, wie das Individuelle nicht bloß negativ, gleichsam in seinem Abweichungswinkel vom Allgemeinen gesehen, sondern positiv, in seiner eigentümlichen Notwendigkeit, als eigener Ursprung von individuellen Werten, ohne welche die allgemeinen Werte niemals in Realität umgesetzt würden, erkannt werden könnte. Wie der Punkt einen Kreis von unendlicher Peripherie bestimmt, so ist das Einmalige ein Absolutes und das Nicht Wiederkehrende Unendlichkeit."

Jedoch gingen psychotherapeutische Theorie und Praxis in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts andere Wege, nicht nur in Deutschland. Nach Herzog-Dürcks Tod geriet die Personale Psychotherapie weitgehend in Vergessenheit. Zu Unrecht, wie ich meine. Eine umfassende kommentierte Textsammlung ist bei A+C als online-Veröffentlichung erschienen. Aber auch Johanna Dürcks Dissertation erscheint mir bewahrenswert, um auf eine nicht unproblematische Einseitigkeit des Erkenntnisforschritts hinzuweisen. – Wie soll es, wie wird es weitergehen mit der Psychotherapie?

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Christa Anna Ockert: L-TAGE oder: "HITLER WIRD NICHT BEDIENT!"

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Was sagen Sie dazu?
           Ich hatte viele Namen.

Fremde in meiner Kindheit konnten nur sehen, wie klein ich war, und sagten Mausi oder Mäuschen. (Großmutter, die mich kannte und nicht unterschätzte, nannte mich so vor dem Kindergarten.)
Ich habe mich früh wie später nicht, wie anzunehmen wäre, in Mauselöcher verkrochen …! Die Pohlings riefen noch "de Kleene", als ich den Lehrlingsschuhen entwachsen war. Doch Mäusel mit sächsischem Zwielaut flüsterte und schmetterte mein geliebter zweiter Mann.
Mutter machte keine Umstände und sagte – wie manche meiner Kolleginnen und Bekannten – Christa. Durch Giga, die Liebkosung meines Bruders Harald vor seiner Schulzeit, war ich hellhörig für das, was im Elternhaus fehlte…
Ich hüpfte in den dreißiger Jahren an Vaters Hand durch Leipzig: Für Kurt Röller und andere seiner Freunde wurde ich Huppegra.
Werner, mein niemals alternder Onkel und erster Märchenprinz, taufte meinen Bruder Claus und mich im Doppelpack – Gustav und Gustl!
Christel war der eingängige Schnörkel von Frauen, die mich so oder so mochten; Nachbarinnen unseres ersten, ausgebombten Hauses oder Mutter Just, Annette T. Rubinstein, Tante Martha und Ruth Schreier. Christeline zupft – sozusagen – liebevoll am Ohr oder wickelt eine Locke um den Finger; wie mein Vater, Tante Käthe und Oberschwester Margarethe.
Das Kurzwort der Schneidereits, meines Verehrers Conny Odd und meines lieben Hary fährt wie ein Cabrio mit offenem Verdeck – Chris! Ich habe Sportsgeist! (Behörden und Passanten wechselten meine Nachnamen wie Reifen: Pietscher, Greschke, Ockert.)
Für Roland, der als Junge Mutti sagte, bin ich Mutter. Wie hätte mich mein Enkel Daniel genannt?

Lernen wir, wenn wir in einen Himmel (oder so etwas) kommen, den Namen kennen und sprechen, den wir uns selbst im tiefsten Herzen gaben…?

Christa Anna Ockert  (9. Dezember 1932 – 22. Oktober 2017)

Christa Anna Pietscher wurde in Leipzig geboren und schloß hier zunächst eine Ausbildung  als Schreibkraft ab. Während ihrer darauffolgenden langjährigen Verwaltungstätigkeit im Uniklinikum Leipzig absolvierte sie ein Studium zum Diplom-Ökonom.
Ab Mitte der 70er Jahre war sie beim VEB Interdruck Leipzig Leiter der Wirtschaftskontrolle.
Die Autorin hatte einen Sohn aus erster Ehe. Ab den 80er Jahren war Frau Ockert in zweiter Ehe mit Erich Ockert verheiratet,  dem damaligen Ersten Solopaukisten  des Gewandhaus Leipzig.
Zur Wendezeit zog das Ehepaar nach Westdeutschland.
Als Witwe lebte Christa Anna Ockert mit ihrem letzten Lebenspartner Hary Guttman in Esslingen/Neckar.
Begraben ist sie in Leipzig.

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Jo Imog: DIE WURLIBLUME

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Die Erzählerin, ein etwa 12jähriges Mädchen, lebt in einem Dorf am See, im bayrischen Voralpenland, in einem einigermaßen dysfunktionalen Elternhaus. Zuwendung erfährt sie fast nur in Form unterschiedlicher Grenzüberschreitungen und sexualisierter Gewalt. Immerhin Momente dieser verstörenden, traumatischen Entwicklungsbedingungen scheint sie in Form von phantastischen Inszenierungen und Racheaktionen zu verarbeiten. Eine unbändige "polymorph perverse" Wut richtet die Protagonistin auf alles, was ihr als Opfer unter die Hände kommt: Gegenstände, Ameisen, Schnecken, gelegentlich auch Menschen. Im Morast dieser großangelegten Opfer-Täter-Umkehr entfaltet sich aber zugleich die kreative Lebenszugewandtheit des Mädchens – das ist das schauerlich Wundersame dieses zweifellos autobiografisch fundierten Romans. Nahezu Satz für Satz sind zerstörerische und lebenszugewandte Impulse verbunden. Momente ihrer spröden Liebesfähigkeit richten sich allerdings zumeist nur auf die erwachsene lesbische Freundin, Ersatzmutter und Verbündete Wurio.

Die Wurliblume erkundet und genießt das Leben – abgesehen von all den zwiespältigen sexuellen Erfahrungen – vorrangig in seinem Zusammenhang mit Zerstörung und Tod, in Stinkendem und Verwestem, im Gegenständlichen. Sie befördert Kleintiere vom Leben in den Tod, sammelt Dinge, erprobt ihre Eigenschaften … Ihre vibrierende affektive Besetzung bei all dem ist offensichtlich, Empfindungen wie Mitleid (gegenüber gequälten und getöteten Kleintieren) fehlt gänzlich.

Aber es gibt auch anderes. Sie begegnet einem Kätzchen, mit dem sie Freundschaft schließt, und einmal wollte auch dieses Mädchen ein Leben retten: einen Igel, der sich das Bein gebrochen hatte. Er starb dennoch; jetzt gehört er zu ihren tot lebenden "niemals langweiligen, immer unvollständigen Schätzen". Abseits einer seltsamen Orgie von Erwachsenen tröstet die Wurliblume eine phantasierte Entenfrau, sodaß "sie nicht mehr traurig ist, weil sie mir glaubt, wenn ich sage, daß sie schön ist". Sie spielt mit Hühnern ("Ihre Federn sind schneeweiß") und die Volkslieder, die manchmal in der Familie gesungen werden, bedeuten ihr etwas; wenn nur die Mutter singen und die Texte behalten würde! Viel Lebendigkeit liegt in ihrer Sprachphantasie, in lautmalerischen Wortklumpen und Neologismen, nicht zuletzt den dialektalen Momenten; die barocke Blumigkeit der bairischen Schimpfwörter zieht sich durch das Buch; Abzählreime, Volks- und Kirchenlieder klingen an, Duette mit Vogelstimmen entstehen...

Weg von der familiären Umgebung, zu Besuch beim Onkel, entdeckt sie ein Storchennest und winkt aus dem Auto anderen Kindern. In etlichen Momenten wird die tiefe Sehnsucht dieses Mädchens nach – ja, wonach? nach dem Gegenteil von Oberflächlichkeit, Verlogenheit, Egoismus deutlich. Aber sie hat ja selbst kaum anderes gelernt in ihrem jungen Leben. Immerhin schreibt sie Erfahrungen und Empfindungen in ein verschlossenes, verstecktes Tagebuch, kompliziert verschlüsselt gegen die feindliche Welt. Manchmal hat die Wurliblume einfach Angst, – auch "Angst vor Mutti". Manchmal gehen Alpträume und Realität ineinander über. Aber sie kämpft weiter um ihr weitestmöglich autonomes Leben.

Es ist Sándor Ferenczis "Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind", der wir in dieser Geschichte zuschauen. Die Protagonistin kriegt alles mit, ist teilweise beteiligt – und versteht doch nicht, worum es diesen Erwachsenen geht. Ihre sadistischen Impulse haben eher mit trotzig-verbissenem Erkunden der Welt zu tun, andererseits mit dem kompensatorischen Ausagieren realer (sexualisierter) Gewalt – manchmal in der Hoffnung, es würde doch sowas wie Zuwendung daraus.

Nur selten wurde Sigmund Freuds Begriff von der "polymorph-perversen" Lebendigkeit nachvollziehbarer dargestellt in einem literarischen Text. Bei Freud geht es ebensowenig einseitig um Sexualität im engeren Sinn wie bei der Wurliblume. Die Kreativität des Mädchens entfaltet sich in sämtlichen Sinnen: Gerüchen und Geschmacksmomenten, taktiler Beschaffenheit, Hitze und Kälte, Blumenzartheit, Gefühlen, Farben und Empfindungen, Hitze und Kälte, in den körperlichen, auch sexuellen Selbsterfahrungen. –

Es gehört zum kleinen Einmaleins der Psychotraumatologie: Ein Mensch in unausweichlichen und unerträglichen Lebensbedingungen, der diese psychisch nicht verarbeiten kann, hat nur drei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: mit Flucht, Kampf oder Unterwerfung. Dies gilt umso mehr bei Kindern bei krass unangemessenen, zerstörerischen Sozialisationsumständen. Ihnen bleibt im allgemeinen nur die dritte Variante; sie unterwerfen sich den Erwachsenen (wobei es sich zumeist um Bezugspersonen handelt, von denen die Kinder sich auch aus entwicklungsbedingten Gründen nicht distanzieren können); ihre seelische Entwicklung erleidet tiefgreifende Schäden. – Unsere Wurliblume jedoch kämpft! So selten das ist: es kommt vor und ist auch von anderen Überlebenden von Entwicklungstraumata dokumentiert. Seelische Verletzungen können dennoch nicht ausbleiben und führen bei unserer Protagonistin zu den im Buch geschilderten krassen Einseitigkeiten, zu Haß und Rachegefühlen, eigener Verlogenheit (die einzige Form, in der sie unter den gegebenen Umständen ihre Intelligenz einsetzen kann, um sich zu schützen) und Mord – als letzter Möglichkeit, Momente einer als unerträglich empfundenen Erfahrung zu zerstören. Vieles davon blieb vermutlich Phantasie; verwirklicht wurde es dennoch: durch das Schreiben des Buches. Real ist aber zweifellos das Leid eines Mädchens – der Autorin – aufgrund von unangemessenen, lieblosen und gewalttätigen Sozalisationsbedingungen.

Dieses Mädchen ist Opfer, aber zum Opfer ist sie nicht geboren ; vermutlich rührt auch daher unsere Solidarität über alle Entsetzlichkeiten hinweg.

Deswegen auch kann sie zur Täterin werden. Dieses Buch ist die grandioseste Rache sexuell traumatisierter Kinder und Jugendlicher an der Erwachsenenwelt, in der bekanntlich gerade sexualisierte Gewalt normal ist. Rache ist keine Lösung, nein, aber was erwarten wir von einer kindlichen Überlebenden? Daß sie sich in ihr Leid verkriecht, ihr Leben zerstört, weil es ihr zerstört wurde? Um Hilfe bittet – aber wen?

Auch ihre Empfindungen und Verhaltensweisen sind natürliche, also letztlich gesunde Reaktionen auf ungesunde (traumatisierende) Lebensumstände: orientiert an der Selbststabilisierung des psycho-physischen Systems. Dieses Mädchen fühlt sich im Krieg, das ist sicher nicht weniger angemessen, als sich zum hilflosen Opfer machen zu lassen.

Es gibt (auch hierzulande) viele Tausende Kinder und Jugendliche, die vergleichbaren traumatischen Zerstörungen durch die soziale Umwelt ausgesetzt sind. Zweifellos finden die allermeisten von ihnen andere Kompensations- und Überlebenswege. Meist entwickeln sie ein Selbstbild als Opfer, werden prostituiert, unterwerfen sich gewalttätigen Partnern, sie fliehen in Drogenwelten, bleiben in Persönlichkeitsstörungen oder psychischen Krankheiten stecken oder werden ggf. selbst TäterInnen. Angemessene, nachhaltige Unterstützung finden die wenigsten.

DIE WURLIBLUME ist traumapsychologische Fallstudie, aber nicht nur. Uta Haaks Vermächtnis ist nichts weniger als halbbewußtes Ausagieren kindlicher Traumatisierungen; die rasante Szenenfolge ist von Anfang bis Ende durchkomponiert, hat weder Längen noch Redundanzen, keine überflüssigen Adjektive, jedes Wort ist sinnlich aufgeladen; – in seiner kompromißlosen Poesie ist es große Literatur!

DIE WURLIBLUME erschien 1969 im Gala Verlag Hamburg. 1973 erschienen englische und niederländische Ausgaben des Buches. Die Autorin, Uta Haak, lebte auf Ibiza (Spanien), arbeitete unter dem Namen Ute Schroeder als bildende Künstlerin. (1997 waren ihre Environments bei der Biennale d’art contemporain de Lyon vertreten.) Sie starb im Februar 2014.

(Aus dem Vorwort der Neuausgabe)

Achtung: Das Buch enthält Schilderungen sexualisierter Gewalt! Sie können triggern!

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Franz X. Graf v. Zedtwitz: FELDMÜNSTER. Roman aus einem Jesuiteninternat

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Franz Xaver Graf von Zedtwitz (1906 Wien – 1942 bei Sewastopol) war von 1915 bis 1920 Schüler des Jesuitengymnasiums Stella Matutina in Feldkirch (Österreich). Er absolvierte ein Studium der Zoologie und promovierte 1929 an der Universität Berlin. Er war verheiratet mit Ilse Woit; das Ehepaar hatte drei Kinder. Zedtwitz lebte als Schriftsteller in Krugsreuth bei Asch im Sudetenland.

Neben zoologischen Werken verfaßte Franz Zedtwitz erzählende Tier- und Jagdbücher. Seinen größten Erfolg erzielte er mit dem 1940 erschienenen, seit langem vergessenen und hier erstmalig wiederveröffentlichten Roman FELDMÜNSTER. Das Buch erschien im von der SS betriebenen Nordland-Verlag, erlebte bis 1943 mehrere Nachauflagen und galt in nationalsozialistischen Kreisen offenbar als Pflichtlektüre im Kampf gegen den Jesuitenorden.

Der offensichtlich autobiografisch fundierte Roman spielt im Jahr 1919, seine Handlung liegt vorrangig in der seelischen Entwicklung des 15jährigen Robert als Zögling eines Jesuiteninternats. Liturgische Riten, Segenszeichen und Dogmen der katholischen Kirche werden den Schülern mit Wirkung einer seelischen Konditionierung oktroyiert; dies gehört(e) offenbar zur Intention der Ordensgemeinschaft Gesellschaft Jesu (Societas Jesu, S.J.), die sich als Kämpfer für das Reich Gottes verstanden (oder verstehen). Der Autor vermittelt uns die immanente Logik dieses kirchlich-religiös begründeten Bedeutungssystems. Für die von ihren Eltern getrennten Kindern und Jugendlichen ist es allerdings nicht nur ein Gerüst sozialer Normen, wie wir alle es in der Kindheit gelernt haben; aufgrund der hermetischen (und strafbewehrten) Konditionierung im Zwangsalltag der Jesuitenschule wird diese Logik ihnen evident genauso, wie unter anderen Sozialisationsbedingungen die existenzielle Bedeutung der Mutter, etwas später auch des Vaters evident ist.

FELDMÜNSTER ist ein bedeutender Entwicklungsroman – allerdings mit einer Thematik, für die es heutzutage kaum mehr Interesse geben dürfte; zu Unrecht, denn das Wesentliche dieser Konstellation ist überzeitlich relevant, ist nicht beschränkt auf religiöse Sozialisationsformen. Die emotionale Innensicht eines menschen-verachtender schwarzpädagogischer Konditionierung ausgesetzten Kindes ist selten derart subtil dargestellt worden. Die machtpervertierte katholische Dogmatik des damaligen Jesuiteninternats steht hier pars pro toto.

Kinder sind zur seelischen Entwicklung angewiesen auf erwachsene Bezugspersonenen, an denen sie sich – auch zu ihrem eigenen Schaden – orientieren. Die natürliche Sehnsucht junger Menschen nach Vertrauen, Geborgenheit, Zuwendung, Orientierung kann deshalb fast unbegrenzt mißbraucht werden; das gilt für einzelne bösartige Eltern genauso wie für kirchlich-religiöse Indoktrination, für politisch ideologische Sozialisation oder für die Konditionierung durch Gruppen der organisierten rituellen Gewalt. Aufgrund dieser entwicklungspsychologischen Gegebenheiten übernehmen Kinder die Regeln, Kriterien, Argumentationen und emotionalen Zuordnungen der Bezugspersonen; kindliche Opfer gewalttätiger Eltern verinnerlichen die Zuschreibungen ihrer Väter oder Mütter ("Du bist selber schuld!" – "Du warst böse, ich muß dich bestrafen!" – "Es ist zu deinem eigenen Besten!"). Wegen der entwicklungsbedingten Notwendigkeit einer konsistenten theory of mind (eines Weltbilds) vervollständigt, verdichtet das Kind, der Jugendliche zwangsmäßig vorgegebene ideologische Formeln zu einer affektiv-kognitiven "Welt", in der es, das Kind, die existenziell notwendige Geborgenheit findet.

FELDMÜNSTER ist ein ernstzunehmendes ethnographisches Quellenwerk – denn ein derart subtiler, kenntnisreicher Blick ins Seelenleben von Zöglingen einer Jesuitenschule vor 100 Jahren dürfte nicht noch einmal dokumentiert worden sein. Zudem ist dieser Roman eine kirchengeschichtliche Dokumentation, die vermitteln kann, wie katholische Dogmatik entgleisen kann zu selbstgerechtem Machtmißbrauch. (Dies erhält einen aktuellen Bezug zu den bekanntgewordenen Fällen von sexualisiertem Mißbrauch auch durch kirchliche Würdenträger.) Zedtwitz verzichtet auf jede plakativ-heroische Attitüde; in tiefem Einfühlungsvermögen vermittelt er in jeder Situation die unvereinbaren, ambivalenten, irritierenden Empfindungen junger Menschen angesichts solcher überfordernder Erfahrungen mit der Erwachsenenwelt. Zugleich ermöglicht es die souveräne sprachliche Gestaltung des Autors auch nichtchristlichen LeserInnen (wie mir), sich ansatzweise einzufühlen in das Lebensgefühl gläubiger Katholiken, wie beispielsweise einzelne Geistliche oder die Mutter des Protagonisten Robert.

Dieser Roman zeigt zwei miteinander verflochtene Entwicklungsprozesse: zum einen Roberts schrittweise Ablösung aus den Konditionierungen der katholischen Dogmatik (in ihrer pervertierten, machtorientierten Form), zum anderen das wachsende Selbstverständnis des Jungen als Künstler: als Maler. Nicht die gewalttätige Sozialisation, vielmehr Roberts über alle Schwierigkeiten hinweg sich entfaltende kreative Lebenskraft ist das unaufdringliche Leitmotiv dieses Romans; in zwiespältiger Weise steht es wohl auch für das im NS-Deutschland zerstörte kreative Leben des Autors.

Franz Zedtwitz hat außer diesem Roman 24 naturkundliche Bücher über Tiere in Wald und Flur veröffentlicht. Seine geschmeidige, farbige, flüssige und prägnante Sprache stand zweifellos immer im Dienst tiefer Achtsamkeit für das Leben. "Ehrfurcht vor dem Leben", Albert Schweitzers Satz, ist auch die Haltung des Franz Graf Zedtwitz. Seine Tierbücher sind antiquarisch noch erhältlich; besonders empfehlen möchte ich WUNDERBARE KLEINE WELT. DAS BUCH VOM HEIMISCHEN GETIER (Berlin 1934: Safari-Verlag).

Bei aller überragenden Qualität auch seiner Tierbücher läßt sich hinter dem Verzicht dieses Schriftstellers auf andersartige literarische Werke eine qualvolle innere Emigration ahnen: Nach einer Jugend in der Gewalt der katholischen Diktatur das (allzu kurze) Erwachsenenleben in der NS-Diktatur! Die letzte Tätigkeit als Frontberichterstatter kann ich nur als endgültige Resignation verstehen. Im Juni 1942 kam Zedtwitz um, innerhalb der Schlacht um Sewastopol, 36jährig. Daß FELDMÜNSTER offenbar von der Nazi-Agitation funktionalisiert werden konnte, war eine bittere Pointe. - Daß Franz Zedtwitz dann bis heute entweder vergessen oder, wo nicht, als NS-Parteigänger zu gelten scheint, ist die bitterste Pointe.

(Nachwort 2019)

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Paul Zech: TRUNKENES SCHIFF. SZENISCHE BALLADE UM ARTHUR RIMBAUD

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Der Schriftsteller Paul Zech (1881-1946) trat zunächst hervor als Autor expressionistischer Lyrik und Prosa. Er fand Kontakt zu Else Lasker Schüler und Franz Werfel und lebte ab 1909 in Berlin. Seine Szenische Ballade Das trunkene Schiff (Uraufführung: Volksbühne Berlin 1926) wurde als einziges seiner mehr als 20 Theaterstücke bekannter. Seit 1924 entstanden Zechs Rimbaud-Nachdichtungen, die 1927 in einem Band vereinigt erschienen. Der relative Erfolg des Buches setzte allerdings erst nach 1963 ein, und zwar in einer 1944 stark überarbeiteten Version. Diese wurde bis in die jüngste Zeit hinein mehrfach nachgedruckt, obwohl die Texte äußerst frei übertragen wurden.

Die vorliegende Veröffentlichung (2022) möchte die Szenische Ballade in die gegenwärtige deutschsprachige Rimbaudrezeption hineinstellen. Eine ausführliche Einführung der Theaterwissenschaftler Hermann Haarmann & Klaus Siebenhaar (in dieser Ausgabe enthalten), vielleicht die einzige differenzierte Arbeit zu diesem Theaterstück, begründet, wieso gerade Zechs subjektiv-einseitige, anarchische, ungebärdige Szenische Ballade künstlerisch wertvoll und bewahrenswert ist: nämlich als Ausdruck künstlerischer Authentizität, die sich Kriterien der Theatertradition nicht beugen darf, um nicht zu Kunstgewerbe zu verkommen. – Arthur Rimbaud gilt in Frankreich und anderen Ländern auch unter den jüngeren Generationen als avantgardistischer, immer neu zu entdeckender Dichter, Künstler, Mensch. Im deutschsprachigen Raum fehlt diese gegenwartsorientierte Rezeption bisher weitgehend. Auch Paul Zechs Szenische Ballade könnte ein Anknüpfungspunkt sein.

Paul Zechs Arbeiten zu Rimbaud beleuchten vielleicht in ihrer subjektiven Einseitigkeit eine Facette Rimbauds, die in der Literaturwissenschaft gerne zu kurz kommt. So empfinde ich vor allem Zechs Szenische Ballade Das trunkene Schiff unbedingt als Bereicherung der Rimbaudliteratur. "Zechs Drama will gerade die Ambivalenz zwischen absoluter Kunst und absolutem Leben als höchste Stufe der Spannung, damit der fragilen Sensibilisierung des Dichters in einer entsensibilisierten, spießigen Welt aufzeigen. Die ständige Entgrenzung des schöpferischen Ichs führt zur Ich Dissoziation; die darin obwaltende Tragik erhöht die Kunstfigur zum Titan, der jene Polarität in sich bewußt auslebt." (Haarmann/Siebenhaar)

Zechs Theaterstück erinnert daran, daß auch Rimbaud kein Rousseau'scher Edler Wilder war – auch nicht in seiner ersten (poetischen) Lebenszeit. Er war einer von uns – vielfältig zersplittert in oft unvereinbare Facetten von Primärsozialisation, sozialen Normen und Widerstand gegen diese, Selbstentfremdung, seelischer Wurzellosigkeit und Konstruktionen von Beheimatung, Beziehungslosigkeit und individuellen Fähigkeiten und Intentionen, auf der Suche nach Sinn und Wert des eigenen Lebens, nach Bestätigung seines Soseins in der Menschenwelt.. – wie wir alle, nur mit besonders viel kreativer Begabung und Lebenskraft, Verzweiflung und Sehnsucht. In Rimbauds poetischem Werk lassen sich die Spuren all dessen überlesen, wenn wir es denn wollen; Paul Zech stellt solche Momente (und ihre praktischen Auswirkungen) in den Mittelpunkt seines Theaterstücks Das trunkene Schiff und bringt uns Arthur Rimbaud in besonderer Weise nahe, macht ihn für uns unmittelbar berührbar. Dies muß unterkomplex bleiben – wie unsere Erfahrung von Mitmenschen selbst im persönlichen Kontakt immer unterkomplex ist.

Was in den 20er Jahren noch schockierend war, können wir heute direkt nachempfinden und mitfühlen als Momente individueller Rebellion, wie sie zumindest seit der Beat Generation um 1950-1960 zum Spektrum jugendlicher und kreativer Entfaltung gehören (auch innerhalb von Theaterinszenierungen).

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Paul Kanut Schäfer: JADUP

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... DIE HÖLLENFAHRT EINES HELDEN UNSERER TAGE, NEBST DEM KUNSTSTÜCK, SICH MIT DEM LINKEN AUGE INS RECHTE ZU BLICKEN, WOBEI AUCH DIE ÜBRIGEN SINNE NICHT ZU KURZ KOMMEN, BESONDERS DER SECHSTE

Jadup – fast ein Schlüsselroman der DDR-Gesellschaft ist das, in ihrer traditionell spießbürgerlichen Variante der Kleinstädte und Dörfer zwischen 1945 und 1970, mit ihren durch spezielle staatstragende Ideologeme entstandenen spezielle Entfremdungsformen. Es ist ein bitter humoristisches, herzzerreißendes Buch über Fremdsein, Außenseiter-Sein, über ganz normalen zwischenmenschlichen Verrat, über Vergewaltigung und Trägheit des Herzens im alltäglichen Normendruck. Subtile Momente der Dissonanz durchziehen sämtliche Szenen dieses Romans, der eigentlich eher eine Parabel ist. In ihrem versponnen-skurrilen Klang erinnert (mich) die Geschichte an E.T.A. Hoffmann. Manches kommt rüber wie ein innerer Monolog des Autors. Wie nebenbei scheinen in dieser Melange unzählige Momente der ländlichen DDR-Alltags jener Zeit auf, Kneipenkalauer, dramaturgische Kabinettstücke und DDR-hopperistische Szenerien gehen ineinander über, hintergründig irisierend zwischen realistisch und surrealistisch. Andere Formulierungen empfand ich wie ein Schattenboxen mit imaginierten Funktionären der Genehmigungsorgane. – Die vielfältige Fremdheit all dieser Versatzstücke ist eingebettet in den Anfang 1945 bis in die 60er Jahre der DDR. "Die Leute fingen an, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Wie unglaublich sie sich mühten, endlich den Zusammenhang zu begreifen zwischen ihrem täglichen Kleinkram und der großen Politik!"

Auch um das sozale und psychologische Phänonen von Gerüchten geht es und um ihre zerstörerische Wirkung sowie – nicht zuletzt – um die Vergewaltigung eines vierzehnjährigen Mädchens – und wie die Menschen in der dörflichen Kleinstadt damit umgehen.

Paul Kanut Schäfers "Jadup" gehört zweifellos zu den bedeutenden belletristischen Werken der DDR-Gesellschaft. Hier bricht soziale, gesellschaftliche Realität in großer Wahrhaftigkeit hervor. Eine seltene Schöpfung!

Schäfers lebenslange Beschäftigung mit Alexander v. Humboldt führte zur Zusammenarbeit mit dem Regisseur Rainer Simon; es entstand  - noch in der DDR - der Film DIE BESTEIGUNG DES CHIMBORAZO (1989); 1992 veröffentlichte Paul Kanut Schäfer  (1922–2016) eine umfassende Dokumentation der Reiseberichte und Tagebücher Alexander v. Humboldts (teilweise als Erstveröffentlichung):  "Die Wiederentdeckung der Neuen Welt" (1992). 

Ebenfalls mit Rainer Simon entstand 1980/81 nach dem hier wiederveröffentlichten  Roman der Film JADUP UND BOEL. Erwurde trotz Überarbeitung nach seiner Fertigstellung 1981 verboten. Dieses Verbot wurde erst 1988 aufgehoben, sodaß der Film doch noch in der DDR uraufgeführt wurde. Er kam allerdings nur mit wenigen Kopien in den Verleih, weshalb das breite Publikum kaum eine Chance hatte, ihn zu sehen.

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Merle Müller: ZEUGNISSE AUS DER RITUELLEN GEWALT (Erster und zweiter Teil)

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Organisierte Rituelle Gewalt umfaßt physische, sexuelle und psychische Formen von Gewalt, die planmäßig und über lange Zeiträume ausgeübt werden, teilweise im Rahmen von Zeremonien / Ritualen. Die Opfer werden psychisch konditioniert, um sie gefügig zu machen für Kinderpornografie, Zwangsprostitution, teilweise auch satanistisch begründetem Morden an Babys.
Infolge der seit frühester Kindheit erfahrenen Traumatisierungen kommt es bei den Opfern häufig zur Ausbildung der Dissoziativen Identitätsstruktur (DIS, "Multiple Persönlichkeit"). Diese letzte Möglichkeit der Psyche, sich zu schützen, wird von Tätern ausgenutzt, um einzelne Persönlichkeitsanteile für bestimmte Zwecke einsetzen zu können. In diesem Zusammenhang berichten Betroffene von Konditionierungen, mit deren Hilfe "Programme" (posthypnotische Befehle oder Befehlsketten) verankert wurden (Mind Control). Auf diese Weise werden Opfer auch zu Gewalthandlungen gezwungen.
Aussagen über das Täterverhalten sind aufgrund von dissoziativer Abspaltung (Amnesie) sowie der durch Täter geschürten Drohungen, aber auch Schuld- und Schamgefühle der Opfer oft nur im Rahmen psychotherapeutischer Aufarbeitung möglich. Geheimhaltung, teilweise Anonymität von Tätern, Unbekanntheit der Tatorte und der oft große zeitliche Abstand erschweren eine strafrechtliche Verfolgung.

Merle Müller ist 40 Jahre alt, auch sie ist Viele (hat eine Dissoziative Identitätsstruktur). Seit dem dritten Lebensjahr ist sie der sexualisierten Gewalt ausgeliefert, – zunächst durch einen Großvater, dann durch den Vater, der schon das kleine Kind an Kumpane weitergegeben hat. Wie bei anderen Opfern von inzestuöser sexualisierter Gewalt gehörten neben solchen Drohungen auch Tiertötungen und darauf bezogene Morddrohungen und teufliche Doppelbotschaften zu den ersten Konditionierungen.
Konsequent wurden in der Kindheit durch die Täter dissoziative Abspaltungen (Persönlichkeiten, Anteile) "hergestellt" (im allgemeinen durch bewußt herbeigeführte Todesangst/Panik) und zu bestimmten Aufgaben konditioniert.
Merle & Co. und andere Opfer solcher Tätergruppen sind lebenslang versklavt, sie kennen es nicht anders, als daß sie Objekt sind, daß es ihr Daseinszweck zu sein scheint, die Forderungen anderer zu erfüllen. Sobald sich Widerstand regt, wird die Schraube der Folter, des Terrors mal kurz angedreht; so ist es noch heute.

Bei Merle & Co, die nur in sehr eingeschränkter Weise erwachsen werden konnte, lebt letztlich noch immer die kreatürliche, kindliche Erwartung, daß tatsächlich zeitnah geholfen wird, sobald Außenstehende von den Schrecklichkeiten erfahren und "es glauben". Demgegenüber sahen und sehen sich Merles Persönlichkeiten einer Flut von organisatorisch-administrativen Zusammenhängen und Begründungen gegenüber, die alle darauf hinauslaufen, daß Hilfe auch jetzt noch von unübersehbar vielen Bedingungen abhängt und sozusagen in den Sternen steht. Das wirkt wie Verhöhnung durch denjengen, der doch beteuert, daß er helfen will!

"Ich kann nicht verstehen, warum die mich nehmen!? Was an mir falsch ist! Was mich so billig macht! Bin ich so viel dümmer, als die anderen? Es geht nicht in meinen Verstand, wie Menschen, Kinder wie Scheiße, wie Dreck, wie Abfall behandeln, benutzen können? Ständig stelle ich mir die Frage, was ich gemacht habe? Zu böse war?" – Nele (12) war zu diesem Zeitpunkt noch in der Realität der Kindheit. Der gleichalte Anteil Doris ist dagegen bereits in der Gegenwart und erinnert sich an die Kindheit, in der sie zu anderem Zweck als Nele konditioniert wurde: "Gut vielleicht bin ich ein Spätentwickler aber das die ganzen bösen Menschen mit mir Sex machen wusste ich da nicht das es falsch ist. Eben erst jetzt durch dich. Ich erinnere an einen Satz. Das machen nur die mit dir die dich ganz besonders liebhaben! Es ging darum es keinem zu sagen weil die mich dann nicht mehr lieb haben werden sondern nur sehr böse auf mich werden."

Was Opfer von jahrelanger, seit der Kindheit bestehender sexualisierter Gewalt abhält, Hilfe zu suchen, ist bei Merle & Co. und wohl auch bei anderen Opfern nicht vorrangig die Gewalt, der sie selbst ausgesetzt sind. Es gibt andere Faktoren, die jedoch manchmal zu wenig berücksichtigt werden von HelferInnen aller Professionen. Die Überzeugung, selbst schuldig geworden zu sein, selbst böse zu sein, Hilfe nicht zu verdienen, steht an erster Stelle. Dabei spielen ungewollte sexuelle Empfindungen während der sexualisierten Gewalt eine entscheidende Rolle. Scham, die Überzeugung, Außenstehende könnten sich vor ihnen nur ekeln, aber auch die Überzeugung, sie seien genauso böse wie die Täter. Dann die jahrzehntelange Erfahrung, daß Außenstehende, deren Aufgabe das Helfen ist, nicht zuhören, nichts verstehen und fehlinterpretieren. Bürokratische Mechanismen und organisatorische Begrenzungen wirken sich aus, als steckten Täterinteressen dahinter. Zumal Täter ihnen einreden, daß niemand sich für ihr Schicksal interessiert bzw. Behörden, Polizisten zu ihnen (den Tätern) gehörten. Eine andere, kaum überwindbare Hürde sind Drohungen der Täter, Angehörigen zu schaden, sie zu töten, falls das versklavte Opfer auszusteigen versucht.

Nur in Kooperation möglichst vieler Anteile kann die Befreiung von den Tätern (durch Mithilfe äußerer Helfer) organisiert werden. Jedoch ist das dazu nötige Co-Bewußtsein, also das Auflösen amnestischer Barrieren, bei bestehender Tätergewalt nur sehr eingeschränkt möglich, da ja gerade die amnestischen Abspaltungen das seelische Überleben angesichts der tagtäglichen brutalen Gewalt ermöglicht hat; – ein Teufelskreis (nicht der einzige)!

Ein besondere Schwierigkeit liegt (wie meist zu Beginn der therapeutischen Arbeit mit Multis) darin, der bisherigen Außenpersönlichkeit die Realität der Tätergewalt zu vermitteln. Merle ist am Funktionieren eines konventionellen Alltags, an den guten, liebevollen Aspekten des Lebens orientiert, ist ihrer Tochter wertschätzend, achtsam zugewandt: "Ich will doch nur eine Mama sein." Wie sollte sie die grauenhaften Tatsachen damit vereinbaren?! "Das was ich träume, kann unmöglich wirklich sein! Das ist zu schrecklich!!!!" Andererseits war sie für lange Zeit die einzige an der Außenwelt orientierte erwachsene Teilpersönlichkeit, insofern unverzichtbar für die Organisation der Befreiung.

Die Opfer sind seit ihrem Lebensbeginn isoliert von der ganzen menschlichen Gemeinschaft – sie wissen kaum etwas von ihr, gehen davon aus, die ganze Welt ist so wie die Täter. Es ist die reale Hölle, in der sie sich fühlen. Sie können sich niemandem offenbaren. Und viele von ihnen (vor allem die kindlichen Anteile) denken, sie selbst seien schuld an dem Schrecklichen. Sie tun fast alles nur mögliche, um die Bezugspersonen zufriedenzustellen, geliebt zu werden von ihnen. Der Anführer der Tätergruppe, die Merle & Co. versklavt, läßt sich aus gutem Grund "Vati" nennen. – "Vati nimt mit Past auf läst nicht allein hat ganz lieb Mus nur lieb sein nichts Sagen dürfen fein spilen dan tut nicht so weh artig sein", schreibt ein Kinderanteil im Flashback.
Daneben gibt es noch ein anderes, genauso wirkungsvolles Druckmittel, das solche Täter ihren Opfern seit der frühen Kindheit einbleuen: die Drohung, andere zu schädigen, die dem Opfer lieb sind. Bei Merle & Co. war das zunächst ein Meerschweinchen, das der Vater vor den Augen der Siebenjährigen tötete. Später wurde eine Katze gequält, aber bald kam die Drohung: "Das was ich mit dir mache ist noch lange nicht alles! Es hört nicht auf! Keiner hilft. Du sagst kein Wort sonst tun wir dasselbe mit deiner Schwester! Das alles ist allein deine Schuld! Du wolltest es so! Sei still sonst schlitze ich dich auf!"

Wir alle entwickeln in der Kindheit und Jugend Vorstellungen von uns selbst, von anderen Menschen und von der Welt, dem Leben, die auf unseren (kindlichen) Erfahrungen einschließlich der "pädagogischen" Einwirkungen anderer beruhen (theory of mind). Wenn jemand bereits als Kind in einer nahezu hermetischen Täter-Hölle ohne auch nur einigermaßen freie Entfaltung des Bewußtseins in die Welt hinaus aufwächst, kann sich bei ihm nur eine spiegelbildliche, ebenfalls hermetische, rekursive und dichotomische theory of mind entwickeln. Dies wird in der vorliegenden Dokumentation deutlich. Auch aus diesem Grund müssen wohl nicht wenige erwachsene Opfer entsprechender Tätergruppen als hilflose Personen verstanden und entsprechend (auch gemäß SGB XII) unterstützt werden.

Viele Anteile bei Merle & Co. wollen befreit werden, würden auch aussagen vor den Strafverfolgungsgehörden – wären da nicht die Drohungen der Täter, in diesem Fall die Tochter Amelie zu töten. Seit früher Kindheit haben Täter den Anteilen bewiesen, daß sie töten können. Zuerst ein Meerschweinchen, dann eine Katze, dann das erste eigene Kind, da war Merle zwölf Jahre alt. Später andere Babys, fremde wie auch eigene.

Die Existenz der Organisierten Rituellen Gewalt wird mittlerweile kaum mehr bestritten; Strafverfolgungsbehörden verweisen jedoch auf die Schwierigkeit, beweisbare Tatbestände zu finden. Nachvollziehbar, wenn die Taten viele Jahre in der Vergangenheit liegen. Hier aber geht es um gegenwärtige, tagtägliche Schrecklichkeiten! Es geht um den Hilferuf eines Opfers an die Gesellschaft, deren zufällige Adressaten die Fachkräfte der Traumastation einer Universitätsklinik und ich sind.
Befreiung in dieser Situation erfordert die tätige Unterstützung staatlicher Institutionen. Es geht um dauerhaften Schutz für Mutter und Tochter. Das ist von einzelnen HelferInnen nicht zu leisten, hierfür bedarf es der organisatorischen Kooperation verschiedener staatlicher und gemeinnütziger Stellen. Dies wiederum setzt zumindest grundlegende Kenntnisse über die psychische Situation entsprechender Überlebender voraus. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist, daß solche Opfer in mancher Hinsicht keine selbstverantwortlich entscheidungsfähigen Erwachsenen sind, sondern hilflose Personen. Dies auch dann, wenn einzelne dissoziative Anteile sehr kompetent sind innerhalb ihrer Aufgaben im Alltag. Hilflose Person ist allerdings nicht im Sinne einer psychischen, somatischen oder kognitiven Beeinträchtigung zu verstehen, vielmehr eher so, wie Kinder hilflos sind.

Anlaß dieser Veröffentlichung ist es, Merle Müllers Hilfeschrei einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, – den Menschen die Augen zu öffnen, wie Doris mehrfach betont hat. Ist es möglich, daß in einem der reichsten Länder der Erde die öffentlichen, staatlichen Stellen solche Opfer ihrem Schicksal überlassen – oder der zufälligen und unzureichenden Unterstützung einzelner TherapeutInnen und Angehöriger? Daß das staatliche Gewaltmonopol hier nicht tätig wird? Daß die polizeiliche Aufgabe der Gefahrenabwehr hier nicht trägt?
Die Mails von Merle & Co. stehen für ungeschriebene Zeugnisse hunderter Opfer. Zu wenig, um staatliches Handeln zu rechtfertigen?

Ein weiterer Schwerpunkt dieser Veröffentlichung ist es, die konkrete Situation, die Reflexion, das Empfinden von Menschen (zumeist Frauen) zu verdeutlichen, die von Tätergruppen des organisierten Verbrechens versklavt werden: Menschenhandel, Zwangsprostitution, Rituelle Gewalt, Mind Control. Das sind nicht einfach Menschen mit einer abgrenzbaren und dignostizierbaren "Störung", sondern jede von ihnen ist eine menschliche Ganzheit, die in schwer nachvollziehbarer Weise in jeder Minute um ihre Integrität, letztlich um ihr Überleben kämpft. Und dies nicht in afrikanischen oder asiatischen Kriegsgebieten oder verirrt im Dschungel, auch nicht im KZ der Nazis, sondern hier unter uns, umgeben von Mitmenschen … und doch wie unsichtbar. Im öffentlichen Diskurs kommen sie nicht (oder kaum) vor. Niemand kommt auf sie zu und reicht ihnen die Hand. Noch immer lebt tief in ihrem Innern die Überzeugung, daß "helfen" etwas Natürliches ist, ein Grundbestandteil des menschlichen Lebens, – aber es geschieht nicht. Niemand hilft, Jahr um Jahr nicht. Institutionalisierte HelferInnen wenden sich ab, sofern das entsprechende Betreuungssetting von den Betroffenen nicht genutzt werden kann oder sobald die Finanzierung ausläuft. "Wenn nicht der größte Teil der Innenpersönlichkeiten die Befreiung von den Tätern befürworten und unterstützen, ist ein Ausstieg, ist Therapie nicht möglich." So oder ähnlich steht es in Fachbüchern. Aber der Satz ist unvollständig. Ein Ausstieg ist dann angesichts der kaum vorhandenen staatlichen Unterstützung nicht möglich! – Derselbe blinde Fleck mußte überwunden werden, als es um die schulische Integration (später: die Inklusion) körperlich wie psychisch und kognitiv beeinträchtigter Mitmenschen ging. Wer würde infrage stellen, daß Merle Müller (und viele andere Überlebende derartiger jahrezehntelanger Folter und Konditionierung/Mind Control) zu dem durch die Behindertenrechtskonvention der UN gemeinten Personenkreis gehört?

Durch das hier vorliegende Zeugnis wird nachvollziehbar, daß das Eingreifen von Strafverfolgungsorganen bei erwachsenen Opfern von Ritueller Gewalt (mit DIS) sich orientieren muß an kindlichen Opfern von Straftaten: es kann nicht gewartet werden, bis das Opfer selbst sich äußert – aufgrund der Ängste und der entwicklungspsychologischen Struktur des Persönlichkeitssystems wird dies eventuell nie geschehen. Für Opfer von Ritueller Gewalt bei bestehender Tätergewalt sind spezielle Anlaufmöglichkeiten nötig. Geschützte Lebenssituationen und interdisziplinäre Vernetzungen müssen zur Verfügung stehen bereits vor der Befreiung. (Dies gilt analog zu Opfern von Zwangsprostitution, die als Erwachsene eingeschleust wurden.) Schutz, auch von eventuellen Kindern (die als Drohung genutzt werden), muß vorrangig sein (analog zu Frauenhäusern). – Die gnadenlose soziale Isoliertheit solcher versklavten Opfer (jedenfalls der allermeisten Persönlichkeitsanteile) ist ein Grundproblem, das Fehlen jeder Erfahrung mit der konventionellen Alltagswelt ein anderes. Wegen der durchgängig schlechten Erfahrungen mit anderen Menschen gibt es kaum Hoffnung auf Hilfsmöglichkeiten in der Außenwelt. Durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit sollte sowohl die Existenz solcher Tatzusammenhänge als auch von Anlaufstellen verbreitet werden. Die Tabuisierung des Themas – weil wir alle solche Schrecklichkeiten nicht wahrhaben wollen und eventuell auch aus anderen Gründen – muß aufgelöst werden.
Menschen in der Gewalt solcher Täterkreise, seien sie noch Kinder oder schon (nominell) Erwachsene, fallen offenbar durch das Netz der administrativen Unterstützungsmöglichkeiten. "Wir tun alles Menschenmögliche!" heißt es häufig bei polizeilichen Pressesprechern, sofern Gewaltverbrechen öffentliche Aufmerksamkeit erreichen. Gilt dies auch bei Gewaltopern wie Merle Müller?

Traumatherapeutische Fachbücher zum Thema Organisierte Rituelle Gewalt sind unersetzbar, über die subjektiven Empfindungen von Opfern können solche Veröffentlichungen kaum etwas vermitteln. Die Realität von multiplen Teilpersönlichkeiten in ihrer (Mit-) Menschlichkeit, ihrem Alternieren zwischen innen und außen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen unterschiedlichen Quellen von Erfahrung und Wissen wird für uns "Unos" (nicht multiple Menschen) wohl immer extrem schwer nachzuempfinden, also letztlich: glaubhaft sein. Eine grundlegende affektive Nähe zu solchen Betroffenen dürfte jedoch Voraussetzung sein, um Opfer extremer Gewalt mit DIS nachhaltig zu unterstützen. Autobiografische Zeugnisse, Selbstberichte und auch die hier vorliegende Dokumentation sind für TherpeutInnen und andere HelferInnen unverzichtbare Ergänzungen der konzeptionell und notwendigerweise verallgemeinernd angelegten Fachveröffentlichungen.

Was tun also? Die Augen zumachen, Merle Müller (und andere Opfer in vergleichbarer Situation) ihrem Schicksal überlassen – mit Verweis auf die Beschränktheit der sozialen, staatlichen, finanziellen, politischen, individuellen Hilfsmöglichkeiten? Gehen die Interessen der Täter und unsere (diejenigen der ganz normalen Bürger) hier konform? Zumindest in ihrer gnadenlosen, bewußt-losen Orientierung an einer beziehungslosen Sexualität sowie an der finanziellen Verwertung von Menschen um jeden Preis stehen diese Täter der gesellschaftlichen Normalität grundsätzlich näher als ihre Opfer.
(Aus der Einleitung)

Die beiden umfangreichen Teile der Dokumentation enthalten den (helferischen und freundschaftlichen) Mailaustausch zwischen verschiedenen Teilpersönlichkeiten von Merle Müller und mir aus den Jahren 2017 und 2018. Der Kontakt besteht fort.

Zusammenfassung in der Fachzeitschrift TRAUMA (Asanger Verlag) - hier!


Merle Müller ist noch immer in der Gewalt der Täter.

Erster Teil: WIRD KEINER HELFEN ?
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Zweiter Teil: VATI HAT MICH !
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VERLAG LAMBERT SCHNEIDER / LOTHAR STIEHM VERLAG (1925–1999)

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Die vorliegende Veröffentlichung entstand in der Überzeugung, daß die Welt der Verlage Lambert Schneider und Lothar Stiehm ein bewahrenswertes Moment der deutschsprachigen Kulturgeschichte ist, ebenso wie andere, in der Öffentlichkeit bekanntere Verlage. Lambert Schneiders hier wiederveröffentlichter Almanach (RECHENSCHAFT), die dokumentierten Verlagsverzeichnisse sowie beigegebenen Texte (auch von Lothar Stiehm) laden ein, Zusammenhänge, Interdependenzen, Spannungen, Widersprüche, Koinzidenzen zu erkunden zwischen Zeugnissen, die in ihrer je eigenen Weise menschliches Sein ausloten und großenteils noch heute lesenswert sind, die teilweise atemberaubend radikal, manchmal aber auch irritierend fern anmuten. "Ich war stolz darauf, daß meine Autoren originelle Außenseiter waren und Dinge auszusagen hatten, die man von den Lehrstühlen herab nicht hört." (Lambert Schneider) Aus der nur selten kommerziell begründeten Einladung der Verleger an potentielle AutorInnen entstand zwischen 1925 und 1991 eine imaginäre Gemeinschaft, die in mancher Hinsicht kostbares Potential ist, Grenzen des Denkens zu überschreiten. –

Zu entdecken gibt es eine Fülle judaistischer, christlich-theologischer und philosophisch-psychologischer Publikationen. Hier nur einige Namen: Leo Schestow, Blaise Pascal, Albert Schweitzer, Martin Buber, Viktor v. Weizsäcker, Karl Jaspers, Ludwig Binswanger.

Gleich nach 1945 öffnete Lambert Schneider seinen Verlag konsequent der (auch politisch gewichteten) Frage nach den Verbrechen, die in deutschem Namen und unter Mitwirkung zigtausender Deutscher begangen worden waren; auch zu diesem Bereich einige Namen: Alexander Mitscherlich, Michael Brink, Gustav Radbruch, Alfred Weber, Dolf Sternberger, Anne Frank, Else Lasker-Schüler.

Nach Schneiders Tod 1970 wurde der Verlag von Lothar und Christa Stiehm übernommen. Dabei wurde der seit 1966 bestehende Lothar Stiehm Verlag mit dem VLSch verbunden. Vor allem im Lothar Stiehm Verlag erschienen eigenwillige literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen: Sigrid Bauschinger (ELSE LASKER-SCHÜLER) , Franz Büchler, Christian Friedrich Daniel Schubart (DEUTSCHE CHRONIK 1774–1777), DEUTSCHE INTELLEKTUELLE 1910–1933, Dietmar Goltschnigg (MYSTISCHE TRADITION IM ROMAN ROBERT MUSILS. MARTIN BUBERS "EKSTATISCHE KONFESSIONEN" IM "MANN OHNE EIGENSCHAFTEN"), Rainer Nägele (LITERATUR UND UTOPIE. VERSUCHE ZU HÖLDERLIN), William H. Rey (POESIE DER ANTIPOESIE. MODERNE DEUTSCHE LYRIK, 1978), Johannes P. Kern (LUDWIG TIECK – DICHTER EINER KRISE), Wiebrecht Ries (TRANSZENDENZ ALS TERROR. EINE RELIGIONSPHILOSOPHISCHE STUDIE ÜBER FRANZ KAFKA, 1977), Marianne Thalmann (Romantik, 3 Bände), Dieter Wyss (DER SURREALISMUS), Klaus Voswinckel (VERWEIGERTE POETISIERUNG DER WELT) und anderes.

Mehr oder weniger bewußt suchen wir alle unser Leben lang die Wahrheit der Welt, die auch in uns selbst bewahrt ist, die wir nur in uns selbst finden – aber kaum je vermitteln können. Der Verlag Lambert Schneider/Lothar Stiehm Verlag war ein virtueller Treffpunkt für Suchende. Aber auch die Wörter, die Bücher sind ja nicht Wahrheit, vermitteln höchstens Ahnungen, geben Fingerzeige. Die Suche geht weiter.

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Sándor Ferenczi: INFANTIL-ANGRIFFE! – ÜBER SEXUELLE GEWALT, TRAUMA UND DISSOZIATION

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First edition of all trauma-related lectures and notes of Sándor Ferenczi (in German), download for free (pdf). - Première édition de toutes les conférences et notices de Sándor Ferenczi (en allemand) liés au traumatisme, à télécharger gratuitement (pdf).

1896 formulierte Sigmund Freud den Zusammenhang gewisser "schwerer neurotischer Erkrankungen" mit unangemessenen (traumatischen) "sexuellen Erfahrungen am eigenen Leib, (...) geschlechtliche(m) Verkehr (im weiteren Sinne)" im Kindesalter, initiiert durch Erwachsene. Im Jahr 1905 distanziert er sich erstmals öffentlich von seiner (damals sogenannten) "Verführungstheorie". Die Möglichkeit folgenschwerer sexueller Traumata im Kindesalter wurde von nun an in der psychoanalytischen Therapie konsequent vernachlässigt, teilweise sogar geleugnet.

Als einziger Psychoanalytiker um Freud versuchte der ungarische Arzt Sándor Ferenczi (1873-1933), diese verhängnisvolle Weichenstellung der psychoanalytischen Theorie zu verhindern. Ferenczi fühlte sich aufgrund seiner Erfahrungen mit bestimmten PatientInnen gezwungen, zurückzukehren zu Freuds Annahmen von 1896 und von dort aus neue theoretische Konzeptionen und therapeutische Methoden zu suchen. Schrittweise bilden sich seine Erkenntnisse und Erfahrungen zum Problem früher Realtraumatisierungen in seinen letzten Lebensjahren ab in mehreren Veröffentlichungen sowie in seinem privaten Klinischen Tagebuch und einzelnen Notizen.

Etliche Fallvignetten und Reflexionen in den hier dokumentierten Vorträgen und privaten Notizen lassen den Schluß zu, daß unter Sándor Ferenczis frühtraumatisierten PatientInnen Betroffene mit Borderline-Syndrom, Dissoziativer Identitätsstörung (DIS) und DDNOS waren. Es wird deutlich, wie er das Prinzip der traumabedingten Dissoziation aus seinen therapeutischen Erfahrungen mit in der Kindheit sexuell traumatisierter Patientinnen heraus verstehen lernt. Nach Pierre Janet (und Freud in jener allzu kurzen Episode ab 1896) scheint Ferenczi tatsächlich weltweit der erste gewesen zu sein, der konsequent und stringent das Wesen von Psychotrauma und den therapeutischen Umgang damit erkundet hat!

In seinem hier auszugsweise dokumentierten Spätwerk beruft Ferenczi sich auf die Grunderfahrungen von Güte, Authentizität, Bescheidenheit und Takt. Damit legt er den Grundstein zu einer intersubjektiven Haltung, einer Zwei-Personen-Psychologie, im Gegensatz zur bis dahin in der Psychoanalyse vorherrschenden Ein-Personen-Psychologie.

Sándor Ferenczi, der allzu lange verdrängte bedeutende psychotherapeutische Praktiker und Theoretiker, wird zunehmend wieder-, in mancher Hinsicht erstmalig entdeckt. Wissenschaftliche Institutionen und Publikationen widmen sich Ferenczis psychoanalytischem Vermächtnis (keineswegs nur traumabezüglich). Im Mai 2015 fand eine Internationale Ferenczi-Konferenz (mit dem Schwerpunktthema Trauma) in Torono (Kanada) statt.

Aus gutem Grund hatte traumatherapeutische Forschung und Praxis sich zunächst längere Zeit relativ weit weg von der Psychoanalyse entwickelt. Die Lektüre der hier dokumentierten Arbeiten Ferenczis ruft vielleicht nicht nur bei mir etwas von dem Abenteuer Psychoanalyse wach. Und macht neugierig auf Beiträge der neueren psychoanalytisch begründeten Forschung und Praxis zur Traumatherapie – auch, aber nicht nur auf Grundlage der Arbeit Sándor Ferenczis.

Das in 125 Jahren psychoanalytischer Forschung und Praxis gewachsene Verständnis für die psychodynamische Vielfalt und Komplexität des Menschen (zumindest in unserer Zivilisation) und insbesondere die damit verbundene entwicklungspsychologische und beziehungstherapeutische Kompetenz kann sich heutzutage austauschen mit den Forschungsergebnissen, den Konzeptionen und therapeutischen Erfahrungen der neurophysiologisch-eklektischen Psychotraumatologie, vor allem im Hinblick auf schwerste Traumatisierungen, sowohl im Kindesalter (familiär oder durch Fremde, mit den Folgen der Strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit ) als auch bei Akuttraumatisierungen Erwachsener. Sándor Ferenczis therapeutische Aufmerksamkeit ging jedenfalls in beide Richtungen.

Die hier vorliegende erstmalige Zusammenstellung aller traumatherapeutisch relevanten Arbeiten Sándor Ferenczis möchte bescheiden beitragen sowohl zur derzeitigen Neuentdeckung dieses Mitbegründers der Traumatherapie als auch zum Brückenschlag zwischen psychoanalytischer Traumatologie und Psychotraumatologie.

Die Ausgabe enthält Einführungen des Herausgebers Mondrian v. Lüttichau auch zu den einzelnen Texten.

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Martin Buber: DANIEL. Gespräche von der Verwirklichung

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Diese erste größere veröffentlichung des jüdischen religionsphilosophen martin buber (1878-1965) entstand während seiner berliner jahre; die erstausgabe erschien 1913.

Vorrangig geht es im 'Daniel' um das konkrete und existenzielle leid von entfremdung und verdinglichung und um das bewußtsein einer gegenbewegung hierzu: "Diese Menschen sind verkürzt, Ulrich, verkürzt in dem Recht der Rechte, dem gnadenreichen Recht auf Wirklichkeit." - Es ist das problembewußtsein von intellektuellen und künstlern zu beginn des 20. jahrhunderts, das allerdings bald zersplitterte in unterschiedliche blickwinkel und ideologische fronten (proletarischer kampf, lebensreformbewegung, spiritualität, expressionismus, frauenbewegung, nationalismus, rassismus).

In den folgenden Jahrzehnten wurde buber zum wiedererwecker der chassidischen religiosität und bibelübersetzer, zum kritischen zionisten und (mit-)begründer des dialogischen prinzips, zum anarchisten und religiösen sozialisten, zum mittler zwischen deutschland und israel, zwischen juden und arabern. "Ich habe keine 'Lehre'. Ich habe nur die Funktion, auf solche Wirklichkeiten hinzuweisen. Wer eine Lehre von mir erwartet, die etwas anderes ist als eine Hinzeigung dieser Art, wird stets enttäuscht werden", betont buber. - Dabei bleiben sämtliche aspekte und blickwinkel des vielschichtigen lebenswerks untrennbar aufeinander bezogen. Möglicherweise sind gewisse lebenslange untergründige intentionen buber in  den frühen 'Gesprächen von der Verwirklichung'  für heutige leserInnen leichter auffindbar als in den sogenannten hauptwerken.

Kontemplative rückbezogenheit (religio) steht wohl lebenslang im hintergrund von bubers kreativität; im 'Daniel', einem fast intimen mehrstimmigen selbstgespräch des 35jährigen, bestimmt sie noch die darstellung. Von daher zeigen diese 'Gespräche von der Verwirklichung' die entfaltung des dialogischen prinzips aus mystischem einheitsempfinden, bei buber nicht zuletzt auf grundlage seiner beschäftigung mit chassidischen überlieferungen, als plausible und organische entwicklung.

Mit seiner lebenslangen, tiefgründigen achtsamkeit für möglichkeiten von begegnung steht auch buber in der gegenbewegung zur gesellschaftlichen verdinglichung des lebens. In vielen facetten ausdifferenziert, finden sich in seinem werk hinweise auf die dem menschen mitgegebene fähigkeit, zu antworten auf alles, was ihm von der welt entgegenkommt, - eine autonomie, von der auch theodor w. adorno spricht, wenngleich aus anderem blickwinkel.

Kennengelernt hatte ich martin bubers werk 1981, als mitarbeiter im Verlag Lambert Schneider. Bald empfand ich den 'Daniel' als verborgenes herz seiner arbeit. Noch immer möchte ich nicht hinnehmen, daß das büchlein verloren sein soll für die öffentliche aufmerksamkeit, abgetan als jugendwerk! Wäre von buber nichts anderes überliefert, so würde der 'Daniel' möglicherweise in jeder generation neu entdeckt..

Nachwort: Mondrian v. lüttichau

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LEBEN IN MOLL - Marys Geschichte

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Marys lakonischer Bericht über ihre schlimme Kindheit, kursierte in den Jahren ab 2000 im Netz. Vor allem Traumaüberlebende haben ihn weiterverbreitet, manchmal ausgedruckt. – Am Anfang einer Lebenskatastrophe stehen oft, wie bei Mary, familiäre Umstände, an denen niemand schuld hat. Eine Mutter stirbt. Der Vater steht alleine da mit den Kindern; die Stabilität seines Lebens ist zerstört. Sowas ist "normal"; abgesehen von administrativ vorgegebenen (finanziellen) Hilfen muß mit so einem Schicksalsschlag jeder allein fertigwerden. Marys Vater ist überfordet; Schritt für Schritt bricht seine Persönlichkeit auseinander: Alkohol schläfert das Bewußtsein seines Versagens ein, krasser Eigennutz breitet sich aus. – Auf der anderen Seite stehen Jugendämter und Kinderheime, die zweifellos "ihre Pflicht erfüllen"… aber auch nicht mehr als das tun, was ihnen gesetzlich vorgeschrieben ist. – Der dritte Faktor sind potentielle Pflegeeltern, die aus durchaus unterschiedlichen Gründen Kinder annehmen wollen...

So geht es weiter, Schritt für Schritt verlieren Kinder aus solchen Lebensumständen ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft, fühlen sich nur als Objekte unvorhersehbarer Mächte. Sie lernen, unter diesen Umständen – oft ohne auch nur eine Vorstellung von Geborgenheit, Zuwendung, Nähe – immerhin zu überleben.

Das reicht schon, um Menschen für ihr ganzes Leben irreparabel zu schädigen. Kinder aus solchen Sozialisationsbedingungen haben nicht gelernt, sich abzugrenzen – oder auch nur die Legitimität der persönlichen Abgrenzung zu spüren. Im allgemeinen gehen sie davon aus, daß sie "selbst schuld" sind, wenn ihnen von anderen Leid zugefügt wird. Oft mußten sie in der Kindheit lernen, schlimme Erfahrungen aus dem Bewußtsein abzuspalten (Dissoziation); so erkennen sie auch im späteren Leben gar nicht, wenn andere sich ihnen gegenüber menschenverachtend verhalten. Sie werden leicht zu hilflosen Opfern aller Formen von sexualisierter Gewalt.

Bis heute habe ich kaum andere Texte gefunden, die uns so hautnah die gnadenlose Hilflosigkeit, die Ausgesetztheit eines solchen Kindes (und seiner Geschwister) vermitteln könnten. Mary hat ihren Bericht für viele andere kindliche Opfer und erwachsene Überlebende geschrieben. Und er kann Mut machen.

(Nachwort)

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Kurt Münzer: DELA GARD oder KUNST UND LEBEN IN BERLIN

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Aus dem milieu einer assimilierten jüdischen familie (wie kurt münzers elternhaus es war) erwächst adelaide (dela), die erste hauptfigur des berliner geschehens: "Was geht es einen weiter an, was Fremde denken! Mutter und Tanten und Kaufleute! Das kleine Mädchen fühlt, daß gar kein Zusammenhang da ist zwischen ihr und irgendwelchen anderen. Mutter und Tanten, das sind wohl auch nur Namen und Titel wie Kaufmann oder Doktor oder Müller und Lehmann. Oder Mutter ist eben ein Beruf, zu pflegen und zu unterrichten und zu behüten. Jedes Kind hat so eine Frau, die es ernährt, oft haben auch mehrere zusammen eine, was aber für beide Teile weniger hübsch sein muß. (…) Eltern – das kleine Mädchen kennt dieses Wort nur als einen Begriff. Sie ist neun Jahre und weiß, daß jeder allein ist."

Bäume und blumen, wind, sonne und regen: natur bildet ihre brücke zur großstadt berlin. An vertrautes anknüpfende eindrücke – regenfeuchte straßen, lichter aus den fenstern, klavierübungen aus einer fremden wohnung, schwere schritte auf dem hof, lachende kinder, der geruch aus einem geschäft – geleiten zu unvertrauten, nicht zuletzt zur vielfalt der menschen – ihrer mimik und körpersprache, ihren empfindungen und ihrer lebensweise, zur choreografie ihrer kommunikation. Aber noch lange zeit steht dela gard diesem mitmenschlichen leben fremd gegenüber … allein ihre augen sind offen für das leben der stadt.

Münzers romane (und schon dieser) sind voller tragischer konstellationen – also kaum etwas für heutige lese-, denk- und empfindungskoventionen. Andererseits führen seine geschichten über die tragik hinaus: wenn die protagonistInnen nur ihre individualität annehmen würden: "Da zerbrechen sie sich den Kopf um allgemein gültige Lebensformen. Gönnt doch jedem sein besonderes Schicksal!" Darin gehört er zur avantgarde. Münzers tiefes verständnis für die gesellschaftliche situation von frauen, ihre gefangenheit in den vorgaben der frauenrolle, ihre erfahrung von männlicher selbstherrlichkeit und vergewaltigung (auch in der ehe) macht ihn zum feministischen autor.

In einigen romanen kurt münzers ist BERLIN die eigentliche hauptfigur, verabscheut und geliebt, aber immer im bemühen, sie zu fassen, zu begreifen, sie in der künstlerischen formung zu bewältigen. – Hier ist es berlin als stadt der bauinvestoren und -spekulanten, die zeit der ausdehnung in den westen: tiergarten, kurfürstendamm, charlottenburg, kantstaße, wilmersdorfer straße, grunewald. Das berlin der wende zum 20 jahrhundert, ein "Exerzierfeld der Moderne" , wurde zum nährboden kritischer, kreativer individualisten – nicht sehr anders als jetzt, an der wende zum 21. jahrhundert, nach dem ende von westberlin & hauptstadt der DDR!

DELA GARD ODER KUNST & LEBEN IN BERLIN ist der roman des neuen berliner westens mit seinen neureichen und den selbsternannten künstlerischen und intellektuellen avantgardisten, – wie alfred döblins BERLIN ALEXANDERPLATZ (19 jahre später) zum roman der berliner mitte wurde. Es ist ein roman der nach der wahrheit der welt, nach kreativem ausdruck, nach selbstbestimmung suchenden minderheit der jungen generation um 1900. Im rückblick gesehen, steht kurt münzers früher roman in mancher hinsicht am auftakt des 20. jahrhunderts in deutschland. Nicht zuletzt dokumentiert es den einstieg in die sogenannten wilden 20er jahre, den kulturellen generationswandels, der gewöhnlich erst mit dem ende des ersten weltkriegs, der revolution 1919 verbunden wird! – Was ist leben, was ist kunst, was daran ist wahr, was unwahr? Oder allgemeiner: "Was haben denn Leben und Kunst miteinander zu tun?" Zweifellos eine lebensfrage des autors, die noch in anderen werken zum ausdruck kommt.

Jede arbeit dieses autors weckt neu bei mir die frage, was war kurt münzer wohl für ein mensch? Im vorliegenden roman steht der nicht weiter erklärte satz: "Die anderen alle waren jeder ein einzelner Mensch, er allein war ein vielfacher." Und findet sich, ebenso isoliert, eine erfahrung des michael munk: "An kühlen Nachmittagen stieg er zum Weißenstein hinauf. In der Nacht erreichte er den Gipfel. Lichter über, Lichter unter ihm. Weit hinein ins Land verstreut, einzeln, in glänzenden Haufen, in langen Zügen, schienen sie ein Spiegelbild des Himmels. Zwischen zwei Himmeln stand er so im finstern Raum. Er war das schlagende Herz der grenzenlosen Nacht, die fühlende Seele des Universums. Alles Menschliche löste sich von ihm, und er empfand ganz die Gottheit, deren Symbol er war. Die Welt zog sich in ihm zusammen, in ihm verdichtete sich zu einem Einzigen das tausendfach gespaltene Leben. Er war das große Bewußtsein, und um ihn war das totale Nichts, der leer dunkle Raum, der wartete, von ihm belebt zu werden."

Der roman DELA GARD ODER KUNST & LEBEN IN BERLIN erschien 1910 unter dem originaltitel KINDER DER STADT. Dies hier ist, nach bald 100 jahren, die erste wiederveröffentlichung. Hinzugefügt wurden einige abbildungen aus dem damaligen berlin.

Von kurt münzer sind bei A+C bereits mehrere bücher wiederveröffentlicht worden! Siehe auch hier bei wikipedia.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: DU UND ICH. Beziehungsorientierte enthospitalisierung mit hindernissen

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Berichtet von der arbeit als heilpädagoge in einem enthospitalisierungsprojekt lebenslang fehlplazierter erwachsener aus einem (ost-)berliner psychiatrischen krankenhaus (WGK, 1995-98). Im vordergrund stehen die für derartige vorhaben typischen konflikte: Das bisherige betreuungsteam erlebt seine (an der gruppensituation orientierte) arbeit als entwertet, kann nur schwer kooperieren – was von den um individualisierte entwicklungsförderung bemühten enthospitalisierern zu wenig berücksichtigt wird. Dazu kam meine situation "als wessi" in einem zu diesem zeitpunkt noch vollständig DDR-sozialisierten umfeld. Unterschiedliches konflikt- und machtverhalten mußte erstmal als solches wahrgenommen werden. Trotz aller schwierigkeiten war das projekt im wesentlichen ein erfolg.

Das letzte drittel des buches enthält anonymisierte entwicklungsberichte über einzelne bewohnerInnen aus diesem projekt, um die konkrete heilpädagogische arbeit für außenstehende nachvollziehbarer zu machen.

Fünf jahre, bvor ich dort anfing, berichtete die TAZ so von unseren stationen (link)!

Übrigens entstehen derzeit wieder zunehmend vergleichbare einrichtungen, in denen "chronisch psychisch kranke" und "geistig behinderte" menschen bei unangemessener betreuung langzeithospitalisiert werden, - auch in berlin: http://www.tagesspiegel.de/politik/unter-ausschluss/7900466.html !

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Zivia Lubetkin: DIE LETZTEN TAGE DES WARSCHAUER GETTOS

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Mit einem Beitrag von Edith Laudowicz: Widerstand der Frauen im Warschauer Ghetto

 

Zivia Lubetkin (auch Cywia Lubetkin; Zivia Lubetkin-Zuckerman; Celina Lubetkin; Zivia Cukerman) (1914–1978) war eine jüdische Widerstandskämpferin im besetzten Polen, zionistische Funktionärin und Kibbuznik. Im Warschauer Ghetto war sie 1942 Mitgründerin der Widerstandsgruppe Jüdische Kampforganisation (ŻOB), die im Januar 1943 unter der Leitung von Mordechaj Anielewicz eine bewaffnete Widerstandsaktion gegen die Deportationen durchführte. Im April 1943 war sie eine Organisatorin beim Aufstand im Warschauer Ghetto.

Zivia Lubetkins Augenzeugenbericht DIE LETZTEN TAGE DES WARSCHAUER GETTOS erschien auf hebräisch bei En charod 1947, auf deutsch zunächst in "Neue Auslese". Hg. Alliierter Informationsdienst, 3. Jg. Heft 1, 1948, S. 1–13. Darauf folgte eine selbständige Publikation im VVN-Verlag, Berlin 1949. Als Nachwort wurde dort ein Artikel Friedrich Wolfs aus der Weltbühne hinzugefügt. Dieses Büchlein ist Quelle dieser erstmaligen Wiederveröffentlichung auf Deutsch.

Diese kostenfreie online-Ausgabe enthält neben Nachwort und Literaturhinweisen des Herausgebers einen Beitrag von Edith Laudowicz: Widerstand der Frauen im Warschauer Ghetto.

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Rachels & Blumen, Janik & Franzi , Laura & Nurse, Adele Anton: RITUELLE GEWALT, AUTISMUS UND MIND CONTROL – AUS UNSERER ERFAHRUNG

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Vier Überlebende von Organisierter Ritueller Gewalt sind Autorinnen dieser Veröffentlichung, alle mit Dissoziativer Identitätsstruktur (DIS). Drei von ihnen zeigen dazu unterschiedliche Symptome der sogenannten Autismus-Spektrum-Störung. –
Das Grauen, dem Babys, Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene (meist Frauen) in ideologischen, satanistischen, germanofaschistischen oder sonstigen Gruppen mit Ritueller Gewalt, Zwangsprostitution, psychischer Konditionierung und anderen Formen des organisierten Verbrechens ausgeliefert sind, kann sprachlich nicht angemessen dargestellt werden. Derlei nicht nur zu überleben, sondern darüberhinaus zu einer Form von Heilung zu finden, gelingt allenfalls in vielen Jahren, begleitet von sachkundigen TherapeutInnen und unterstützt von zugewandten HelferInnen, FreundInnen, Angehörigen und (nicht zuletzt) engagierten MitarbeiterInnen von Behörden, Institutionen und Initiativen. Die meisten Überlebenden finden nur wenig von alledem.

Rachel hatte Glück (im Unglück). Seit 1993 gelang es ihr, vierzehnjährig, sich immerhin schriftlich über das seit frühester Kindheit erfahrene traumatische Leid zu äußern. Von Anfang an wurde ihr geglaubt. Der Zugriff von Tätern wurde unterbunden (1995). Rachel hat die verläßliche Unterstützung der Eltern, von TherapeutInnen/Ärzten, EinzelfallhelferInnen (Persönliche Assistenz) und anderen.

Um seelisch zu überleben, entwickelte das Kind Rachel eine Dissoziative Identitätsstruktur (DIS), wie die meisten Opfer von Organisierter Ritueller Gewalt. Jede der unterschiedlichen traumatischen Situationen konnte nur von einem weitestmöglich abgegrenzten (= abgespaltenen, dissoziierten) Bewußtsein (oder Ich) ausgehalten werden. Viele dieser als Überlebenform genuin entstandenen Ichs werden von Tätern in deren Interesse zu bestimmten Tätigkeiten und Verhaltensweisen konditioniert. Oft werden weitere dissoziative Abspaltungen durch gezielte Folter herbeigeführt. Diese haben nur wenig Bezug zu gesunden, allgemeinmenschlichen Empfindungen und Bedürfnissen; sie sind weitgehend oder vollständig orientiert an der Welt der Täterinteressen (inverse Programmierung, Mind Control). Bei Rachel kam diese untergründige Ebene der Mind Control in unserer Therapie erst ab 2014 unübersehbar zutage, – nachdem bereits seit 25 Jahren kein Täterkontakt mehr besteht. In diesem Zusammenhang entstand die vorliegende Publikation.

Rachel galt in den ersten Lebensjahren als "geistig behindert", später wurde Autismus diagnostiziert. Aufgrund der schweren "Verhaltensauffälligkeiten" lebte sie in diesen Jahren in einem Behindertenheim. Durch Gestützte Kommunikation (FC) wurde ab 1993 deutlich, daß sie nichts weniger als kognitiv beeinträchtigt ist. Als in Rachels FC Botschaften zunehmend Hinweise auf sexuelle Gewalt auftauchten – und in Zusammenhang damit die Namen von Lauras Angehörigen –, wurde erst dies zum Auslöser für die Erinnerungen der Mutter an ihre eigene traumatische Kindheit.
Im Zusammenhang mit der Arbeit am ersten Buch UNSER SIEG ÜBER DIE RITUELLE GEWALT (2012, ebenfalls hier bei A+C erschienen) entstand 2011 per Mail die weiter anhaltende online-Therapie mit Rachel & Co.

Im Jahr 2014 öffnete sich eine neue Tür zur Freiheit durch Rachels freundschaftlichen Austausch mit Janik & Franzi, einer ebenfalls autistischen und multiplen Überlebenden von Ritueller Gewalt und Mind Control. Rachels & blumen, Nurse (eine Teilpersönlichkeit der Mutter Laura) und (beratend) Janik & Franzi konnten ab jetzt zusammenarbeiten bei der Aufgabe, Mind Control-Programme im Alltag systematisch durch Gegenprogramme aufzulösen. –

Durch eine Auswahl von Mails zwischen Rachel & Co. und mir aus den Jahren 2011 – 2017/8 knüpft die neue Veröffentlichung an die damalige Dokumentation UNSER SIEG ÜBER DIE RITUELLE GEWALT an. Im Mittelpunkt stehen zwei Themen:

> Die Problematik der "inversen", also von den Tätern durch Folter erzwungenen dissoziativen Abspaltungen, die ausschließlich bestimmte Aufgaben im Tätersinn erfüllen sollen und zunächst kaum allgemein-menschliche Bedürfnisse haben (Mind control), sowie

> Erfahrungen und Hypothesen über Zusammenhänge zwischen Ritueller Gewalt (einschließlich Mind Control) und unterschiedlichen Formen der Autismus-Spektrum-Störung (ASS).

Dazu konnte die nuancierte Abhandlung einer weiteren Überlebenden hinzugefügt werden: Adele Anton (Pseudonym) war täterorientiertes Opfer: eine sogenannte "Programmiererin" innerhalb eines multiplen Systems. Die Texte von Janik & Franzi und Adele Anton sind nicht nur Erfahrungsberichte, sondern darüber hinaus bedenkenswerte Diskussionsgrundlagen der Hypothese, daß autistische Symptomatik (im Zusammenhang mit Struktureller Dissoziation einerseits und Mind Control andererseits) eine schwere Form von Traumafolgestörung darstellen kann.

Mind Control, also inverse Programmierung, wird mittlerweile auch in einigen traumatherapeutischen Fachbüchern differenziert beschrieben. Noch immer wird die Realität solcher Leidensgeschichten von manchen Menschen bezweifelt. TherapeutInnen hätten den Überlebenden etwas eingeredet, heißt es dann gerne. In der vorliegenden Dokumentation ermöglichen uns die Autorinnen Rachels & blumen, Janik & Franzi und Adele Anton einen tiefen, auch emotionalen Einblick in die Realität von Opfern dieser teuflischen Zurichtung von Menschen. Deutlich wird, daß auch sie nicht nur "autistische Multiple" sind; keine Wesen der dritten Art, sondern Mitmenschen, deren Persönlichkeitsentfaltung aufgrund schrecklichster Lebens-bedingungen spezielle Prioritäten entwickeln mußte. Wir können von ihnen lernen, sie können von uns lernen – unser Menschsein verbindet uns. Liebe ist die größte Kraft!

[Aus der Einleitung des Herausgebers Mondrian v. Lüttichau)

Eine Überlebende schrieb im Januar 2019 über diese Veröffentlichung: "Ich habe mich in den letzten Wochen viel mit diesen Seiten beschäftigt, um irgendwie einen besseren Zugang zu meinem vielschichtigen verschachtelten Innen und zu diesem sehr komplexen Thema zu bekommen. Und es ist so eine Erleichterung zu erkennen, dass ich mir das nicht eingebildet habe und dass es diese Form der Menschenabrichtung wirklich gibt! Ich habe so etwas in der Form noch nie vorher gelesen, endlich gibt es Worte für vieles, wofür es vorher nur Sprachlosigkeit gab! Seitdem ich diesen Text und andere Teile des Buches gelesen habe, habe ich den Eindruck, dass der innere Nebel sich etwas lichtet und die Richtung langsam konkreter wird."

Siehe auch die erste Veröffentlichung von Rachel & Co.

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Maja: ACHTSAMKEIT … oder: Ein kleines Stück Freiheit

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Diese Seiten sollen zeigen wie wertvoll das Leben ist.
Wie viele wunderschöne Facetten die Natur, unsere Umwelt zu bieten hat.
Wie schön die Dinge sind, die nicht mit Geld zu bezahlen sind.
Man muss nur achtsam sein, hinschauen und genießen.
Diese Seiten sollen auch für all die Menschen sein, die Probleme haben, kleine und große.
Es soll helfen im Hier und Jetzt zu halten, das Bewusstsein jedes einzelnen zu öffnen.
Dass es helfen kann, sich auf die vorhandenen
wunderschönen Dinge im Leben zu konzentrieren.
Das "Schlimme" für ein paar Momente
hinter sich lassen zu können...

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Mondrian w. graf v. lüttichau: THERAPIE ODER LEBEN ? – Begegnungen in der akutpsychiatrie

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Neuauflage November 2018 (mit einem Beitrag von Rosemarie Haase, Leipzig)

Bestandteil meiner empfindungen und erfahrungen während der dreijährigen arbeit in verschiedenen akut- und subakutstationen eines psychiatrischen krankenhauses (in berlin) war die selbstverständlichkeit, 'außenseiter' zu sein und fast ausschließlich mit 'außenseitern' zu tun zu haben, seit der kindheit. – Gesellschaftliche ordnungskategorien wie 'krank', 'gesund', 'vorgesetzter', 'untergebener', 'professionelle beziehung', 'arbeit', 'hobby', 'privatleben', 'klient', 'helfer' waren von daher für mich nie selbstverständlich, vielmehr habe ich dem sinn jeder begegnung situativ gerechtzuwerden versucht, egal mit wem. – Dabei war und bin keineswegs ich als 'profi' immer der 'helfende' und jemand mit 'psychischer erkrankung' demgegenüber die oder der 'hilfebedürftige'. – "Es sollte immer ein geben und nehmen sein, - nur dann kann ich vertrauen haben zu einem freund oder einem therapeuten!" hat mir unlängst jemand gesagt..

Mitgenommen habe ich die überzeugung, daß die akutpsychiatrie unter den gegebenen gesellschaftlichen bedingungen nicht reformierbar ist. Allenfalls kann sie kriseninterventionsfunktion haben. Sofern 'therapie' etwas im sinne von gesundwerden, heilen meinen soll, ist der begriff in diesem zusammenhang nicht angebracht.

Mitgenommen habe ich aber vor allem das geschenk von begegnungen, die mir bis heute orientierung und bestätigung sind. Noch immer dankbarkeit, noch immer trauer - -

Mitgenommen aus der zeit in der akutpsychiatrie hab ich nicht zuletzt die erfahrung, daß es tatsächlich um liebe geht, - und daß liebe letztlich nur eines bedeuten kann: vorbehaltlose achtsamkeit für ein gegenüber, für die menschen, für das leben.

Die neuausgabe 2018 wurde durchgesehen und erweitert um abbildungen (aus der gestaltungstherapie) sowie einen anhang zum gedächtnis an SONJA GERSTNER. Darüberhinaus enthält sie einen beitrag von rosi haase (leipzig): "Meiner Erfahrungen mit der DDR-Psychiatrie" sowie faksimiles eines flugblattes des NEUEN FORUMS (november 1989) zur situation von psychiatrie-betroffenen in leipzig.

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Irene Forbes-Mosse: PERIWINKEL UND VALLADEH

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Nachdem Irene ihm ihren 1934 erschienenen Novellenband DAS WERBENDE HERZ (hier wiederveröffentlicht unter neuem Titel) gesandt hat, schreibt Karl Wolfskehl ihr am 13. April 1935:

"Sehr verehrte Frau Irene Forbes–Mosse, das, was Sie Ihr "kleines Buch" nennen, ist nicht nur in meinen Händen, sondern auch sehr, sehr in meinem Herzen! Da ich es mir vorlesen lassen muß, kenne ich es noch nicht ganz genau, und viele neue Entdeckungen stehen mir bevor. Aber schon jetzt entzückt und bewegt mich der märchenhafte Reichtum, der aus so viel sicheren und originellen Einzelzügen, so viel farbigen Tupfen, Bildern und Bilderfolgen zusammenschmilzt, die, zart und stark zugleich, in sich selber bestehen, aus sich selber zu wachsen scheinen. Was Sie alles wissen, sehen und aufspüren! Das ist nicht mehr Beobachtung oder bloßes Wissen um Charaktere, Altersstufen, menschliche Bezüge, Toilettengeheimnisse und Gastronomie: es ist bei Ihnen immer, als erfaßten Sie die geheimnisvollen Fäden, das gesamte Astralgewebe, aus dem Situationen und Begebnisse erst ihren Sinn erhalten. Alles Halbtonige, das "Zwischen", der abschattende Hauch, den der Gang der Dinge rückläßt, das Unausweichliche eines Schicksalswegs und das süße Mitfühlen des Lieblich–Unzulänglichen alles Erdendaseins: das sind die Elemente, aus denen Ihre Figuren gehoben und gestaltet sind, daraus sie wachsen und welken.

Dabei als Gefühlsstand eine warme, mitzitternde Klarheit, sie verbirgt sich und andern nicht die kleinste Falte, verbietet sich kein Lächeln und keine Ironie –– wer kann heut noch so wundervoll boshaft sein, so fein und selbstgewiß doch auch des andern, des Angeschauten Teil und Recht mit freundlichem Achselzucken wahrend, die armen, tölpischen Kinder, genannt Erwachsene, also auf ihr Getue und Getapse hin ansehen und rubrizieren! Eigentlich gilt Ihr stärkstes, Ihr ganz mitzitterndes Schauen und Erkennen ja doch jener unheimlichen, aus Frohlocken und Trübsinn gewobenen, noch halb jendseitigen Zwischenwelt kurz vor Tage. Ihre Nerina ist ein unvergeßlich kunstvolles, herzbrechend liebliches Gebilde, und wie sehr florentinisch ist alles, was sie umgibt, berückt, beruhigt, bedrängt. Und in mir wurde der wundervolle Palmerino Tag wieder wach, als ich die Seiten anhörte, in denen die warme Luft und das wortlose Verstehen den Kinderkummer sänftigen und lösen."

Von Irene Forbes–Mosse wurden bei A+C bereits zwei Bücher wiederveröffentlicht:
EIN KLEINER TOD. PROSA, LYRIK, ZEUGNISSE und DON JUANS TÖCHTER.
Beide Ausgaben enthalten biobibliographische Hinweise.
Ein weiterer Band ist in Vorbereitung, ebenfalls zur online–Veröffentlichung.

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Christa: ICH SUCHE WAHRHEIT, WEG UND LEBEN

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Heidelberg, April 1981. Christa Stiehm ist meine Chefin im VERLAG LAMBERT SCHNEIDER / LOTHAR STIEHM VERLAG. Bald ergänzen nichtgeschäftliche Hinweise, Assoziationen, Kommentare unsere gemeinsame Arbeit, mündlich wie auf Zetteln. Was berührt mich so an dieser Frau, hab ich mich gefragt, mit der ich außerhalb der Stunden im Verlag nichts zu tun hatte, die mit meiner sonstigen Lebenswelt kaum etwas zu tun zu haben schien?! –
Später hörte ich für rund 20 Jahre nur noch sporadisch von Christa. Ihre Scheidung von L. und der Verkauf des Verlags. Eine neue Lebenspartnerschaft. Anthroposophische Studien. Gemeinsam mit HFW dessen Haus gebaut. Später ein kleines eigenes Haus daneben gekauft und instandgesetzt. – Als wir vor einigen Jahren wieder Kontakt zueinander aufnahmen, hab ich mich getraut, auf ihre damaligen Zettel anzuspielen … und ob es vielleicht mehr Aufgeschriebenes gibt? Und ob sie sich vorstellen könnte, ein Buch draus zu machen? –
"Das ist doch alles nichts Besonderes, sowas erlebt doch jeder! Und wer will denn sowas lesen?" war ihre spontane Reaktion. "Ja, aber es ist etwas Besonderes, wie Sie mit diesem Erleben umgegangen sind ... was Sie draus gemacht haben!" konnte ich schon aufgrund meiner Erinnerung an die Zeit im Verlag sagen.
Seit Anfang 2017 schickte sie uns (meiner Freundin Petra Bern und mir) nach und nach ihre Aufzeichnungen aus 50 Jahren: Tagebücher, einzelne Blätter, Briefe, ein Karteikasten, durchnummerierte Zettel und etliche Fotos, auch Briefe anderer. Wir durften lesen – mit der Frage, ob eine Veröffentlichung daraus werden könnte.

"Wat is los: nehme ich mich zu wichtig, oder nehm ich mich nicht wichtig genug. Es ist zum Kotzen." – steht auf einem Zettel an uns (28.11.17). Wer weiß, was jemand ist? Ich empfinde Christa als Mystikerin, die in allen Augenblicken sinnlich-konkretes, alltägliches Leben verwebt mit der Frage nach dem Ganzen, nach Wahrheit. Ein Schwerpunkt ihrer Wahrheitssuche ist Gott und "der Christus Jesus", axiomatische Begriffe sind Geist, Ich, Wille und Idee. Der andere Schwerpunkt ist die Suche nach mitmenschlichem Leben: in Liebe und Bindung, in sozialer Verantwortung und Partnerschaft. Es gibt vielleicht nur wenige Menschen, die dieses Spannungsverhältnis ein Leben lang ausgehalten und immer neu mit Sinn erfüllt haben; Christa gehört zu ihnen.
Allgemeinmenschliche ("private", "alltägliche") Situationen und Konstellationen nimmt Christa vorbehaltlos für wahr; ihre äußeren und inneren Erfahrungen werden bedeutsam über den Anlaß hinaus. Schlimme Lebenserfahrungen mit uns selbst und anderen haben wir alle. Zum fragwürdigen Konsens der sozialen Normalität gehört, daß wir mit derlei weitgehend allein "fertigwerden" sollen. Oft hat das zur Folge, daß wir Ungelöstes (vielleicht Unlösbares) innerlich wegzuschieben versuchen oder es billig rationalisieren. Das Besondere an Christas Aufzeichnungen ist nicht nur, daß sie überfordernde soziale (und spirituelle) Erfahrungen und Empfindungen redlich, subtil und doch einfach in Worte kleidet, sondern: wie sie mit ihnen umgeht. Sie verharrt nicht in den Fronten von Schuld und Schuldzuschreibung, sondern stellt dieser menschlich-allzumenschlichen Methode der Konfliktlösung das Vor-Bild Jesu Christi gegenüber. Obwohl ihr ethischer Anspruch dabei gelegentlich schier übermenschliche Höhe erreicht, verliert sie das Menschenleben hier und jetzt nicht aus dem Auge, aus dem Herzen. Erst müssen wir einige Gewißheit haben über unser "Ich", um eventuell den Schritt darüber hinaus machen zu können. Zugleich betrachtet Christa die Materie der Welt nicht nur dinghaft, sondern auch als Erscheinungen, als Spuren, Zeichen und Bilder, die uns in das Mysterium der Schöpfung hineinführen. – In diesem tiefgründigen (also "radikalen") Hineinhorchen in das Geheimnis des Menschseins und der Menschenwelt liegt das Kostbare ihrer Aufzeichnungen auch für LeserInnen, die Christas christliche Haltung nicht teilen.

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Guido mohammad jafar: AUFZEICHNUNGEN EINES SUCHENDEN. Der nicht "sterben" will

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Neuausgabe Februar 2020

(Hrsg. von mondrian v. lüttichau)

Mein freund guido starb 1994. Das buch enthält texte und briefe aus den jahren 1980-86, die guido mir 1986 zur verwahrung gegeben hat, außerdem meine erinnerungen an die zeit mit ihm. Der buchtitel stammt von guido selbst. Die erweiterte neuausgabe enthält  zusätzlich fotos und einige weitere texte. –

Deutlich wird guidos lebenslange suche nach authentischem, unentfremdetem leben. Demgegenüber standen erhebliche seelische verletzungen aufgrund von traumatisierenden sozialisationsbedingungen. Guido mohammad jafar kann in seinen nachgelassenen texten und briefen mut machen, sich der allgegenwärtigen "normalen" entfremdung und verdinglichung nicht zu unterwerfen.

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Mondrian Graf v. Lüttichau: DISSOZIATION. TRAUMA. RITUELLE GEWALT

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Hinweise für Betroffene und HelferInnen

Erster Teil: Grundlagen

  • Trauma in Kindheit und Jugend
  • Was ist das eigentlich – Traumatherapie?
  • Strukturelle Dissoziation
  • Borderline-Syndrom
  • Dissoziative Identitätsstörung (DIS)
  • Persönlichkeitsanteile, Dissoziation und Trauma: Hintergründe und Zusammenhänge
  • Organisierte sexualisierte/rituelle Gewalt und Mind Control

Zweiter Teil: Probleme und Ausblicke

  • Traumatherapeutische Heilpädagogik bei einer kognitiv schwer beeinträchtigten Frau
  • Wieso viele Opfer von ritueller Gewalt keine Hilfe suchen
  • Psychose, Dissoziation und Trauma
  • Mutismus als Traumafolge
  • Über das Leugnen von DIS, Organisierter ritueller Gewalt und Mind Control
  • Sándor Ferenczi – ein früher Traumaforscher
  • Die Wurliblume. Kein Unterhaltungsroman
  • Johanna Herzog-Dürcks Personale Psychotherapie als Element integrativer Traumatherapie?

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Gerlinde Elke Occhidivento / Mondrian v. Lüttichau: DAS BUCH TANI MARA

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1970 war ich, mondrian – damals noch wolfgang (oder wolfi) -, achtzehn jahre alt. Ein außenseiter aus gründen, die ich erst viel später verstehen gelernt habe. Seit anfang 1969 hatte ich in zunehmendem maße kontakt gefunden zu gassenkindern in der kleinen württembergischen stadt, in der ich (im elternhaus) lebte. Von ihnen habe ich mich angenommen gefühlt – ganz einfach da sein dürfen, in der gegenwart, - stunden zusammen verbringen in selbstverständlichkeit, bißchen reden, bißchen freude, "gummihupfen" (wobei ich nur im gummi stand und manchmal schiedsrichter spielte), - stille, aber auch momente von solidarität, trost und trauer miteinander teilen.. dies meist wegen der eltern, der erwachsenen. Augenblicke von nähe, von zärtlichkeit, einander geborgenheit geben für momente.
Zu sexuellen grenzüberschreitungen meinerseits kam es nicht – ich habe entsprechende gefühle dafür kaum gehabt, war in meinen empfindungen eher selbst wie zehn oder zwölf. Wo darüber hinausgehende empfindungen und phantasien auftauchten, hab ich auf das, was der authentischen lebendigkeit der kinder angemessen war, vermutlich mehr geachtet als auf alles andere. Seelische grenzüberschreitungen durch ältere (durch eltern) kannte ich selbst zu gut. (Siehe hierzu bei A+C meine tage-bücher "Außenseiter-Allüren!"  und "Schweinisch wird kritisch und physisch" sowie die anmerkungen zum thema pädosexualität hier auf der titelseite.)
Aber natürlich argwöhnten manche erwachsene schlimmes. Immer wieder wurde einzelnen kindern der umgang mit mir verboten; einige hielten sich dran, die meisten nicht.

Elke (oder gerlinde) war eines dieser gassenkinder. Zwischen uns war es mehr, von anfang an. Und doch wußten wir beide, wo die grenze unserer beziehung war, in jener zeit. 1971-73 war ich im internat in heidelberg; jetzt gingen briefe zwischen uns hin und her. Gesehen haben wir dann nur noch selten. Sie hatte einen "richtigen" freund, ich eine "richtige" freundin. Dann wurde gerlinde heroinabhängig. In unseren briefen der folgenden jahre stand dieses thema im mittelpunkt. 1980 ging elke in eine stationäre drogentherapie. - -

Tagebücher geschrieben habe ich seit dem vierzehnten lebensjahr. Aus ihnen habe ich im jahr 1980/81 die geschichte der begegnung und beziehung mit gerlinde herausgeschrieben und, in verbindung mit unserem damaligen briefwechsel, DAS BUCH TANI MARA zusammengestellt. Es erschien 1982 als buchhandelsausgabe (und begründete meinen damaligen selbstverlag AUTONOMIE UND CHAOS HEIDELBERG). Tagebücher und briefe wurden im wesentlichen unverändert wiedergegeben, nur einzelne (meist unklare) stellen wurden minimal korrigiert. – Jetzt, 36 jahre später, kann es, in absprache mit gerlinde, eine neue ausgabe geben.

Weltweit bekanntgeworden ist christiane felscherinows bericht über die "Kinder vom Bahnhof Zoo". In dieser noch immer durch nichts zu ersetzenden dokumentation kommen tiefenschichten der seelischen befindlichkeit dieser jungen menschen zu kurz. In lindes briefen aus ihrer drogenzeit steht genau dies im mittelpunkt. Nicht zuletzt deshalb bin ich froh, daß Das Buch Tani Mara jetzt noch einmal veröffentlicht werden kann.

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Lillian Smith: Fremde Frucht

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Lillian Eugenia Smith (1897–1966) wurde bekannt vor allem durch ihr lebenslanges Engagement gegen die Rassentrennung in den Südstaaten der USA. Ihr beim Erscheinen kontrovers diskutierter Roman ''Strange Fruit'' (1944) machte sie weltberühmt.

Lillian studierte als junge Erwachsene Musik, arbeitete pädagogisch und hielt sich für mehrere Jahre in China auf, wo sie Direktorin einer Mädchenschule war. Während dieser Zeit wurden ihr Ähnlichkeiten zwischen der Unterdrückung der chinesischen Kultur zugunsten der abendländischen, christlichen einerseits und derjenigen der afroamerikanischen Bevölkerung in den amerikanischen Südstaaten bewußt.

Sie nahm sie eine lebenslange Partnerschaft mit Paula Snelling auf. Die beiden Frauen gründeten 1936 eine kleine Literaturzeitschrift, die schwarze und weiße SchriftstellerInnen zu kritischen Stellugnnahmen ermutigte. Im Mittelpunkt standen dabei soziale Ungleichheit, Frauenfeindlichkeit, Rassismus, die Notwendigkeit von sozialen und wirtschaftlichen Reformen.
1944 erschien ihr Roman ''Strange Fruit'', in dem es um eine Liebesbeziehung zwischen einer Farbigen und einem Weißen ging. Der Titel wurde vom Verleger gewählt, nach einem gleichnamigen Lied in der Interpretation von Billie Holiday. Die Autorin betonte jedoch, daß ihr Anliegen nicht, wie in dem Lied, allein der Rassismus gegen Afromamerikaner sei, sondern vielmer die seelische Beschädigung von Farbigen wie Weißen in der "rassisistischen Kultur" der Südstaaten. Nach dem Erscheinen wurde der Roman in mehreren Regionen der Vereinigten Staaten verboten. Dieses Verbot wurde von Präsident Franklin D. Roosevelt aufgehoben. Der Roman wurde zum Bestseller und in 15 Sprachen übersetzt.

Lillian Smith tauschte sich häufig aus mit Eleanor Roosevelt, sie war befreundet mit Martin Luther King und anderen farbigen wie weißen ProtagonistInnen der Bürgerrechtsbewegung, in der sie sich selbst kontinulierlich bis zum Ende ihres Lebens engagierte. Ihr persönlicher Schwerpunkt dabei war die Situation von Frauen und Kindern. – Daneben schrieb sie Bücher (Sachbücher, Dokumentationen, einen weiteren Roman) und arbeitete journalistisch.
In den Vereinigten Staaten wurde Lillian Smith in den letzten Jahrzehnten neu entdeckt als Kämpferin für soziale Ungerechtigkeit, aber auch im Zusammenhang mit der Emanzipation lesbischer Lebenshaltung. Theaterstücke, Lesungen und Buchveröffentlichungen zeugen davon.

"Strange Fruit" (Fremde Frucht) erschien auf deutsch 1947 (in der Schweiz). Für seine Themen – Rassismus, die Situation schwarzer Amerikaner, lesbische Liebe – interessierte sich zu dieser Zeit kaum jemand in Deutschland. Für diese erste deutsche Neuveröffentlichung wurde die Übersetzung gründlich durchgesehen. Ein umfangreiches biobibliographisches Nachwort des Herausgebers kam dazu. Auch einige Fotos der Autorin.

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Harriet v. Rathlef-Keilmann: ANASTASIA? – EINE UNBEKANNTE KÄMPFT UM IHRE IDENTITÄT

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 Aktualisierte Neuausgabe der Veröffentlichung von 1928, herausgegeben von Mondrian Graf v. Lüttichau

Am 17. Februar 1920 sprang eine junge Frau von der berliner Bendlerbrücke in den Landwehrkanal, im Versuch, sich das Leben zu nehmen. Sie wurde gerettet. Nach manchem Hin und Her stellte sich heraus, daß die Unbekannte sich als Anastasia verstand, eine der Zarentöchter, die offiziell zusammen mit der gesamten Zarenfamilie 1918 innerhalb der bolschewistischen Revolution ermordet worden war.

Durch Zeitungsmeldungen über die (angeblich) überlebende Zarentochter kam es zu Kontakten mit Menschen, die die Zarenfamilie gekannt hatten. Beweise für ihre Identität konnte die Unbekannte nicht liefern. Unter den BesucherInnen entstand eine wilde Mischung aus bestätigendem Erkennen von Einzelheiten, zutreffenden (privaten) Erinnerungen; andere Personen konnten oder wollten die Unbekannte jedoch nicht als Anastasia erkennen oder führten Indizien an, die gegen diese Identität sprachen. – So fing es an. Die Frage: Ist sie die wahre Anastasia oder nicht? beschäftigte von nun an über Jahrzehnte die Medien in allen europäischen Ländern und den USA, bewegte  unterschiedliche Menschen, die Anna Anderson (wie sie später genannt wurde) kennenlernten.

Die Unbekannte starb 1984; bis zuletzt hat sie die Wahrheit ihrer Identität mit der Großfürstin Anastasia aufrechterhalten. Aufgrund von DNA-Vergleichen gilt es jedoch seit zehn Jahren als bewiesen, daß die Unbekannte nicht die Zarentochter Anastasia war. – Aber so einfach ist das nicht.

Nach der Lektüre der hier erstmalig wiederveröffentlichten Primärquelle von Harriet Rathlef-Keilmann (1928) sowie des nuancierten Sachbuchs von Peter Kurth (1988) kann ich nur zu einem Schluß kommen: Diese Frau war Überlebende schwerer traumatischer Erfahrungen; mit einiger Wahrscheinlichkeit hatte sie zudem neurologische Ausfälle, die von Schädel-Hirn-Traumatisierungen (Gewalteinwirkungen) herrühren können. – Ob sie die Zarentochter Anastasia ist, kann auch ich nicht wissen; nach allen Zeugnissen gehe ich allerdings davon aus. Diese Frage ist jedoch nicht Intention dieser Neuveröffentlichung.

Im Vorwort seines Buches schreibt Peter Kurth: "Alle, die Anastasia umgaben – die Großfürsten und Großfürstinnen im Exil, die ausländischen Cousins, die früheren zaristischen Heeresoffiziere und die listigen Kammerzofen –, hatten, wie sie, ihren festen Platz und ihren Lebenssinn verloren. ANASTASIA ist also ein Buch über Flüchtlinge. Es handelt von entwurzelten Menschen, die von einer für vollkommen gehaltenen Vergangenheit geblendet wurden, die einen tiefen Groll empfanden und durch ihre Unsicherheit gelähmt waren. Es handelt von qualvoller Unschlüssigkeit und gewaltigen Mißverständnissen. Und schließlich und vor allem ist es die Geschichte einer einst mächtigen Dynastie, deren Gesetze und Traditionen nicht ausreichen, ein plötzlich auftauchendes Problem zu meistern; es ist die Geschichte einer Familie, die während der Russischen Revolution dezimiert, im Exil zerstreut und dann aufgefordert wurde, eine gebrochene, labile und Gegenbeschuldigungen erhebende Frau zu akzeptieren, die nur wenige als normal, geschweige denn als einzige Erbin des Zaren anzuerkennen bereit waren. Die Antwort auf das Rätsel Anastasia liegt nicht in Rußland, sondern im Herzen der Familie Romanow, wo Stolz und äußerer Schein jedes Mitgefühl verdrängten und das ein menschliches Wesen zu einem Leben in einer schwer erträglichen Welt aus Vorwürfen und Zweifeln verdammte. (…) Ob die Streitursache in einer Verschwörung der einen oder anderen Fraktion zu suchen war, schrieb eine Freundin von Frau Anderson, ob in einer unglücklichen Abfolge von Zufällen oder bloß in blinden Vorurteilen und Ignoranz …, eine Tatsache fällt unter allen anderen auf: Es scheint der Fluch der Romanows zu sein, daß sie unfähig sind, ein offenes Wort miteinander zu sprechen. Die Auseinandersetzung hätte niemals vor einen Gerichtshof gebracht, sondern ohne Groll friedlich und gütlich geführt und im privaten Familienrat beigelegt werden müssen. "

Lothar Nobel, Arzt im berliner Mommsen Sanatorium, schrieb in seinem Gutachten (1925): "Über ihre Vergangenheit hört man von ihr nichts. Sie ist im Gegenteil ängstlich bemüht, jeder Frage dieser Art auszuweichen. (…) Dann wiederum sagt sie mir bei meiner Unterhaltung, es sei schrecklich, sie gebe sich die größte Mühe, all das Gräßliche, was sie erlebt habe, zu vergessen, und immer wieder käme jemand, um alles wieder aufzurühren, wodurch sie dann wieder traurig und verzweifelt wäre."  

Bei der Beschäftigung mit den vorliegenen Zeugnissen ging es mir nicht darum, irgendetwas zu beweisen, vielmehr möchte ich die innere Wahrheit der Unbekannten, ihre Identität mit sich selbst, in den Vordergrund stellen. Natürlich habe auch ich mich gefragt, ob sie es ist oder nicht. Ich weiß das nicht. Aber die Fülle ihrer nuancierten und affektiv (auch ichdyston!) besetzten Erinnerungen an Aspekte des (unbewiesenen) früheren Lebens, einschließlich nonverbaler Reminiszenzen, dies über das ganze spätere Leben hinweg und unterschiedlichen Personen gegenüber, würde bei Adaptation einer fremden Biografie die kognitiven, schauspielerischen Möglichkeiten wohl jedes Menschen übersteigen, auch bei einer psychopathologischen oder bewußt hochstaplerischen Variante. Auch Anastasias kontinuierliche Neigung, potentielle HelferInnen durch taktisch unkluges Verhalten gegen sich aufzubringen, läßt sich nicht vereinbaren mit der Intention, Glaubwürdigkeit für ein angemaßtes Schicksal zu erringen. Auch widerspricht es tiefenpsychologischer Erfahrung, daß jemand eine falsche Identität affektiv und intellektuell über 60 Jahre konsistent durchhält, ohne daß die ursprüngliche Identität aus Kindheit und Jugend gelegentlich in relevanter Weise zutage tritt. Das gilt auch für Psychotraumabetroffene mit dissoziativen Amnesien.

Die kriminalistische, paläopathologische, kriminalarchäologische Bedeutung von DNA-Analysen ist nicht zu bestreiten; Möglichkeiten, Methoden und Grenzen unterliegen jedoch der fortschreitenden Erkenntnis. Auch Irrtum, interessengeleiteter Mißbrauch und Schlampigkeit kann niemals ausgeschlossen werden. All dies gilt für jede Wissenschaftsdisziplin.

Harriet v. Rathlef-Keilmanns Buch von 1928 (Titel der Originalausgabe: Anastasia. Ein Frauenschicksal als Spiegel der Weltkatastrophe) steht im Mittelpunkt auch dieser aktualisierten neuen Veröffentlichung. Harriet Ellen Siderovna v. Rathlef-Keilmann (1887–1933) war Bildhauerin. Sie wuchs auf in Riga, zu jener Zeit Hauptstadt des russischen Gouvernements Livland, in einer assimilierten, großbürgerlichen, deutsch akkulturierten jüdischen Familie. – Mit ihrem Mann Harald v. Rathlef (1878–1944) hatte sie vier Kinder. – Auf Grund der Bürgerkriegswirren floh die Familie im Dezember 1918 nach Deutschland. Dort studierte Harriet Kunst, unter anderem im Bauhaus (Weimar). Unter den Einflüssen der Bauhaus-Werkmeister Gerhard Marcks, Johannes Itten und Lyonel Feininger wandte sich die Künstlerin ab vom bildhauerischen Naturalismus hin zum Expressionismus. – Ihre Eltern sowie einer der beiden Brüder wurden Opfer der nationalsozialistischen Deutschen. Wie einige ihrer Künstlerkollegen bereitete sich Harriet auf die Emigration nach Paris vor. Ein Blinddarmdurchbruch durchkreuzte ihre Pläne. Sie starb am 1. Mai 1933, nachdem eine befreundete Ärztin noch versucht hatte, in ihrem Schöneberger Atelier (An der Apostel-Kirche 14) per Not-OP ihr Leben zu retten. – Viele ihrer Werke sind verlorengegangen.

Schwerpunkt einer Veröffentlichung zum Thema Anastasia kann im Jahr 2019 nicht mehr die juristische, kriminalistische Argumentation sein. Für den öffentlichen Mainstream gibt es die "unumstößlichen Beweise" qua DNA; nur das zählt noch. Mein Schwerpunkt ist demgegenüber, wie schon angedeutet, die zwischenmenschliche Botschaft in diesem Schicksal. Da hat eine Frau lebenslang um ihre Identität gekämpft – und die Zeugnisse dieses Kampfes dokumentieren tiefe Anteilnahme derjenigen, mit denen sie zu tun hatte; sie berühren wohl noch heute die meisten Menschen. Ob sie es jetzt "wirklich" ist oder nicht, entkräftet die zwischenmenschliche Wahrheit dieses Geschehens nicht oder kaum. Menschliche Wahrheit findet sich auch in künstlerischen Werken (was wäre sonst Kunst?) – und wird nicht dadurch obsolet, daß wir wissen, es gab keine Tosca, gab keine Anna Karenina. Manches läßt sich nicht beweisen – außer durch seine Evidenz. Dazu gehört auch Liebe, gehören spirituelle Erfahrungen.

Zweiter Schwerpunkt der neuen Veröffentlichung sind die aus fachlicher Sicht heute offensichtlichen psychotraumatischen Folgeschädigungen der Unbekannten. Die entsprechenden Zeugnisse ihres Verhalten, ihrer Aussagen, ihrer Verweigerungen, ihres bekundeten Leids sind geradezu exemplarisch für entsprechende Symptomatik. Aber was ging in dieser Unbekannten vor, falls sie nicht die Zarentochter war?

(Aus der Einleitung zur Neuausgabe)

Als historische Quelle wurde zusätzlich die Originalausgabe von 1928 (als Faksimile) wiederveröffentlicht.

Mondrian w. graf v. lüttichau: WENN WIR UNS ALLE WIEDERFINDEN

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2. auflage 2015

Direkte folge von 'Jede zigarette ist ein schrei nach zärtlichkeit!'.  - "Zärtlichkeit" war für mich und die menschen um mich ein früher orientierungspunkt für die suche nach erotik und sexualität jenseits der zunehmenden verdinglichung und kommerzialisierung der normativ-genitalen sexualität. Den weg dorthin muß(te) jeder für sich finden. Im mittelpunkt meines lebens stand nach dem umzug von wuppertal zurück nach heidelberg für ein paar jahre die liebesbeziehung mit judith. Wir konnten sexuelle empfindungen und bedürfnisse aussprechen und gemeinsame erfahrungen machen. Dennoch holten uns die mitgebrachten ängste und zerstörungen wieder ein. Immerhin waren wir nicht mehr alleine mit unserer sehnsucht nach unentfremdeter nähe..

>Die individuelle Geschlechtsliebe unserer Philosophen ist eine überaus kostbare Idee, die bisher nicht verwirklicht werden konnte, weil die eigentliche Menschheitsgeschichte noch nicht begonnen hat. Sie ist eine junge, instabile Fähigkeit der Menschen, derer sie in menschlichen Verhältnissen nicht werden entraten wollen. In ihr überwintert eine gesellschaftliche Einzigartigkeit: Die Liebe kann nicht hergestellt und nicht gekauft werden. Das aber ist in einer Welt des Machens und Verkaufens phantastisch. (VOLKMAR SIGUSCH 1979/2005)<

(Manche stellen könnten als trigger wirken für überlebende von sexueller gewalt!)

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Mondrian w. graf v. lüttichau: LIEDER VON DER WAHRHEIT IN UNS DRIN

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Gesamtausgabe der gedichte (1970-2012). - Die gedichte haben mich begleitet, zum teil über jahrzehnte; kontinuierlich wurden sie verändert. Deutlicher zeigte sich mir im laufe der jahre das wesenhafte konkreter begegnungen, erfahrungen und empfindungen früherer jahre. Bis heute geht es mir um die möglichkeit von nähe, von beziehung und liebe im zustand der progressiven verdinglichung unserer sozialen welt. Die gedichte sind sowas wie modelle meiner fragen und meiner antworten dazu. In ihnen entfaltet sich der unbegriffliche kern meiner lebendigkeit vielleicht deutlicher als in den anderen büchern - insofern empfinde ich sie auch als eine art gegengewicht zu meinem sonstigen, eher diskursiven und werkzeughaften umgang mit sprache.

Diese 2., erweiterte und durchgesehende auflage erschien im august 2013.

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Walther Küchler: ARTHUR RIMBAUD / BILDNIS DES DICHTERS

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Arthur Rimbaud bei Autonomie & Chaos, Teil III

Die Rimbaudübersetzungen Walther Küchlers, erschienen 1946, werden bis heute nachgedruckt (derzeit bei S. Fischer), seine 1948 publizierte Monographie wird hier erstmalig wiederveröffentlicht. Küchlers philologisch fundierte Rimbaud-Übertragungen sind hilfreich beim Bemühen, den französischen Text zu lesen. Affektive und poetische Authentizität kommt jedoch bei Küchlers Versionen gelegentlich zu kurz. Seine Monographie bildet dazu eine glückliche Ergänzung! Hier stellt der Autor nuanciert und tiefgründig dar, wie er selbst das über die Worte Hinausgehende bei Rimbaud wahrgenommen hat. Sie erst zeigt Küchlers affektive, poetische, spirituelle Einfühlung in Rimbauds Seelenwelt, die gleichwohl Grundlage auch der Übertragung des Werkes war, – wo Küchler sich jedoch dem Prokrustesbett der philologischen Redlichkeit anschmiegen wollte.

"Wenn man Rimbaud am nächsten kommen will, muß man sich dem einsamen Wanderer, der er war, nähern und ihn bitten, ihn im Geist begleiten zu dürfen." (W.K.)

Der Romanist und Literaturwissenschaftler Walther Küchler (1877–1953) wurde bekannt auch für seine Übertragungen sämtlicher Dichtungen François Villons sowie der Prosadichtungen Baudelaires. Monographien erschienen auch über Molière und Ernest Renan. – 1933 versetzten die Nationalsozialisten ihn in den vorzeitigen Ruhestand.

Die Neuausgabe enthält einige Abbildungen, ein Nachwort des Herausgebers sowie einen Anhang mit folgenden Beiträgen:

  • Arthur Rimbauds Brief an Jules Andrieu (1874)
  • Hermann H. Wetzel: Chant de guerre parisien als Beispiel engagierter Dichtung
  • Roger Gilbert-Lecomte: Après Rimbaud la mort des arts
  • Dieter Wyss: Rimbaud und der Surrealismus
  • Thomas Bernhard über Arthur Rimbaud (1954)
  • Greta F.: Junkie
  • Patti Smith: An Rimbauds Grab
  • Arthur Rimbaud: UNE SAISON EN ENFER (1873) (Faksimile)

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Jim Morrison: THE LORDS - DIE HERRENGÖTTER

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Bereits im juni 1968 wollte jim morrison (1943 - 1971), der berühmte sänger der DOORS, sich von seiner band trennen; er ließ sich zur weiterarbeit überreden. 1970 gelang ihm der absprung; mit seiner lebensgefährtin pamela courson ging er nach europa.

Im mittelpunkt seiner kreativität stand seit jeher eine poetisch aufgeladene sprache. Die suche nach filmischen gestaltungsmöglichkeiten kam bald dazu. Einige zeitzeugnisse belegen, wie er sich bereits während seines studiums der film- und theaterwissenschaften (1964 - 65) atemlos & gierig bildung und erkenntnisse an land gezogen hat. THE LORDS (zuerst veröffentlicht 1969 als privatdruck) ist zweifellos ein von jim bewahrter rest dieser notate. Dort hat er gesellschaftliche zusammenhänge betroffen für sich selbst entdeckt und versucht, das mosaik seines theoretischen (auch kritischen) nachdenkens über soziale realität und künstlerische möglichkeiten darzustellen. Heute können wir die arbeit als brückenglied und schlüsseltext lesen, denn sie vermittelt seinen endgültigen schritt ins eigene, den übergang vom suchen zum finden, vom sammeln zum gestalten.

Eine konsistente ausführung seiner grundlegenden theoretischen und konzeptionellen gedanken und asssoziationen war dem autor zu diesem zeitpunkt noch nicht möglich. So ist THE LORDS - von der äußeren form her - kaum mehr als ein grobes gerüst aus beobachtungen & anmerkungen, ein exposé, aus dem ein buch hätte werden können - aber auch ein film. Hilflosigkeit beim leser, mehr noch beim übersetzer, ist aus dieser unzulänglichkeit heraus unvermeidbar. Widersprüche, nicht durchgehaltene darstellungsebenen oder gedankensplitter übersetzen zu wollen, wird entweder auf kosten der verständlichkeit oder der übersetzungstreue gehen. Für jede einzelne wendung ist aus neue abzuwägen zwischen diesen kriterien.

THE LORDS lag bisher zweimal auf deutsch vor. Beide übertragungen werden dem text kaum gerecht. In mehreren anläufen entstand seit 1975 meine eigene übertragung. Sie erschien zunächst 1984 in berlin, als privatausgabe im damaligen selbstverlag Autonomie & Chaos. Für die vorliegende neuausgabe 2018 wurde die übersetzung durchgesehen; einige abbildungen kamen dazu.

Jim war fasziniert von der macht, die jedem auf der bühne, auf der leinwand zugebilligt wird von den zuschauern, - und zugleich hat er erschrocken und betroffen die auswirkungen einer solche arbeitsteiligen lebendigkeit beobachtet. Die inhaltliche prägnanz und spannung, mit der er dieses problem in seiner ganzen ambivalenz zusammenbaut, gleicht die schriftstellerischen mängel bei weitem aus für jeden, der sich ernsthaft damit auseinandersetzt.
Jim morrisons notizen über uns, die wir vom mad body dancing on hillsides verwandelt worden sind in a pair of eyes staring in the dark, kamen 1971 zu mir, und sie werden mich wohl zeitlebens begleiten; denn um diese ganz und gar tragische metamorphose von gesellschaft und menschlichkeit geht es mir & uns, - und sie schreitet fort.

Mittlerweile sind mehrere bände mit texten jim morrisons auch auf deutsch erschienen, daneben wichtige interviews mit ihm, sekundärliteratur und dokumentarfilme. Als wir (gise & ich) 1976 sein grab in paris besuchten, war es nur die verschmuddelte rückseite eines anderen grabmals; ein friedhofswärter wies uns den weg. Mittlerweile gibt es dort einen ordentlichen grabstein und eine fülle von besucherInnen sowie mediale aufmerksamkeit an jedem geburtstag und todestag. Vergessen ist jim morrison offenbar nicht … das tröstet und gibt hoffnung, daß von ihm nicht nur die platten der Doors übrigbleiben werden - so atemberaubend und durch nichts zu ersetzen diese musik ist.

THE LORDS. NOTES ON VISION ist ein nachlaß von jim morrison, der von den DOORS weggegangen war, um die nächsten räume  seines eigenen lebens zu finden. Diese textcollage war 1968/69 jim morrisons erster schritt über die zeit des sängers, songschreibers, des musikstars hinaus. Rückblickend läßt sich THE LORDS lesen als kommentar zu den erfahrungen, die jim bis 1969 als sänger der Doors mit der medialen und physischen öffentlichkeit gemacht hatte. Es war der allererste schritt seiner kritischen auseinandersetzung mit der grundlegenden und progressiven entfremdung und verdinglichung, mit der janusköpfigkeit des films (als kunstwerk oder konsummedium) - themen, über die zu jener zeit erst von wenigen kritisch nachgedacht wurde. , Heute, auf dem hintergrund der elektronischen, digitalen, interaktiven medien, ist es geradezu ein modethema.

Aber diese textcollage ist zugleich ein dokument seiner suche nach vitalen verbindungen zwischen texten, musik, kino, bild, inszenierung und sozialem leben - auch darin war jim seiner zeit voraus. Vermutlich hätte er als einer der ersten künstler mit den möglichkeiten der digitalen technik gearbeitet - im bemühen, wahrhaftigkeit, authentiziät, wahrheit anzunähern durch unwahrheit, entfremdung, verdinglichung hindurch.
Nicht zuletzt geht es in THE LORDS um das ewige thema: kunst oder leben? Ist kunst tieferes, autentischeres, dichteres leben - oder ist sie ein gegenpol zum leben, führt sie weg von authentischem leben?

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Mondrian graf v. lüttichau: DIE SINNSPRÜCHE DES LI BOYANG, GENANNT LAOTSE (2019)

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Um die erste version meines versuchs einer annäherung an das 2400 jahre alte weisheitsbuch Dàodéjīng (Tao Te King) zu veröffentlichen, hatte ich 1981 den Verlag Autonomie + Chaos Heidelberg ins leben gerufen.

Mehr und mehr haben sich im laufe der jahrhunderte die bewußtseinsebenen ausdifferenziert, auf denen wirklichkeit (jenseits begrifflicher festlegungen) erfahrbar wird. In unserer zeit kann nur noch jeder einzelne an seinem platz zu machen versuchen, was er oder sie für angemessen hält. Wirklichkeitsgemäßes handeln auf eine bestimmte praxis festzulegen, ist nicht mehr möglich, denn jedes definieren trägt den keim der seit damals fortgeschrittenen verdinglichung (instrumentalisierung). Menschliche wahrnehmung und erfahrung ist ein vielfach verzweigter baum geworden; zur zeit des li boyang hatte der noch weit weniger äste, zweige, blüten und früchte. Verdinglichung und selbstentfremdung haben sich aufgebläht in einer weise, deren grundmuster li boyang 2300 jahre vor theodor w. adorno und max horkheimer beschrieben hat.

Dennoch können heutige soziale und politische konflikte zurückgeführt werden auf prozesse oder strukturen des menschlichen bewußtseins, wie sie in diesen 81 aphorismen kristallklar beschrieben werden. Alltägliche konflikte lassen sich begreifen durch DAO; von daher sind lösungen zu finden – noch heute. Diese uralten sinnsprüche sind das früheste plädoyer für herrschaftslose achtsamkeit und gegen entfremdung von der ganzheit des lebens. Allerdings müssen wir die hinweise des Dàodéjīng hinüberdenken in unsere sozialpsychologischen umstände.

Die tiefenökologische, sozialpsychologische weisheit des li boyang zeigt sich als konkrete orientierung an authentischem sein und handeln, – als gegenbewegung zu seelischer und bürokratischer verdinglichung.

Ab 2006 besann ich mich auf meine alte übertragung des Dàodéjīng, dachte nach über eine neuausgabe – da kam völlig überraschend das angebot einer veröffentlichung beim verlag Das klassische China. Jetzt entstand in schöner zusammenarbeit mit matthias claus seine bibliophile buchhandelsausgabe. Sie unterscheidet sich in wesentlichen nuancen von meiner ausgabe 1981. (Restexemplare sind über mich noch erhältlich.)

Die hier vorliegende ausgabe – wieder bei Autonomie und Chaos (online und kostenfrei) – ist nahezu textgleich mit der von matthias claus herausgegebenen version; es gibt nur einige wenige veränderungen. Enthalten sind wiederum die beiden briefe hermann schäfers (1978), hinzugekommen sind (sehr subjektive) literaturhinweise.

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AUTONOMIE UND CHAOS: Verlagsverzeichnis 1980 - 2020

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Teil 1 dieses Verlagsverzeichnisses enthält eine Zusammenstellung der Veröffentlichungen (jeweils mit Kurzbeschreibung) nach thematischen Stichworten sowie eine Liste der ISBN-Nummern.

Teil 2 enthält eine Sammlung der Einleitungen, Nach- und Vorworte sowie Infotexte zu den Veröffentlichungen 1980–2020 sowie ein alphabetisches Verzeichnis sämtlicher Veröffentlichungen (nach AutorInnennamen).

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Heinrich Hauser: WETTER IM OSTEN

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Die preußische provinz ostpreußen war von 1871 bis 1945 der östlichste landesteil deutschlands. Hier herrschten adelige gutsbesitzer, die große ländereien besaßen, getreide und kartoffeln anbauten und oft auch pferdezucht betrieben.
Nach dem ersten weltkrieg beschlossen die siegermächte im versailler friedensvertrag von 1918, große teile westpreußens, danzig, die ostpreußische stadt soldau und das memelgebiet vom deutschen reich abzutrennen und dem polnischen staat zu übertragen. Ostpreußen wurde durch den polnischen korridor, einen 30 bis 90 kilometer breiten landstreifen, der polen den zugang zur ostsee ermöglichte, vom deutschen reich getrennt und somit eine exklave.
Ostpreußen geriet durch den korridor in eine wirtschaftliche isolation, die sich in der weltagrarkrise 1928 zu einer notlage entwickelte.
Hitlers besuch in ostpreußen (1932) war ein triumph; von weiten kreisen der bevölkerung wurde er als retter verstanden. Innerhalb der kriegtreiberischen und rassistischen NS-ideologie vom volk ohne raum (hans grimm) kam ostpreußen ein wesentlicher stellenwert zu.
Im und nach dem zweiten weltkrieg wurden millionen deutsche aus ostpreußen vertrieben. Vorbehaltlich einer endgültigen friedensregelung wurde die region geteilt, bekam neue grenzen, neue bewohner und neue städtenamen. Der nördliche teil wurde sowjetisch (region kaliningrad oblast), der südliche polnisch (region ermland-masuren). Beide regionen entwickelten sich in den folgenden jahrzehnten sehr unterschiedlich.
In der BRD wurde ostpreußen jahrzehntelang zum nostalgischen symbol für menschen, die von dort vertrieben worden waren, sowie zum ideologem für reaktionäre vertriebenenverbände.
1990 erfolgte die endgültige friedensregelung im zwei-plus-vier-vertrag. Dieser legte dann die oder-neiße-linie als ultimative grenze zwischen deutschland und polen fest.

Heutzutage ist ostpreußen ein historischer begriff, der in der medialen öffentlichkeit keine streitgespräche oder emotionalen aufwallungen mehr stimulieren kann. Die regionen wurden zum ziel von urlaubsreisen, auch zu meist behutsamer anknüpfung an individuelle familiengeschichte(n). Wer sich fragt, wie war es denn damals wirklich, findet (auf deutsch) wenig mehr als nostalgisch geprägte erinnerungsliteratur. Heinrich hausers hier erstmalig wiederveröffentlichte reportage von 1932 geht weit darüber hinaus. Dabei verringert auch seine NS-apologetische tendenz kaum den informationsgehalt.

Die vorliegende reportage ist – trotz der offen ausgesprochenen nationalistischen und NS orientierten haltung – weitgehend an paragmatischen sachfragen orientiert, wie auch andere arbeiten des autors. Hauser will verstehen, wie der soziale alltag funktioniert, das miteinander von mensch & natur & technik: arbeitsabläufe, handwerkszeug, geräte, vieh, dessen nahrung und milchertrag, Kleidung, Hausbau, Finanzen, wetter und unzählige weitere bestandteile des einfachen lebens. Das alles bildet in hausers buch nicht nur ein folkloristisches gewürz, sondern ist die essenz seines interesses, seiner zustimmung oder seiner kritik.
Dabei versucht er meines erachtens relativ vorurteilsfrei, sich in ostpreußen zu informieren über politische umstände, kräfte, intentionen. Seine einigermaßen idealistisch-naive affinität zu NS-ideologischen axiomen ist unverkennbar; vor allem ein "Bevölkerungsdruck" im deutschen reich sowie eine notwendigkeit, das deutsche reich durch einen "Menschenwall" im osten vor "den Russen" zu schützen, sind ideologische axiome, in denen er sich wiederfindet. Das diskreditiert die redlichkeit seiner reportage nicht mehr als jedes andere soziale, gesellschaftliche, politische axiom, wie sie jeder von uns, auch jeder reporter, in sich hat.

Ein schwerpunkt des buches liegt in hausers überlegungen zur ostpreußischen siedlungspolitik. Die praxis der siedlungsgesellschaften kritisiert er ebenso wie die bürokratische konkurrenz zwischen reichs- und preußischer verwaltung zu lasten der ostpreußenhilfe. Ein weiteres problem sieht er im fehlen von genossenschaftlicher zusammenarbeit, dem gemeinsamem nutzen von landwirtschaftlichen maschinen. Die schuld daran sieht hauser vor allem in ressentiments einer "engstirnigen Politik" mit "romantisch-reaktionären Vorstellungen vom Wesen eines Bauern", die jede gemeinschaftliche nutzung von arbeitsgeräten als "kommunistische Ideen" diskriminierte. Viele Neusiedler waren – so hauser – als ehemalige industriearbeiter längst gewohnt, maschinen kollektiv zu nutzen. Der autor plädiert unmißverständlich für landwirtschaftliche produktionsgenossenschaften (wie es später in der DDR hieß: LPG), die zudem die erfahrung des kollektiven arbeitens aus dem damaligen Freiwilligen Arbeitsdienst (FAD, - seit 1931) nutzen könnten.
Gegenüber der einseitigen verherrlichung des bauernstands bei den nazis findet sich hier (und in anderen werken hausers) eine umfassende wertschätzung aller handwerklichen tätigkeiten /produkte /werkzeuge einschließlich der industriearbeitern gegenüber handel und kapitalismus. Zugleich zeigt sich hier wie in anderen arbeiten des autors seine grundlegende sensibilität und achtung der natur gegenüber.

Hausers reportage vermittelt – anhand der modellhaften situation ostpreußen – das gesellschaftliche klima, in dem die massenhafte zustimmung zu den nazis in gesamtdeutschland zum naheliegenden nächsten schritt wurde. Dieses klima setzt sich zusammen aus unzähligen färbungen des alltagsbewußtseins, die als einzelne relativ belanglos sind. Auf diese weise funktionieren ideologische prozesse in jeder gesellschaft, dieses subtile einfärben von aussagen gehört zum handwerkszeug der allermeisten politiker und bestimmter massenmedien. Am anfang steht jedoch immer ein genuiner prozeß der affektiven besetzung individueller meinungen.
Soll die wiederveröffentlichung dieses buches also verständnis heischen für damalige NS-anhänger? In einer weise durchaus. Aus zeitzeugenberichten wie der hier vorliegenden könnten wir lernen, welche folgen es haben kann, wenn eine mehrheit der bevölkerung sozialem abbau, diskriminierung durch die eigene bürokratie und struktureller hoffnungslosigkeit unterworfen ist – und dann eine rattenfängerpartei zur agitation bereitsteht. Das gilt damals wie heute, hier wie dort.

(Aus dem nachwort)

Wiederveröffentlicht wurde von heinrich hauser bei A+C bereits das autobiografisch orientierte buch  KAMPF. Geschichte einer Jugend (1934). - Wichtige neuveröffentlichungen besorgte der WEIDLE VERLAG Bonn.

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Ernst Glaeser: DER LETZTE ZIVILIST

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Ernst glaesers 1928 erschienener erster roman JAHRGANG 1902 war ein internationaler erfolg, an den das zweite, FRIEDEN 1919 (1930) anknüpfen konnte. 1933 wurden auch diese bücher von den nazis verbrannt.
Glaeser siedelte im dezember 1933 mit seiner frau und seinem 4-jährigen sohn in die tschechoslowakei über, von dort ging er 1934 nach locarno und im oktober 1935 nach zürich. Der dort entstandene und hier wiederveröffentlichte dritte roman DER LETZTE ZIVILIST zeigt nuanciert die schrittweise machtergreifung der NS-ideologie in einer süddeutschen kleinstadt. Es wurde im laufe der folgenden jahre (angeblich) in 14 sprachen übersetzt.
In den folgenden jahren distanzierte sich glaeser zunehmend von den antifaschistischen deutschen emigranten. Am 1. april 1939 kehrte er nach deutschland zurück.
Im NS-deutschland durfte glaeser eingeschränkt publizieren. Nach 1945 wurden weiterhin werke von glaeser veröffentlicht, der autor konnte jedoch nicht mehr an seine erfolge der 1930er jahre anknüpfen. Ernst glaeser, geboren 1902, starb 1963 in mainz.

Zweifellos wollte der autor mit dem exilroman DER LETZTE ZIVILIST (1936) der öffentlichkeit die augen öffnen über die kollektive psychodynamik der bevölkerung in deutschland. Er wollte nachvollziehbar machen, wieso eine mehrheit von deutschen zu parteigängern der nazis wurden und es geblieben sind. Ihm ging es kaum um den konkreten antifaschistischen widerstand (der in kommunistisch orientierter exilliteratur im vordergrund stand), eher um die überwindung derartiger deformationen des menschlichen, – um "Erziehung nach Auschwitz" (adorno), allerdings bereits vor auschwitz.
Der übergang "ganz normaler" bürger zu nazis konnte in den 30er jahren beobachtet, aber noch nicht verstanden werden. Bekanntlich streiten sich die fachwissenschaften bis heute um diese frage. Der roman bietet erfahrungsmaterial zu dieser frage und lebt aus der sensiblen beobachtung sozialer und ideologischer zusammenhänge. Er ist organisiert wie das szenario eines films. Krasse schnitte richten die aufmerksamkeit unmittelbar auf das bild der szene, klischeehafte momente malen soziale situationen aus. Die personen wirken gleegentlich wie rollen im kabuki-theater.
Kein zufall, daß manche passagen sich lesen, als habe ein NS-protagonist sie geschrieben. Eine von allen unerwünschten affekten gereinigte "wissenschaftliche" darstellung der NS-deutschen realität ist jedoch noch keine bewältigung, eher eine entwirklichung. Um tiefgründiger nachzuvollziehen, wie es damals (vermutlich) war, ist es nötig, sich gelegentlich in den dreck, in das ekelhafte hineinzufühlen, das zur nazifizierung der deutschen bevölkerung gehört. Durch glaesers nuancierte darstellung wird auch die rhetorisch-manipulatorische machtergreifung der NS nachvollziehbar. Nur in wenigen zeitzeugenberichten wird die emotionale wirkung von hitlerreden in der damaligen zeit nachvollziehbar, ja vielleicht sogar nachfühlbar wie hier.

Die handlung dieses romans ist durchgängig modellhaft zu verstehen, es geht nicht um individuelle schicksale. Ähnlich sozialwissenschaftlichen und psychohistorischen darstellungen sollen glaesers vignetten typische soziale konstellationen verdeutlichen. Hinter diesen mustern liegt dennoch viel einfühlungsvermögen in das gewordensein der figuren. Einzelne situationen lassen sich als parabeln verstehen, manches ist symbolisch aufgeladen. Manche slapstickhaft überzogene szenen sind eher komödiantisch gemeint.
Es ist ein böses – und ein trauerndes buch. Von ekel geschüttelt gegenüber den deutschen, die mit vielfältigen varianten von gift und galle, von lüge und betrug und menschenverachtung deutschland zu zerstören beginnen, – und trauernd um dieses deutschland, das für glaeser (wie sich zeigen sollte) als heimat unersetzbar blieb wie seinen hauptfiguren bäuerle und hans diefenbach.

Bekanntlich ist ernst glaeser 1939 zurückgegangen nach deutschland. Er habe seinen frieden gefunden mit den nazis, heißt es manchmal. Bereits durch den vorliegenden roman läßt sich ahnen, daß das doch etwas komplizierter war. Einige erzählungen zeigen deutlich glasers unauflösbare seelische gebundenheit an die heimat in (süd)deutschland, jenseits aller politischen umstände. In einer der erzählungen (ANDANTE 1939) geht es um seine rückkehr nach deutschland nach fünf jahren exil. "Nein, ich gehöre nicht zu dieser Musik. Mögen auch die Marktplätze überquellen von ihren Fanfaren und die Hybris des Muskels sich auf den Podien spreizen, unvergänglich bleibt, vor dem Geschmetter, dem Aberwitz des Aufstands, der kleine Spalt auf Deutschland, die Heimat, das erste Land." Heimatsuche wird in glaesers büchern direkt oder indirekt immer wieder thematisiert. Affirmative und kolportageelemente wie politische anpassung (im NS wie in der adenauer-BRD) liegen meiner meinung nach seinem schmerzhaften bedürfnis nach geborgenheit in vertrauter umgebung (sei es der menschen, sei es der natur) zugrunde. – Deutschland als liebesobjekt: nationalismus kann auch symptom sein für bindungssehnsucht, bindungsgestörtheit, die auf diese weise kompensiert wird. Dies dürfte für nicht wenige menschen gegolten haben und gelten, auch anderswo, auch heutzutage.
Diese neuausgabe bei A+C orientiert sich an der erstausgabe (1936).

(Aus dem nachwort)

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Martha Wertheimer: MASCHINE F 136

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Ein krimi in diesem verlagsprogramm?? - Spätestens am schluß wird der grund nachvollziehbar geworden sein. Aber wie es so ist bei krimis: verraten wird nichts! – Spannung ist jedenfalls garantiert bis zur letzten seite.

Hinter HAL G. ROGER, dem ursprünglichen autorenpseudonym des hier erstmals wiederveröffentlichten romans von 1933, steckt mit größter wahrscheinlichkeit MARTHA WERTHEIMER, die deutsch-jüdische journalistin, pädagogin und zionistin, deren hauptwerk Entscheidung und Umkehr (originaltitel: Dienst auf den Höhen) bei A+C bereits neu erschienen ist.

Das buch spielt in london. Es gibt die stimmung des kriegstechnischen wettlaufs europäischer staaten bereits vor ausbruch des Zweiten Weltkriegs wieder. In der offenbar gesamteuropäischen vorkriegsstimmung von 1933 ist Maschine F 136 ein antimilitaristischer krimi, gerichtet an leserInnen aller staaten.

Kaum ahnen konnte die mutmaßliche autorin von Maschine F 136 im jahr 1933 , welchen kampf um menschlichkeit und gegen verbrecherische, tödliche, wahnsinnige intentionen auch sie bald führen würde: um flucht-, schutz- und überlebensmöglichkeiten für juden. Neben ihrer journalistischen arbeit beteiligte sie sich an der Hachschara-ausbildung (vorbereitung zur ansiedlung in palästina). Später übernahm MaWe (wie sie von freunden genannt wurde) die leitung  der jüdischen jugendfürsorge; sie organisierte und begleitete kindertransporte ins rettende ausland, vor allem nach england.
Sie selbst wurde 1942 von den nazis ermordet.

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Emilia Mai: BERICHT

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Emilia Mai ist jetzt Anfang 20. Seit frühester Kindheit war sie sexueller Gewalt und anderer Folter unterworfen – zunächst durch den Vater, später durch eine Vielzahl fremder Männer, denen sie vom Vater (zweifellos für Geld) weitergegeben wurde. Menschenhandel, Zwangsprostitution, Folter, Sadismus, kollektive Vergewaltigungen, Produktion von Kinderpornografie: Dieser bei A+C veröffentlichte Bericht ist repräsentativ für den Leidensweg vieler Kinder und Jugendlicher, auch bei uns in Deutschland.

Emilia Mais Bericht zeigt repräsentative Nuancen, die woanders nicht so deutlich werden – und kann dadurch HelferInnen oder andere Außenstehende dabei unterstützen, sich vorzustellen, wie es Überlebenden geht, und auch: aufmerksam zu werden im Alltag, im Berufsleben (als KindergärtnerIn oder LehrerIn, als Kinderarzt, Hausarzt oder NotfallmedizinerIn).
Da sind Eltern, die als Pädagoge und Psychotherapeutin möglicherweise zu Recht anerkannt werden, die vielleicht tatsächlich Einfühlungsvermögen zeigen im Berufsleben. Daß sie andererseits eigene Kinder mißachten, vernachlässigen und im Stich lassen (wie die Mutter) bzw. foltern, vergewaltigen und "verkaufen", läßt sich zumindest hypothetisch erklären durch unterschiedliche Ichanteile (Ego States), die wiederum mit der kindlichen Sozialisation dieser Eltern zu tun haben.
Bei Emilias Eltern werden grundlegende Elemente dysfunktionaler Familien überdeutlich. Der gnadenlose Sadismus des Vaters (Täters) kann durch nichts relativiert werden. Aus prophylaktischem, epidemiologischem Blickwinkel ist es jedoch wichtig, psychische Umstände zu benennen und zu erforschen, die Grundlagen derartiger Gewaltätigkeiten sein können.

Derartige sadistische, krankhaft narzißtische oder anderweitig schwerstgestörte Väter (und andere primäre Bezugspersonen) stehen wohl oft am Anfang einer entsprechenden Leidensgeschichte. Im nächsten Schritt wird das Kind an andere Täter "verliehen" – und gelegentlich findet sich als "Abnehmerin" auch eine Kultgruppe der Rituellen Gewalt. Selbst wenn jetzt der ursprüngliche Täter (Vater/Eltern) altersmäßig ausscheidet, ist das Opfer weiterhin gefangen. Sofern sich eine multiple Persönlichkeit (DIS) entwickelt hat, passen sich die verschiedenen Teilpersönlichkeiten (Anteile) an das umfassendere Spektrum zwischen Gewalttaten und alltäglichem Leben an – als einzige Möglichkeit, unter diesen Bedingungen zu überleben. Eine derartige Konstellation dürfte das Verbindungsglied sein zwischen der zweifellos häufiger vorkommenden sexuellen Gewalt ausschließlich innerhalb der Familie (Inzest) und Gruppen der organisierten/rituellen Gewalt.

Emilia Mai bezeugt in ihrem Bericht auch eine in der medialen Öffentlichkeit noch immer gerne bezweifelte Tatsache, nämlich die Existenz von nichtregistrierten Säuglingen und Kindern. Viele von ihnen werden vornehmlich aus Osteuropa eingeschleust und hier den teuflischen Bedürfnissen entsprechender Täter geopfert.

Deutlich wird beim Vater, aber auch bei anderen Tätern, die schrittweise Steigerung der Perversion, – das Ausprobieren, das Lernen der Täter durch die eigenen Empfindungen beim Ausleben von sadistischer Gewalt, der Genuss der Macht.

Spontan möchte ich jeden Mitmenschen davor bewahren, diese Veröffentlichung zu lesen, – aber es muß auch solche Zeugnisse geben. Wie sollten Außenstehende sonst auch nur ahnen können, wie es den Opfern der organisierten, rituellen Gewalt ergeht – nicht einem, nicht hundert, nein, vielleicht tausenden allein in Deutschland. Wie sollten wir ganz normale Bürger sonst auch nur ahnen, was für ein Doppelleben manche von uns führen.

(Aus dem Nachwort)

ACHTUNG – TRIGGERWARNUNG!
Dieser Bericht enthält konkrete Darstellungen schwerster sexualisierter Gewalt!

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Mathias Benedict Graf v. Lüttichau. Lucin 1881 – Zingst (Darß) 1947

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Unter "Familiengeschichte" verstehe ich das reale Geflecht miteinander verwandter Menschen – jenseits irgendwelcher traditioneller, geschlechtlicher, elitärer, finanzieller oder rassistischer Kategorisierungen: angeheiratet oder Namensträger von Geburt, weiblich oder männlich, ehelich oder außerehelich, Kolonialwarenhändler oder Bankdirektor, adelig oder bürgerlich, weiß oder farbig. Familiengeschichte kann auf diese Weise zum Impuls werden, Brücken zu schlagen zwischen Menschen, Neues zu verstehen aus ganz anderen mitmenschlichen Welten!

Als ich jetzt zu meiner großen Überraschung erfuhr, daß mein Großvater Mathias Benedict Graf v. Lüttichau (Thies) einen vorehelichen Sohn hatte, mit dem er in seinen letzten Lebensjahren in väterlich-zugewandtem Briefwechsel stand, wurde genau dies zum Anlaß für die hier vorliegende Veröffentlichung innerhalb der "Beiträge zur Familiengeschichte". Sie enthält von Mathias neben den Briefen an seinen ersten Sohn Karl Heinz Platzdasch frühe Gedichte sowie Tagebuchaufzeichnungen aus dem damaligen Deutsch-Südwestafrika (Namibia) von 1910. Dazu kommen Zeugnisse der Familie Platzdasch-Dargatz sowie Erinnerungen seines zweiten Sohnes Harald, eines Freundes von Thies sowie eine kleine Ahnentafel.

Bei der Lektüre der Briefe an Karl Heinz Platzdasch sowie der hier ebenfalls dokumentierten Tagebuchaufzeichnungen aus Namibia stellt sich die Frage: War Thies ein Rassist, ein Nazi? Oder wurde er einer? Oder war er ein taktischer Mitläufer, bedacht auf seine eigenen Vorteile? Wo war seine in den Briefen an seinen ersten Sohn und anderswo bezeugte mitmenschliche Aufmerksamkeit beim Hören von Hitler- und Goebbelsreden, bei all dem, was ja wohl auch er, in der Sand-und-Wasser-Einöde am äußersten Rand Deutschlands (oder spätestens bei seinem Einsatz im Stalag IIc Greifswald) mitbekommen haben mußte? – Was ist das überhaupt, ein Nazi zu sein? Solche Irritationen lassen sich kaum verdrängen.

Mittlerweile werden auch in der Öffentlichkeit Zeugnisse beachtet, die Aufschluß geben über die Gemengelage von Ideologemen und Traditionen, persönlichen Umständen und Interessen, die zusammengenommen den massenhaften Rückhalt des NS-Regimes in Deutschland bewirkt haben dürften.
Eine Grundlage dieser Gemengelage ist zweifellos das ideologische Sammelsurium, das seit dem Ende des Kaiserreichs durch Deutschland schwappte. Unterscheidliche Ideologeme waren Bestandteil des Welt- und Menschenbildes einzelner Bürger, andere wurden individuell abgelehnt. Und da das ideologische Syndrom des NS selbst ein Sammelsurium von (teilweise inkompatiblen) Elementen war, ergab sich in der deutschen Gesellschaft eine Fülle von individuellen politisch-gesellschaftlichen Standpunkten und Konsequenzen, sehr flexibles Rohmaterial für die nazistische Umerziehung der Bevölkerung.

Wollen wir es eigentlich noch so genau wissen? Zweckmäßig ist in jedemfall, über das Phänomen solcher komplexen, heterogenen Bewußtseinsinhalte nachzudenken, denn in unserer Zeit der von jedermann rezipierten (konsumierten) weltweiten Medien (als primäres Sozialisationsinstrument schon der Kinder) ist das nicht anders, nur noch komplexer, irisierender, unvorhersehbarer als damals. Nur sehr eingeschränkt und sporadisch wird derlei im Alltag reflektiert, vielmehr geht es vorrangig um affektive Besetzung von Ideologemen und Haltungen, um Meinungen, das heißt, solche aus der Gesellschaft kommenden Momente werden inkorporiert ins individuelle Selbst- und Weltgefühl.

Zum anderen aber sind wir es den Opfern der Nazis weiterhin schuldig, uns um Verständnis für diese Zusammenhänge zu bemühen – auch, weil es weiterhin Millionen Opfer von Rassismus, Völkermord, ideologisch begründeten Diktaturen und deren fanatisierten Anhängern gibt.

(Aus dem Nachwort)

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Irene Forbes-Mosse: DON JUANS TÖCHTER

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Irene forbes-mosse lebte von 1864 bis 1946 als angehörige der preußischen oberschicht, jedoch über viele jahre in norditalien, unter künstlern, intellektuellen und offenbar auch in stetem kontakt mit der sogenannten arbeitenden bevölkerung. Ihre erzählungen vermitteln uns in überraschenden konstellationen und assoziationen, mit skurrilen formulierungen momente von alltagslebendigkeit, die bewahrt bleiben sollten nicht anders als musik, gemälde, literatur früherer zeiten: klänge, stimmungen, empfindungen, blicke auf die welt und individuelle impulse, die weitgehend verlorengegangen scheinen.

In manchen dieser novellen und erzählungen wird sinnlich nachvollziehbar, daß gesellschaftliche konventionen, tabus, idiosynkrasien und andere schrullen jener oberschicht (aus adligen – mit und ohne reichtümer – und bürgerlichen reichen) ein ebenso lebenswertes soziales system ergaben wie unsere heutigen konventionen, die uns cum grano salis selbstverständlich sind. Zweifellos gilt das für sämtliche gewachsenen gesellschaftlichen systeme, sei es in der antike oder auf borneo, im europäischen mittelalter oder im alten china. Und alle diese systeme haben ihre dunklen flecken, ihre speziellen formen von unterdrückung und zerstörung. Zur entwicklung des homo sapiens hin zu umfassender lebenswerten formen gehört – neben vielem anderen – auch das bewahren lebenswerter momente aus vergangenen zeiten, regionen und schichten. Dies betrifft nicht nur vom aussterben bedrohte völker außerhalb europas, sondern auch lebensweisen und empfindungen hier bei uns. – Bewahrt werden sollte nicht zuletzt sprechen und schreiben als individuelle ausdrucksform, die heutzutage zunehmend der gleichschaltung durch massenmedien und rechtschreibnormen zum opfer fällt; irene forbes-mosse hatte demgegenüber offensichtlich keinerlei bedürfnis, sich an der literarischen hochsprache ihrer zeit zu orientieren. Noch in ihren späten erzählungen bildet sie ihre koboldesken satzgirlanden, wie ihr der schnabel gewachsen ist.

Der geringe respekt, den die autorin grammatischen, stilistischen, gelegentlich auch orthographischen regeln zollt, ist bei ihr zweifellos nicht mangelnde bildung. Offenbar hatte sie ein tiefes gespür dafür, wie durch die zunehmende regulierung und kategorisierung in allen lebensbereichen leben falsch und zerstört wird. Eine ihrer protagonistinnen erinnert sich an eine zeit, "als die Kirchen noch unbekümmert draufloswuchsen und jedes Jahrhundert etwas von seiner Eigenart dazugab, wie Schichten die allgemach ein Gebirge bilden". Solch genuin-ungeregeltes leben stellt irene forbes-mosse überall in ihrem werk dar, in umgangsformen, stillosen zimmereinrichtungen, gartengestaltungen oder häusern, aber auch im gespinst, den schichten seelischer befindlichkeiten und sozialer zusammenhänge, im denken und assoziieren der protagonistinnen und durch die häufigen chronologischen sprünge des erzählflusses.

Kostbar ist ihre poetische reflexion auch deshalb, weil sie nirgendwo versucht, ihre erfahrungen zu vereinheitlichen, sie einem prinzip, einer individuellen (beruflichen, politischen) zielsetzung anzupassen und unterzuordnen.

"Worte sind große Zauberer", sagt irene forbes-mosse. Im tiefsten ist sie immer lyrikerin. Ihre assoziationen sind höchst subjektiv (und manchmal befremdlich): Was hat sie nur damit gemeint? was soll das jetzt? – solche befremdeten fragen können uns hineinlocken in die untergründige poetische, oft geradezu musikalische wahrheit ihres blicks, ihres gespürs. Die unendliche fülle des sogenannten einfachen lebens, die momente und nuancen, assoziationen und zusammenhänge, schattierungen und dissonanzen, die gerüche, farben und klänge, das (gar nicht so einfache) sein von pflanzen, tieren und menschen: all das liegt ihr am herzen – und von den menschen die frauen noch ein bißchen mehr. Oft in einer art innerem monolog einzelner protagonistinnen fließt das leben in den erzählungen weiter – anfang wie ende scheinen meist nur der begrenztheit des buches geschuldet. Innere und äußere zeit, seelisches und soziales leben gehen ineinander über in ihren novellen und erzählungen. Irene forbes mosse läßt ihre kompromißlos subjektiven empfindungen, assoziationen, ihre wörter, bilder, erinnerungen, träume, sehnsüchte, ihre trauer und hoffnungslosigkeit einfach tanzen – ohne bedeutungen, zusammenhänge, schlußfolgerungen festzuschreiben. Sinn liegt allerdings in jedem dieser momente selbst: in seiner evidenz; genau das ist jedoch die situation unseres bewußtseins seit dem ende des 20. jahrhunderts – nach dem endgültigen zusammenbruch aller allgemeingültigen wertsysteme und ideologien.

In der menschenwelt, wie sie ist, überwintert humanität in nischen: das ist wohl so, auch wenn wir's gerne anders hätten. Solche nischen (oder auch schon ihre kristallisationspunkte) wahrzunehmen, sie zu stärken und zu bezeugen, scheint geradezu lebensinhalt der autorin gewesen zu sein: in begegnungen zwischen menschen und zwischen mensch und nichtmensch, im eigenen bewußtsein drin, jenseits von intentionen und handlungen, im umgang mit wörtern (nicht zuletzt dies). – Deutschland hat irene forbes-mosse nach 1931 bis zu ihrem tod 1946 nicht mehr betreten und nur noch ein buch veröffentlicht, 1934.

(Aus dem nachwort)

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Irene Forbes-Mosse: EIN KLEINER TOD. Prosa, Lyrik, Zeugnisse

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Abgesehen von einigen gedichtbänden begann Irene Forbes-Mosse (1864-1946) erst nach dem tod ihres mannes (1904) zu schreiben. Ihr werk, novellen, erzählungen und zwei kurze romane, ist mittlerweile vollständig vergessen. Erwähnt wird sie allenfalls als enkelin bettine und achim v. arnims.

Der dichter karl wolfskehl, wie sie nach 1931 im exil, schreibt ihr 1935 über ihre erzählungen:

"(…) entzückt und bewegt mich der märchenhafte Reichtum, der aus so viel sicheren und originellen Einzelzügen, so viel farbigen Tupfen, Bildern und Bilderfolgen zusammenschmilzt, die, zart und stark zugleich, in sich selber bestehen, aus sich selber zu wachsen scheinen. Was Sie alles wissen, sehen und aufspüren! Das ist nicht mehr Beobachtung oder bloßes Wissen um Charaktere, Altersstufen, menschliche Bezüge, Toilettengeheimnisse und Gastronomie (…): es ist bei Ihnen immer, als erfaßten Sie die geheimnisvollen Fäden, das gesamte Astralgewebe, aus dem Situationen und Begebnisse erst ihren Sinn erhalten. Alles Halbtonige, das "Zwischen", der abschattende Hauch, den der Gang der Dinge rückläßt, das Unausweichliche eines Schicksalswegs und das süße Mitfühlen des Lieblich-Unzulänglichen alles Erdendaseins: das sind die Elemente, aus denen Ihre Figuren gehoben und gestaltet sind, daraus sie wachsen und welken. Dabei als Gefühlsstand eine warme, mitzitternde Klarheit, sie verbirgt sich und andern nicht die kleinste Falte, verbietet sich kein Lächeln und keine Ironie –– wer kann heut noch so wundervoll boshaft sein, so fein und selbstgewiß doch auch des andern, des Angeschauten Teil und Recht mit freundlichem Achselzucken wahrend, die armen, tölpischen Kinder, genannt Erwachsene, also auf ihr Getue und Getapse hin ansehen und rubrizieren! Eigentlich gilt Ihr stärkstes, Ihr ganz mitzitterndes Schauen und Erkennen ja doch jener unheimlichen, aus Frohlocken und Trübsinn gewobenen, noch halb jenseitigen Zwischenwelt kurz vor Tage."

Diese erste wiederveröffentlichung enthält die aufzeichnungen "Der kleine Tod", ausgewählte gedichte sowie ein biografisches nachwort mit briefauszügen und anderen zeugnissen von zeitgenossen. Weitere werke irene forbes-mosses werden bei A+C folgen.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: ALLES. ALL. ALLEIN

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Sporadisch entstanden 1993-2003 aphoristische aufzeichnungen, die über mein nachdenken für den alltag hinauszugehen schienen. Mit ihnen wurde das tagebuchschreiben endgültig beendet. - Erst heutzutage, im rückblick, meine ich zu verstehen, daß ihr sinn in einer konvergenz von psychologischer, politisch-soziologischer und spiritueller achtsamkeit lag..

"Die einzige dem menschen mögliche absolutheit liegt darin,
relativität als solche anzunehmen und ALLES in ihr zu suchen - und
vielleicht sogar zu finden."

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Alberto Albertini: ZWEI JAHRE

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In diesem 1936 in österreich auf deutsch erschienenen philosophisch-spirituellen entwicklungsroman geht es zunächst um einen jungen römer im 4. jahrhundert unserer zeitrechnung, maximus, dem von gott nur noch eine lebenszeit von genau zwei jahren zuerkannt wird. Auf grundlage dieses gedankenexperiments entfaltet der italienische autor alberto albertini (1879 – 1954) auf mehreren ebenen kaleidoskopische reflexionen zum wesen von leben und tod, zur wahrheit von (christlicher) religion. Dies ist ein literarisches (kein philosophisches) werk, in dem der autor mögliche antworten auf diese existenziellen fragen in poetischer phantasie gestaltet.

In alltagsorientierten, keineswegs professoralen diskursen zwischen den zwölf personen der handlung mit ihren je eigenen blickwinkeln auf tod, leben und religion fächert sich das thema spannungsvoll und unvorhersehbar auf. Spiritualität als moment unserer wohl grundlegenden, zivilisationsübergreifenden bewußtseinsentwicklung wird dabei deutlich von organisierter monotheistischer religion abgegrenzt, wobei die möglichkeit einer versöhnung im sinne des panentheismus im verlauf der handlung vorstellbar wird.

Albertinis haltung hat nichts abstrakt philosophierendes; er bleibt den konkreten menschen achtsam, mit altersweiser, resignierter ironie zugeneigt. Unzählige facetten von menschlicher verirrung und menschlicher wahrheit werden berührt; das nachdenken atmet in den einzelnen szenen (meist sind es gespräche), die erzählung schwingt in weiten wellen. Seite für seite lädt es uns zur selbstbefragung ein. Manche szenen enthüllen jäh qualvolle momente des menschlichen alleinseins, unserer unabänderlichen selbstentfremdung vom ganzen der natur – zerreißen die kultivierte nachdenklichkeit des lesers. Aber auch die liebe spricht …

"Vielleicht sind die Rätsel des Todes, aus der Nähe gesehn, einfacher als die des Lebens", ahnt maximus. Eher noch sind die rätsel des todes in wahrheit rätsel des lebens, zeigt sich ihm post mortem.

Unbekümmert umgehen mit der tatsache der sterblichkeit können wir bekanntlich nur, solange sie abstrakt bleibt: andere sterben, nicht wir selbst, nicht unsere nächsten angehörigen. Meist erst in höherem lebensalter wird uns die begrenztheit der noch zu erwartenden jahre bewußt. Spätestens dann kommt für uns alle die frage: womit wollen wir die (wenn auch zeitlich nicht bestimmte) verbleibende lebenszeit nutzen? was hat priorität für uns? – Nicht zuletzt: wie geht das, abschied von der welt nehmen? Wir alle leben allzugerne in reminiszenzen an vergangenes, wir träumen und planen in die zukunft – das hier und jetzt, das allein leben bedeutet, achten wir im alltag kaum (vgl. osho). Auch deshalb ignorieren wir, was für uns alle in jedem augenblick unseres lebens gilt: "Jeder Atemzug bringt mich dem Verfallstag näher, jeder Pulsschlag …" Dem jungen maximus wird dies schmerzlich bewußt; er soll leben mit dem urteil gottes: nur noch zwei jahre! – Deutlich wird, wie nahe christliche versenkung buddhistischer meditation sein kann, aber auch, daß der glaube an götter nicht zuletzt eine antwort auf existenzielle fragen sein kann, die sich uns menschen aus der natur unseres bewußtseins heraus notwendigerweise stellen.

Alberto albertini (1879-1954) war ursprünglich jurist. Seit 1899 hatte er neben seinem bruder luigi leitende funktion bei der CORRIERE DELLA SERA. Diese zeitung entwickelte sich etwa zwischen 1910 und 1930 zur bis heute einflußreichsten unabhängigen tageszeitung italiens. Als mussolini 1922 die macht ergriff, opponierte luigi albertini, als herausgeber des Corriere della Sera, offen gegen den faschismus. Infolgedessen war er 1925 gezwungen, die leitung des blattes abzugeben an seinen bruder alberto. – Alberto albertini trat in seinen späteren lebensjahren vor allem mit belletristischen arbeiten hervor; in italien gibt es zunehmend neuauflagen seiner werke, außerhalb italiens ist er wohl kaum je bekannt geworden.

Das vorliegende buch von alberto albertini war auf deutsch 1936 im HERBERT REICHNER VERLAG WIEN veröffentlicht worden; nach der okkupation österreichs durch die nazis wurde der verlag aufgelöst. Für albertinis buch gab es keine deutschsprachige öffentlichkeit mehr. Die neuherausgabe etlicher werke albertinis in italien macht hoffnung, daß dieser autor nun doch noch einmal dem vergessen entrissen werden wird. Auch dazu möchte meine wiederveröffentlichung beitragen.

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Iden Tietze: TRÄUME AM ABGRUND

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Der zuerst 1947 veröffentlichte kleine roman TRÄUME AM ABGRUND vermittelt uns ein NS-deutschland im bombenkrieg der letzten monate, aus dem blickwinkel der vage antinazistischen, sich als hilflos erlebenden schweigenden mehrheit. Das buch spielt an der westfront 1944/45, im gebiet der eifelberge.

Die personen der handlung sind keine überzeugten nazis und keine antifaschistischen helden, sondern menschen zwischen anpassung, privatistischem rückzug, eigennützigkeit, überlebenskampf, politischer gedankenlosigkeit, zumeist nur indifferentem widerspruch zum nationalsozialistischen regime, – deren mitmenschliche sensibilität und solidarität sich aber durchaus entfaltet im umkreis der konkreten eigenen, affektiv besetzten erfahrungen und beziehungen.

Die autorin vermittelt hautnah zweifellos repräsentative befindlichkeiten in der bevölkerung jener zeitgeschichtlichen situation; seine fast filmische dichte und rasanz macht das buch als zeitzeugenbericht (fast im sinne der oral history) lesenswert bis heute.

Nur eine handvoll bücher der sogenannten trümmerliteratur nach 1945 wurde anerkannt als unverzichtbare zeitzeugnisse. Wie andere, fand auch das vorliegende seine leserInnen in der camouflage eines unterhaltungsromans; als zeitgeschichtliche dokumentation sind solche zeugnisse zumeist verloren. (Siehe auch den ebenfalls bei A+C wiederveröffentlichten roman von anna schack: Das Haus Nr. 131.)

Meist gehen wir in großer selbstverständlichkeit davon aus, daß wir alle uns im alltag in irgendeiner weise mit politisch-gesellschaftlichen problemen, mit ungerechtigkeiten und dem leid fremder menschen befassen, daß wir stellung beziehen und eigene meinungen haben, konsequenzen ziehen oder übergeordnete politisch-gesellschaftliche tatbestände im eigenen interesse nutzen, gelegentlich auch mißbrauchen. Tatsächlich befassen wir uns jedoch im allgemeinen nur mit umständen, die unmittelbar unsere gewohnte alltägliche lebensweise beeinflussen oder die im fokus individueller persönlichkeitsentwicklung liegen. Das gilt unter unseren relativ demokratischen umständen genauso wie es in nazideutschland galt, es war auch in der DDR nicht anders, und in anderen regionen der erde zeigt sich dasselbe. Moralische forderungen mögen gesellschaftlich ihre aufgabe haben, sie ersetzen jedoch nicht soziologische, sozialpsychologische recherche über das, was der fall ist. Das vorliegende buch ermuntert zum nachdenken darüber.

(Aus dem nachwort)

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WAHRHEIT DER SEELE – Ida v. Lüttichau (1798-1856)

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ERSTER BAND + ERGÄNZUNGSBAND

Herausgegeben von mondrian v. lüttichau & petra bern

Dresden im vormärz. - Hoftheater mit verfeindeten künstlerischen koryphäen und stars, unter dem einfluß von kirche, hof und bürgertum. Zerstörte menschenleben und komplizierte ideologische fronten der revolutionszeit. - Ida v. lüttichau ist die frau des dresdner hoftheater-intendanten, vertraute des dichters ludwig tieck und dessen tochter dorothea, des universalgelehrten carl gustav carus und des historikers friedrich v. raumer. Früh tritt sie für richard wagners musik ein. Tod dreier kinder, lebenslang chronische schmerzen, ein zwiespältig-bürokratischer ehemann, von vielen verehrt wie eine heilige: Wer war diese frau? - Erst im überschauen des verstreuten schriftlichen nachlasses sowie von zeugnissen der zeitgenossInnen wird ihr stetes bemühen um achtsamkeit für feinste lebensregungen in sich und anderen deutlich. Idas grundlegende haltung dem leben gegenüber war ein horchen nach innen, um dort existenzielle antworten zu finden. Diese orientierung an der eigenen mitte entfaltete sich angesichts der vom leben an sie herangetragenen aufgaben in dresden zu umfassender tiefgründigkeit auch gegenüber der sozialen außenwelt.

Hinter dem bemühen, ida v. lüttichaus vermächtnis jetzt, 150 jahre nach ihrem tod, ans tageslicht zu bringen, steht die überzeugung, daß wir menschen wie sie unbedingt brauchen: als anstoß, als orientierung und vorbild zu menschenwürdigem leben - gegen verdinglichung unseres seelenlebens und instrumentalisierung der natur um uns.

Erster Band:
In dieser dokumentation sind nahezu alle zu verschiedenen zeiten verstreut veröffentlichten texte und zitate ida v. lüttichaus gesammelt, außerdem alle relevanten zeitgenössischen erinnerungen an sie. Dazu kommen einige hier erstmals veröffentlichten tagebuchaufzeichnungen und briefe sowie ein vorwort des herausgebers MvL. (Korrigierte und ergänzte neuauflage im januar 2017)

Ergänzungsband:
In seinem mittelpunkt stehen erstveröffentlichungen von handschriften (transkribiert für diese ausgabe von petra bern). Das sind tagebuchaufzeichnungen idas, sämtliche erhaltenen briefe an idas engen freund, den historiker friedrich v. raumer sowie auszüge aus tagebüchern einer jugendfreundin (johanne friederike v. friesen) sowie von briefen dorothea tiecks (an friedrich v. uechtritz). Aber es gibt dort noch anderes zu entdecken..

Übrigens: Die denkmalgerechte restaurierung der gräber ida v. lüttichaus und ihrer familie auf dem dresdner trinitatis-friedhof ist abgeschlossen! - Inzwischen wurde auch die direkt danebenliegende grabstätte von carl gustav carus restauriert.

Kurt Münzer: ESTHER BERG

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Am ende des 19. jahrhunderts und bis zum ersten weltkrieg waren viele traditionelle soziale normen und kategorien noch virulent, hatten jedoch ihre selbstverständlichkeit verloren. Die handlung des hier wiederveröffentlichten romans (er spielt vor 1893 und erschien 1923) entfaltet sich in dieser gesellschaftlichen situation als geflecht existenzieller, tragischer situationen, konstellationen und entscheidungen. Noch suchen die personen der handlung orientierung an traditionellen, idealistisch determinierten begriffen, symbolen und konventionen, die schon damals zum sozialen konsens so wenig taugen wie zur persönlichkeitsentwicklung. Jeder und jede mußte ihnen für sich selbst sinn geben oder sie verwerfen.

In den oft hochtrabenden, zugleich aber hilflos tastenden verständigungsversuchen der figuren irrlichtern sackgassen und selbstzerstörungen des deutschen kulturvolkes zu beginn des 20. jahrhunderts. Statt das unleugbare scheitern der romantischen individuation an der bürgerlichen misere auszumalen wie viele autorInnen , sucht und findet kurt münzer individuelle, situative freiheitsmomente darin: richtiges im falschen.

Der deutsch-jüdische schriftsteller kurt münzer (1879–1944) inszeniert in diesem roman tragische konstellationen ohne möglichkeit einer verbindlichen auflösung. Tragik liegt gerade in der unauflösbaren vieldeutigkeit entsprechender situationen; jeder der mitwirkenden hat seine und ihre eigene wahrheit – es gibt keinen übergeordneten konsens. Genau so ist die situation unseres bewußtseins heute; stichworte dafür (ihrerseits aus unterschiedlichen blickwinkeln) sind verdinglichung, strukturalismus, postmoderne.

Bei jeder einzelnen konstellation in ESTHER BERG könnten wir uns fragen, wie wir selbst uns gefühlt und verhalten hätten.. – um wohl zu erkennen, daß es verwandte situationen in unserem leben kaum gibt. Aber warum nicht? Was fehlt, was ist anders, worin sind wir anders? Inwieweit verhalten wir uns anders? – Allgemeiner gefragt: Wie gehen wir mit existenziellen situationen um? Wie interpretieren wir sie, wenn wir von ihnen hören und lesen? Wie stellen wir sie dar in den künsten? In den medien? – Gibt es diese kategorie überhaupt noch in unserem bewußtsein?

Münzer liefert keine weiteren perspektiven, hypothesen, ideologeme. Seine bücher geben keine antworten – aber sie stellen fragen, die heutzutage offenbar nur noch selten gestellt werden; wir brauchen sie, um unsere antworten zu finden auf momente menschlichen lebens, die in unserer welt meist nur unterirdisch, unerkannt und unterdrückt vorzukommen scheinen.

Um die suche nach dem heute nur noch indviduell zu bestimmenden sinn des lebens geht es auch im vorliegenden roman. Im zusammenhang damit stehen geschlechtsrollen-ideologeme und tradiierte moralvorgaben, in denen die handlungsträgerInnen sich verstricken – im bemühen, ihren eigenen weg zu finden. Gerade esther bergs gnadenlos an reinheit, unschuld und scham orientiertes verhältnis zur eigenen sexualität mag heutzutage nur anachronistisch und selbstzerstörerisch wirken; jedoch geht es ihr um selbstbestimmte entfaltung dieses aspekts menschlicher lebendigkeit, der auch heute blockiert, gestört und vergiftet wird (bei jungen wie mädchen) durch mancherlei ängste, verirrungen und rollenvorgaben – nur andere.

StatistInnen gibt es in kurt münzers büchern nicht (aber auch keine heldInnen). Der autor nimmt seine figuren unbedingt ernst – jede von ihnen. Konventionelle erwartungen der leser werden seite für seite geweckt – und umgehend zerstört. Eine über der darstellung schwebende intellektuelle oder ideologische intention fehlt; gerade darum kann münzer sich besondere farben und klänge durch kolportagemomente erlauben. Vielschichtigkeit und tiefgründigkeit seiner werke liegt in szenen, konstellationen, bildern, die er kaleidoskopisch, unvorhersehbar miteinander verknüpft. Gelegentlich schmiegt sich der autor den szenen, den personen an wie ein schauspieler seinen rollen. Er komponiert seine bücher wie theaterstücke, filme oder gemälde. In manchem sind es postmoderne märchen oder parabeln, deren weisheit wir (in uns) finden können, sofern wir sie ernstnehmen.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen, – diesem sprichwörtlich gewordenen satz adornos läßt sich kaum mehr widersprechen; andererseits gibt es zweifellos noch immer: die liebe. Diese aporie wird in ESTHER BERG vielgestaltig entfaltet.

(Aus dem nachwort des herausgebers)

Bei A+C wurden von kurt münzer bereits wiederveröffentlicht die romane "Jude ans Kreuz!", "Menschen am Schlesischen Bahnhof", "Phantom" sowie eine sammlung von erzählungen: "Bruder Bär".

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Stanisław Benski: NATAN GLYCYNDERS LACHEN

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Stanisław benski wurde 1922 in warschau geboren. Im Warschauer Ghetto kamen seine mutter und sein bruder ums leben; der vater wurde von den deutschen erschossen. Benski kämpfte als partisan gegen die deutschen. Ab 1964 war er zwanzig jahre lang leiter eines wohnheims für überlebende der Shoah; er starb 1988.

Hier erzählt der autor von überlebenden polnischen juden; vorrangig sind es bewohnerInnen dieses heims und menschen, die ihnen verbunden sind. NATAN GYLCYNDERS LACHEN ist ein poetisch verdichtetes werk; auch vielfältigste lebensgeschichtliche nuancen machen die geschichten nicht zu reportagen. Niemand wird vorgeführt, nie geht es nur um effektvolle zusammenstellungen. Im mittelpunkt der begegnungen und situationen stehen erinnerungen, die mit dem gegenwärtigen lebensalltag der heimbewohnerInnen (und anderer überlebender der Shoah) verwoben und dadurch bewahrt und zur ressource für das weiterleben werden. Nicht regressiv ist das, sondern identitätsbewahrend und -stärkend. Einbezogen sind erinnerungen an das schreckliche, die traumatischen zerstörungen. Persönliche geheimnisse und untiefen, scham und schuld, liebe und ungeklärte beziehungen von damals sind ungreifbar eingeschmolzen in der von den deutschen vernichteten welt; nichts davon läßt sich wirklich klären, heilen, weiterleben. Nur in vielen kleinen schritten kann etwas davon wenigstens teilweise verarbeitet werden, in erinnernden gesprächen, in einsamem grübeln, in der zwiesprache mit vögeln (die die namen von toten schtetl-bewohnern bekommen). –

Dennoch sind alle diese tief verletzten, heimatlosen, schrulligen bewohnerInnen des heims nicht nur opfer; sie führen, im rahmen ihrer verbliebenen möglichkeiten, ihr eigenes, unverwechselbares leben in die zukunft hinein. Tröstliche phantasie und alltägliche realität, tapferkeit, müdigkeit und zuversicht, leugnen und trauern verflechten sich moment für moment. Nichts, keine kleinigkeit ist mehr belanglos in diesem leben danach – nachdem die selbstverständliche heimatwelt vom erdboden verschwunden ist, ausradiert. Jedes winzige moment von selbstbestimmung, bereits das erzählenkönnen, ist manifest des überlebthabens, des neuen lebens.

Alles, jede nuance, die beiträgt zu einem guten leben, ist bedeutsam und wird achtsam porträtiert – bis hin zu den farben der kopftücher. Nichts davon ist selbstverständlich für die überlebenden der Shoah; das leben ist nicht mehr selbstverständlich für überlebende existenzieller traumaerfahrungen. Und seltsam: gerade diese menschen, die während des terrors der okkupation alles verloren hatten außer dem nackten leben, nehmen sich zeit.. – zeit, ihr gerettetes, ihr übriggebliebenes eigenes leben zu leben, in all seinen augenblicken, mit eigenkreisläufigkeiten und redundanzen. Jedes bewahrte oder neu etablierte moment (mit-)menschlichen lebens, jedes alltagsritual bedeutet selbstvergewisserung und selbstbehauptung. Sehr deutlich wird das tiefe bedürfnis (bei uns allen) nach vorhersehbarkeiten, vertrautheit, gewohnheiten – und damit geborgenheit in der welt.

Ein ironischer, kabarettistischer, manchmal bitterer humor ist in diesem buch, schmerzlich, in wortloser trauer – natan glycynders lachen – dann wieder wie auf bildern von chagall. In mancher hinsicht sind diese geschichten surreale parabeln, die vom terror jener zeit genau auf der gratlinie zwischen phantasie und realität berichten (gelegentlich auch darüber streiten), – und damit helfen können, schreckliches, traumatisches zu überleben. Parabeln, die (so oder ähnlich) zweifellos in diesem heim entstanden sind, zwischen all den Shoah-überlebenden (zu denen der autor gehört). Manche sind herzzerreißend, grauenhaft, andere wirken unprätentiös, geradezu banal – beim ersten lesen. Und alle sind es wert, nochmal gelesen zu werden. Tragisches und humoristisches, ungeheuerliches und triviales, heiliges und billiges geht ineinander über – hoffnungsloses durcheinander, hinter der die frage steht: Welchen wert hat das leben von menschen – nach all dem, was war?

Jede dieser vignetten steht für hunderte, tausende ähnlicher geschichten. Von denen wiederum stünde jede einzelne für ein ganzes leben.. – All diese reste, fetzen, splitter, trümmer von erinnerungen und empfindungen, von reaktionen und ängsten, von sehnsucht und trauer, das grübeln, der rückzug und das schweigen – all das verweist auf millionen jüdischer menschenleben, deren jedes eine welt für sich war, die von den nazis, ihren taktischen unterstützern und ihren mitläufern gnadenlos zerstört wurde.

(Aus dem nachwort des herausgebers)

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Norbert Frýd: KARTEI DER LEBENDEN

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Der autor berichtet in unaufgeregter ausführlichkeit von unzähligen organisatorischen einzelheiten eines zum KZ Dachau gehörenden arbeitslagers, dessen gefangener er war. Jeder mensch funktionierte dort wie das zahnrad eines uhrwerks, um größtmögliche vorteile und sicherheit für sich und/oder die soziale gruppe, der er angehört, zu erzielen. In frýds romanhaftem bericht scheint oft nur eine graduelle abgrenzung zwischen tätern, mitläufern und opfern möglich.

Herrschaft argumentiert in der entwickelten zvilisation mehr und mehr mit sachzwängen und verzichtet auf ethisch-moralische legitimationen. Gerade im NS-regime gingen bürokratie und verbrechen besonders nahtlos ineinander über. Auch im vorliegenden buch wird das übergroße gewicht instrumenteller vernunft (in form von logistischer und bürokratischer logik) nachvollziehbar – und wie sie zum instrument höchst individueller interessen wird; grundsätzlich nicht anders als bei uns heute.

Norbert fried wurde 1913 in einer familie tschechischer juden in budweis geboren; er starb 1976. Seit den 30er jahren war er mitglied einer fortschrittlichen politisch-kulturellen bewegung um emil františek burian, verkehrte vorrangig in jüdischen künstlerkreisen und kooperierte mit dem komponisten karel reiner. Er gehörte zum kreis um die im prager exil von franz carl (f.c.) weiskopf geleitete antifaschistische Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), später unter dem namen Volks-Illustrierte. Ab 1936 arbeitete fried als redakteur und drehbuchschreiber für den filmkonzern Metro Goldwyn Mayer. 1942 kam er ins Ghetto Theresienstadt, wo er am geheimen kulturellen leben beteiligt war. 1944 wurde norbert fried zusammen mit allen anderen künstlern aus Theresienstadt ins KZ Auschwitz deportiert . – Am 10. oktober 1944 kam er ins arbeitslager Dachau-Kaufering (kategorie "Jude, Schutzhäftling"); von dieser zeit handelt das vorliegende buch. Im april 1945, als die SS begann, das lager zu räumen, gelang es fried zu flüchten.

Norbert frieds vater, sein bruder, seine frau und seine tochter wurden in den KZ ermordet; er überlebte die Shoah als einziger seiner familie.

1945 unterstützte er die amerikaner als dolmetscher bei den verhören der SS-wächter von Dachau, später war er einer der zeugen beim ersten dachauer kriegsverbrecherprozeß. Norbert fried arbeitete als journalist und beamter, war mitglied der tschechoslowakischen kommunistischen partei. 1946 änderte er seinen namen zu "frýd". 1947 wurde er kulturattaché in mexiko. Während dieser zeit nahm er teil an einer expedition in den tropischen regenwald. Später war frýd in verschiedenen diplomatischen stellungen in anderen ländern lateinamerikas und in den USA. Zeitweise reiste er mit einem puppentheater nach asien und amerika. Nach kurzer beschäftigung beim tschechoslowakischen radio wurde frýd freier schriftsteller. Zugleich war er 1951 bis anfang der 70er jahre delegierter bei der UNESCO.

Eine grundfrage des buches ist: Welche haltungen sind angemessen im KZ oder allgemein: während der NS-zeit? Neben mörderischen NS-tätern und gläubigen nazis gab es eine vielzahl moralischer, ideologischer und emotionaler beurteilungen einzelner situationen, von gefährdungen, interessen und eigenem handlungspielraum, – bei den gefangenen wie bei den NS-funktionären. Aus der zugehörigkeit zu einer sozialen gruppe ließ sich offenbar selbst im KZ nicht direkt auf die mentalität und das verhalten konkreter menschen schließen. Innerhalb des kleinen außenlagers waren vielschichtigere interaktionen überschaubarer, deutlicher darstellbar und nachvollziehbarer als durch berichte aus den weitaus anonymeren größeren KZ.

Das rührt an eine bis heute tabuisierte frage: In welchem maße sind KZ-gefangene als funktionshäftlinge direkt oder indirekt zu handlangern der NS-interessen geworden? Dabei geht es nicht nur um gefangene mit bereits zuvor ausgelebten kriminellen intentionen. Es geht um interessengeleitetes (auch politisch motiviertes) taktieren, um das prinzip des eine hand wäscht die andere, um balance of power: es mit niemandem ganz zu verderben, den man noch einmal brauchen könnte. Es geht – dies wird bei frýd deutlich – gegebenenfalls auch darum, daß NS-opfer in eigenem interesse zu tätern an anderen NS opfern werden.

KRABICE ŽIVÝCH erschien in prag 1956, wurde dort viel gelesen und in mehrere sprachen übersetzt. Eine DDR-ausgabe erschien 1959. Allerdings dürfte frýds buch in deutschland kaum größeres interesse erregt haben. So genau wollte man es damals bekanntlich nicht wissen, in der DDR so wenig wie in der BRD. Aber auch später wäre diese darstellung, bei der die beruhigenden eindeutigkeiten von genuin guten und bösen menschen, von opfern und tätern in so irritierender weise aufgelöst werden, vom medialen mainstream kaum akzeptiert worden..

(Aus dem nachwort des herausgebers mondrian v. lüttichau)

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Christa Anita Brück: EIN MÄDCHEN MIT PROKURA

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Thema des vorliegenden romans von christa anita brück (1899-1958) ist zunächst die allgemeine seelische zerstörung unter angestellten während der weltwirtschaftskrise ende der 20er jahre, mit besonderem blick auf die deutsche bankenkrise: überlebensängste (gerade bei denen, die noch in stellung sind), situation der arbeitslosen kleinen leute, feindseliges büroklima, fusionen und monopolisierung sowie die zunehmende bürokratisierung auch im bankgewerbe.

Neben hans falladas berühmtem KLEINER MANN – WAS NUN? (ebenfalls 1932 erschienen) ist er einer der wenigen deutschen romane aus dem angestelltenmilieu während der weltwirtschaftskrise.

Das augenmerk der autorin liegt vorrangig auf der situation weiblicher angestellter (minderbesoldung, mangelndes ansehen im geschäftlichen leben, schwierigkeit des aufstiegs in leitende stellungen, mobbing, anmache). Am schluß des romans steht die unmißverständliche einschätzung: "Der Weg der tüchtigen Frau ist immer der gleiche: er führt über Feindschaft, Befremden, Mißtrauen und Neid zu tragischer Isoliertheit."

Im hinblick auf die deutsche bankenkrise war EIN MÄDCHEN MIT PROKURA bei seinem erscheinen tagespolitisch hochaktuell. Vermutlich war die autorin (ab 1934 ehefrau eines höheren bankangestellten) bereits zu diesem zeitpunkt eng vertraut mit der thematik.

Taktische fusionen, monopolisierung und zunehmende bürokratisierung, wie sie im letzten teil des vorliegenden romans skizziert werden, gehörten zum beginn eines prozesses, der sich bis heute als progressive verkrebsung des bankgewerbes entfaltet hat.

Diesen roman wiederzuveröffentlichen in einer zeit, in der banken zu totengräbern demokratischer gesellschaften zu werden scheinen, lag für mich nahe. Wesentliche strukturelle, sozialpsychologische funktionen des kapitalistischen bankensystems werden in dieser überschaubaren, für laien nachvollziehbaren handlung plausibel.

Die protagonistin thea iken wird dargestellt als aufopernde, allzeit verantwortungsvolle und loyale mitarbeiterin, tragikumflort, mit heroischer attitüde, – eine überspannte antigone, in einer szene fast wie jesus auf dem ölberg. Solche überzeichnungen, die, wenngleich subtiler, auch in ihren anderen büchern zu finden sind, könnten mit der biografie der autorin zusammenzuhängen.

Projektive kompensationsversuche tiefgehender narzißtischer verletzungen (der autorin) sind in manchen szenen mit thea iken kaum zu übersehen. Auch werden in allen ihren romanen für die weiblichen hauptfiguren schlimme, ja traumatische lebenserfahrungen angedeutet, die eine unbedingte orientierung an einem selbstbestimmten leben nachvollziehbar machen. Dies aber erfordert eine gewisse finanzielle, zu jener zeit für eine frau wohl nur durch berufstätigkeit ermöglichte unabhängigkeit. Wenn thea iken mit unbedingter hingabe um ihren arbeitsplatz kämpft, empfindet sie dies zweifellos als kampf um ihr leben, in dem es andere inhalte – aus welchen gründen auch immer – nicht gibt.

Selbstwertgefühl als erwachsene frau scheint thea iken nur aus ihrer beruflichen position zu beziehen. Liebe kommt bei ihr offenbar vorrangig als fürsorgende liebe vor, als mythisch-loyale verbundenheit mit dem chef oder als pseudomütterliche zuwendung zu dessen sohn. Wobei in beiden konstellationen diffuse erotische momente mitschwingen.. – kaum verwunderlich. Gelegentlich verliert die autorin offenbar selbst die psychologische übersicht über die ineinander verstrickten "opferungs"-impulse ihrer protagonistin, dann wieder erwähnt sie immerhin die "erprobte Eigensüchtigkeit, mit der Mannsbilder Frauenopfer annehmen".

Die prokuristin thea iken steht nur am rande für "das lebensgefühl der 20er jahre", für "die neue frau", vielmehr geht es vorrangig um diese konkrete frau mit einigermaßen rätselhafter psychischer konstitution und ihr ringen um individuelle entfaltung und gesellschaftliche selbstbehauptung. – Unverkennbar ist dabei die soziale position der autorin als reflektiert und (zumeist) empathisch beobachtende außenseiterin. (Dies korrespondiert mit der außenseiterposition der protagonistinnen in allen ihren romanen.) Bis heute lesenswert sind ihre bücher durch das tiefe einfühlungsvermögen in lebensumstände und lebenshaltung gerade der kleinen leute – deren lebensziele, ihre sozialen ängste, nicht zuletzt auch die seelischen zerstörungen, zu denen ihre grundlegenden lebensumstände geführt haben. Deutlich wird gleichwohl ihre distanz gegenüber lebensregungen und reflexionsbemühungen der kleinbürger, werden ängste vor der "masse" und vor bedrohlichen untiefen hinter einer biederen "maske" bei angehörigen der unterschicht; dies sind zeittypische ideologeme des bürgertums.

Der vorliegende roman enthält nicht zuletzt einen psychologisch vertrackten Who has done it? - krimi, ein gerichtsdrama, dessen kriminalistisch-juristische logik nicht immer überzeugt, was jedoch die spannung bis zum schluß nicht beeinträchtigt. Vor allem dieser aspekt stand im vordergrund des heute vergessenen films von arsen v. cserépy. Zumeist sehr achtsam gegenüber dem buch, wurden allerdings psychologisch komplexere inhalte nicht umgesetzt. Einige szenen wurden in filmisch angemessener weise (auch um des dramatischen effekts willen) variiert oder ergänzt, viele dialoge wurden fast wortgenau wiedergegeben. Trotz der vielen NS-nahen mitwirkenden ist dieser lebensfrische film unbedingt sehenswert – sowohl vom drehbuch, seiner schauspielerischen umsetzung als auch von der kameraführung und den regieeffekten her. Bis in nuancen gibt er alltagsethnografische momente seiner zeit wieder, durch die er das buch für heutige leserInnen gut ergänzt. Der neuausgabe wurden aus diesem grund etliche szenenbilder beigegeben.

(Aus dem nachwort des herausgebers)

Bereits bei A+C wiederveröffentlicht wurde brücks erstes buch, der seinerzeit berühmte roman SCHICKSALE HINTER SCHREIBMASCHINEN.

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Gabi Lummas: WUNDERSAME WEGE

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Gabi lummas hat Rituelle Gewalt überlebt. Sämtliche erinnerungen daran waren über viele Jahre vollständig abgespalten. Aus tagebüchern entstand 1999 ein erstes, recht bekannt gewordenes buch: VERSCHLOSSENE SEELE (Frankfurt/M. 1999). Zeitweise unterstützt durch traumatherapie, begab gabi lummas sich in den folgenden jahren auf den weg nach innen, - sie suchte nach ihrer verschlossenen seele. Tagebuchauszüge aus den jahren 1998-2008, träume und passagen aus der traumatherapie sowie abbildungen von tonfiguren sind in einer veröffentlichung hier bei AUTONOMIE UND CHAOS zusammengefaßt: WER BIN ICH? ODER: DAS UNGLAUBLICHE (Berlin 2012).

Im vorliegenden dritten buch dokumentiert gabi lummas eine neue phase ihres rigoros selbstbestimmten heilungsweges. Mittlerweile liegt der schwerpunkt auf botschaften von innen. Für diese dokumentation wurden bilder und ausgewählte träume zusammengestellt.

Die "erwachsene Gabi" hat jetzt kaum mehr kraft für ein aktives alltagsleben: "Am meisten leide ich darunter, dass ich in den letzten sechs Jahren zu einem 'Nichts' geworden bin, das es sich so anfühlt als hätte ich nie und nimmer was Schreckliches erlebt?!? Nur in der Nacht in meinen Träumen herrscht ein reges Leben aber am Tage bin ich nur noch eine hohle Fleischmasse, die sich durch den Tag schleift! Ich bin nur am Raten und am Protokollführen." (Mail vom 23.5.15) Aber die "erwachsene Gabi" ermöglicht durch ihre existenz dem inneren, der seele, sich darzustellen. In den bildern geschieht dies indirekt, abgespalten, symbolisch – in den träumen umso konkreter, sinnlicher.

Neben all dem leid zeigt sich in den träumen ein unzerstörbarer lebensstrom, gabis dem leben in liebe zugewandte persönlichkeit – aber wo wäre das leben nach den zu ahnenden brutalen traumatisierungen in der kindheit? Lummas' selbstbestimmter heilungsweg ist eine form der Negativen Dialektik (theodor w. adorno): in ihrem radikalen NEIN zu zerstörung, zu leid und demütigung liegt der blick auf DAS ANDERE – auf unschuldige wesen, tiere, kinder, beeinträchtigte und pflanzen; – selbst in den horrorträumen (erinnerungsträumen?) spürt gabi lebensspuren auf und erkennt diese als WAHRHEIT.

Deutlich wird ihr unbedingter impuls, hilfreich einzugreifen, wo sie hilflosigkeit wahrnimmt. "Ich leide unter all den Nöten, die hier auf Erden geschehen", steht im kommentar zu einem traum. So erlebe ich gabi lummas auch in der persönlichen begegnung.

Tiere und pflanzen, natur sind für gabi wohl existentielle momente von urvertrauen. Sie selber vermutet: "Es muss also die Liebe zu Gott sein, die mich diesen 'mysteriösen Starrezustand' ertragen läßt, anders kann ich mir diesen ganzen Prozess nicht erklären??????" (Mail vom 4..6.15)

Zunehmend erkennt gabi lummas bedingungen, möglichkeiten und zielsetzungen ihres organisch sich entfaltenden heilungsprozesses. Dieses buch dokumentiert wundersame wege der traumaheilung von innen her, die wohl nur intuitiv erspürt und entfaltet werden können – von traumaüberlebenden selbst wie auch von helferInnen, therapeutInnen.

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Leah Nadine: TANZ UNTER DEM REGENBOGEN

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Eine schwangerschaft wird bei leah nadine zum tropfen, der das faß zum überlaufen bringt. Abgespaltene ängste und erinnerungen brechen auf und überschwemmen den alltag dieser traumaüberlebenden frau. Das besondere an diesem autobiografisch begründeten buch ist die emotionale und psychologische dichte und konkretheit, mit der dieser prozeß dargestellt wird. – So oder ähnlich geht es sehr vielen traumaüberlebenden (mit oder ohne DIS), oft erst zwischen 30 und 40 jahren, und weder sie selbst noch außenstehende begreifen, was da los ist. Panik entsteht schon allein deshalb.

Die geschilderten situationen, empfindungen und erfahrungen sind exemplarisch für multiple traumaüberlebende zu beginn ihres heilungsweges. Das buch vermittelt das hohe maß an mut, an vertrauen und offenheit, die hierfür nötig sind. MitarbeiterInnen von beratungsstellen ist es sehr zu empfehlen, aber auch therapeutInnen und ärztInnen.

Mit einem vorwort von sabine marya und einem aktuellen nachwort der autorin (zehn jahre später).

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Theo Harych: HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN

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Theo harych (1903-1958) wurde geboren in einem dorf in der damaligen preußischen provinz posen; heute gehört die region zu polen. Muttersprache der eltern war polnisch. Sein vater war landarbeiter, die familie hatte neun kinder. Theo war hütejunge und knecht, nur zeitweilig besuchte er die dorfschule. Seine kindheit war geprägt von gewalt und lieblosigkeit, von hunger und vernachlässigung. 1919 floh er zu einem älteren bruder nach mitteldeutschland, arbeitete in einer zuckerfabrik und im braunkohlebergwerk. Theo harych trat der bergarbeitergewerkschaft bei und war 1921 beteiligt am Mitteldeutschen Aufstand. Später war er wanderbursche, diener, kraftfahrer. Er machte wahlpropaganda für die KPD, arbeitet als hilfsschlosser, macht esich selbständig mit einem dreirad-lieferwagen. Schon zu dieser zeit schrieb er erfahrungen und empfindungen auf zettel und in schulhefte.

Theo harych wurde ein schriftsteller der jungen DDR. Der hier erstmalig wiederveröffentlichte autobiografisch begründete roman erschien 1951 im Verlag Volk und Welt.

HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN ist eine noch heute sozialgeschichtlich bedeutsame quelle. Der romanhafte bericht orientiert sich weitgehend an theo harychs bitterer kindheit. Zweifellos wollte der autor in unterschiedlichen, repräsentativen und zugleich unterhaltsamen facetten erzählen von alltag und befindlichkeiten der (armen) bevölkerung solcher ländlicher gebiete – und von gewalt oder verführung durch mächtige instanzen, denen sie hilflos ausgesetzt waren.

Zweifellos war die kindheit für theo eine unablässige folge psychischer traumatisierungen, keineswegs nur im elternhaus. Kompensatorische, heilsame ressourcen sind kaum zu erkennen. Erst als theo sich nach dem zehnten lebensjahr überlebensmöglichkeiten außerhalb des elternhauses suchen muß, trifft er (bei weiterhin leidvollen erfahrungen) gelegentlich auf menschen, die es gut mit ihm meinen – oder ihn zumindest als mitmenschen ernstnehmen. Daß selbst winzige momente von unterstützung und zuwendung (sei es selbst mit einem rehkitz) in solcher höllenhaften kindheit entscheidend zum aufbau innerer ressourcen beitragen, zu vertrauen, beharrlichkeit und lebenswillen, wird beim lesen nachvollziehbar.

In der achtsamen beschreibung auch der bösen und zutiefst deprimierenden erfahrungen liegt klage und trauer, die theo harych im erzählen und aufschreiben wohl immerhin teilweise zulassen konnte. Und anklage – die sich jedoch weniger gegen einzelne personen richtet, sondern eher gegen grundlegende machtzusammenhänge. Am konkretesten wird die anklage, wo es um menschenfeindliche, verdinglichte dogmen der katholischen kirche geht und deren auswirkung auf die bevölkerung, keineswegs nur auf die bitterarmen landarbeiter.

Noch anfang des 20. jahrhunderts ist für diese dörfler, bürger des Deutschen Kaiserreichs, das leben vorrangig ein schlachtfeld zwischen gott und dem teufel, – und mittendrin die menschen, deren "ewiges Leben" auf den spiel steht und deren normative, moralische orientierung fast ausschließlich in den vorgaben der katholischen kirche besteht! "Gott" ist in diesem weltbild kaum mehr als der gegenpol zu einem "Teufel", auf den alles unangenehme projiziert werden kann, zumal böses meist viel prägnanter vorstellbar und benennbar ist als gutes. Aus dieser dichotomie werden beliebige interessengeleitete interpretationen und schuldzuschreibungen abgeleitet.

Nicht wenige im buch geschilderte szenen erinnern kaum zufällig unweigerlich an die haltlose, sadistische brutalität von NS-tätern. Solche normalität bildete zweifellos einen grundstock für den terror vieler nazi-täter – ursprünglich auch ganz normale männer. Daß die menschenverachtende und mörderisch indolente mentalität der KZ-schergen nicht 1933 entstanden ist, daß sie längst vorher teil der gesellschaftlichen normalität war, wurde mir gerade durch theo harychs zeitzeugenbericht HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN zur unabweisbaren gewißheit.

Derlei psycho(patho)logische zusammenhänge nachzuvollziehen, kann böses, menschenverachtendes verhalten niemals entschuldigen, aber gerade die geschichte dieser familie erinnert daran, wie dünn die schicht von menschlichkeit oder humanität ist und daß sie der pflege bedarf, soll nicht barbarei wieder hervorbrechen: eine nach wie vor gültige lektion der erziehung nach auschwitz.

Nach dem vorliegenden buch schrieb theo harych noch zwei weitere, bis heute lesenswerte romane. 1958 hat er sich das leben genommen.

(Aus dem nachwort)

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DAS HINZUTRETENDE. Adorno-Zitate

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Bis heute entzünden gerade zitate aus werken von theodor w. adorno etwas in mir, schon wenn ich in texten anderer über sie stolpere, sie machen mir mut, nicht selten hole ich das entsprechende buch aus dem regal und lese mich mal wieder fest. Nur intellektuelle reflexion bewirkt nichts (jedenfalls nichts gutes); ein impuls aus dem kern des menschseins muß hinzutreten; gerade adornos sätze wecken und stärken diesen impuls bei mir.

In diesen hier gesammelten zitaten ist adornos ebenso sensibler wie kritischer, sein analytischer wie solidarischer blick auf die menschen zu spüren: unter arbeitskollegen und in familien, in der straßenbahn wie beim einkaufen, in schulen und ämtern, in medien und in der kunst, beim small talk und bei akademischen disputen. Wie sind sie? Warum sind sie, wie sie sind? Welche ursachen hat das, und welche folgen? Sämtliche im verlagsprojekt AUTONOMIE UND CHAOS BERLIN veröffentlichten arbeiten haben, wie subtil oder gebrochen auch immer, mit solchen fragestellungen, mit überlegungen und erkenntnissen adornos zu tun.

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Katalin Vidor: ALLTAG IN DER HÖLLE

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Die ungarische jüdin katalin vidor (1903-76) wurde 1944 verschleppt in das vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, später kam sie zur zwangsarbeit nach Sackisch und Merzdorf, außenlagern des KZ Groß Rosen. Ihr buch erschien 1963 auf deutsch (in der DDR), wurde kaum beachtet und ist längst vergessen. Als eine von wenigen KZ-überlebenden berichtet die psychologisch ausgebildete autorin vorrangig vom menschsein der gefangenen jüdinnen, sie dokumentiert momente des niemals adäquat nachvollziehbaren geflechts von stärken und schwächen, von liebe und gleichgültigkeit, trägheit des herzens und angst, von resignation und demütigung, verzweiflung und beharren, von demut und existenzieller erschöpfung innerhalb der grundlegend traumatisierenden KZ-situation.

Es ist dies deutlich kein buch über den nazi-terror, das millionenfache leid der Shoah, über Den Tod, sondern ein bericht über die in diesem terror dennoch existierende mitmenschlichkeit: über Das Leben. Im mittelpunkt stehen die gefangenen frauen in ihrem – wiewohl bis ans seelische und körperliche zerbrechen geschädigten – autonomen menschsein. Selbst in Auschwitz erlebten sich viele von ihnen offenbar nicht nur als objekte der nazis, sondern noch immer zugleich als subjekte des eigenen lebens.

Vidor schreibt von sich, sie sei im KZ keine von den mutigen gewesen. O doch, – ihr mut bestand darin, hinzuschauen, nicht zu verdrängen, – die unmenschlichkeit der täter und das leid der opfer und ihr eigenes leid für wahr zu nehmen; es ist der mut der zeugenschaft angesichts der menschengemachten, menschengewollten hölle. Sie macht eine weisheit des lebens vorstellbar, die sich selbst unter diesen umständen an menschenwürde, menschenliebe und solidarität orientiert, nicht am "bösen", das eigentlich nur verfehltes leben ist. Diese achtsamkeit ist die eigentliche botschaft ihres buches. (Aus dem nachwort)

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Adelheid Reinbold: NOVELLEN UND ERZÄHLUNGEN 1836

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Die weitgehend vergessene schriftstellerin adelheid reinbold (1800-1839) gehörte zum kreis um den romantischen dichter ludwig tieck. In ihrem schmalen, teilweise erst nach dem tod veröffentlichten Werk knüpft sie an tiecks bemühen an, vulgär-romantischen auswüchsen seiner zeit entgegenzutreten und wieder anzuknüpfen an die realität der gesellschaftlichen gegenwart. Sie selbst sehe ich eher als protogonistin des realismus in der deutschen literatur, eine frühe Vertreterin eines literarischen feminismus. Reinbolds weibliche hauptfiguren sind potentiell autonome menschen wie die männer und neben ihnen, deren sozial zugeschriebene rollen und qualitäten (modifikationen von "männlichkeit") sie anzuerkennen bereit sind – falls vorhanden; ein bedeutsames zwischenglied des historisches emanzipationsprozesses!

Diese frauen suchen individuelle wege, ihre natürliche, menschengemäße individualität in der von männlicher vorherrschaft und gesellschaftlichen konventionen geprägten welt weitestmöglich zu entfalten. Aber auch wenig schmeichelhafte formen der anpassung an die männerwelt werden von reinbold präsentiert.

Die requisiten der romantischen literatur (vergangene zeiten, fremde völker, unverhoffte erbschaften, plötzliche sterbefälle und verschachtelte erzählebenen) nutzt sie nicht vorrangig zur steigerung der spannung, sondern zum aufbau exemplarischer situationen. Die geheimniskrämerei romantischer erzählungen verweist bei ihr auf die grundlegende, unabänderliche relativität unserer menschlichen erkenntnis. Der welt, auch unseren mitmenschen, sollten wir uns nähern in einer achtsamkeit, die ausgeht vom geheimnis des lebens. Nur im bemühen, momente des lebens wahrzunehmen (das heißt: sie für wahr zu nehmen), können wir ihnen eventuell gerechtwerden. Jenseits aller religiösen verbrämung ist dies nicht zuletzt eine haltung der demut.

Diese neuausgabe ihrer ersten buchveröffentlichung enthält ein nachwort des herausgebers mondrian v. lüttichau.

Wiederveröffentlicht wurden bereits 2010 bei AUTONOMIE UND CHAOS die zwei novellen: 'Russische Scenen & Irrwisch-Fritze'.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: GEGEN ENTFREMDUNG. Pfadfindereien um menschengemäße wahrheit

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Störende oder überfordernde momente des lebens auszugrenzen aus dem eigenen bewußtsein, ist wohl teil unserer natürlichen kognitiven ausstattung. Seit beginn der überlieferten menschheitsgeschichte gibt es GEGENBEWEGUNGEN zu dieser gefahr für das soziale miteinander, nennen wir es nun entfremdung oder verdinglichung , materialismus oder traumatische dissoziation , falsches selbst oder instrumentelle vernunft , rassismus oder vorurteil .

Sozialarbeit/sozialpädagogikist eine der komplexesten schnittstellen zwischen theorie und alltag, zwischen strukturen und individuen. Sie sollte zur avantgarde gesellschaftlichen bewußtseins gehören. – In meiner diplomarbeit von 1993 ('Alice Salomon-Fachhochschule Berlin') hatte ich versucht, material anzubieten zu einer solchen 'neuen sozialarbeit', ausgehend von drei bezugsebenen:

  • Der progressiven (selbst-)entfremdung (verdinglichung) in unserer zivilisation,
  • einer induktiven, vom individuum und seiner subjektivität ausgehenden erkenntnis- und erfahrungshaltung,
  • der grundsätzlichen offenheit gegenüber nichtmateriellen ("geistigen", "übersinnlichen", "spirituellen") aspekten menschlicher erfahrung.

Viele der herangezogenen quellen liegen (leider) weit abseits vom mainstream des gesellschaftlichen diskurses. Deshalb habe ich umfassend aus den quellen zitiert – um vielleicht neugierig zu machen..

Kommentar eines prüfers beim diplom-kolloquium:"Ist ihnen klar, daß sie damit im grunde versuchen, die sozialarbeit neu zu erfinden?!"
Der privatgelehrte hans imhoffin einem brief:"Ich blättere, lese, wälze, stöhne und lerne, ich spreche von meiner Beschäftigung mit Deinem Buch. (...) Jegliche Erziehung und Heilung geschieht um des Konformismus willen, der gerade als der Garant des Untergangs erkannt ist und dessentwegen Erziehung und Heilung geschehen soll. Schließt Du aber jeden Konformismus aus und schaffst damit die erste Bedingung zum Gelingen Deines Unternehmens, benimmst Du ihm den Zweck, die menschliche Gesellschaft. (...) Über die Voraussetzungen 'authentischen Lebens' zu reflektieren war Deine Aufgabe, die Du wohl einzigartig umfangreich, sorgfältig, beseelt und gescheit gelöst hast. Das Dumme nur, man hat den Eindruck: So wird es doch nicht, denn die Kette der erheischten Bedingungen reißt nie ab." (in: Hans Imhoff: 'ich für Dich bei mir. Briefe'; Frankfurt/M. 1997: Euphorion Verlag)
Lothar stiehm(ehemals leiter des Verlag Lambert Schneider) schrieb: "Lieber Mondrian, soll ich Ihnen etwas sagen?: in der vorigen Woche kam Ihre Sendung; ich nahm Ihre Manuskript-Kopie heraus - und ca. 4 Stunden später saß ich immer noch am Tisch und las und las! Natürlich nicht brav und systematisch. Sondern: hier ein Stück und da ein Stück und so querdurch. Ich wollte doch erst einmal die Luft schnuppern, und ich muß sagen: das war erfrischend, und ich kann fast überall Ja sagen. DANKE! Nun wird, sobald ich Ruhe dazu habe, die richtige Lektüre folgen. (Eines muß ich jetzt schon sagen: sollten Sie einmal wieder ein neues Exemplar 'herstellen': bittemachen Sie eines für mich mit! Einige Partien, die ich gelesen habe, sind mir so wichtig, daß ich sie ständig zur Hand haben möchte.)" (Brief vom 21.1.1998)

Die diplomarbeit wurde gründlich durchgesehen, etliche hinweise wurden ergänzt.

Die kapitel können unabhängig voneinander gelesen werden. Beim segmentierten download separate seitenzählung.

1. Abschnitt
Titel und Einleitung
Entzauberung der welt

2. Abschnitt
a) Bewußtsein: Zwischen ich und außenwelt
b) Das ich als objekt des bewußtseins
c) Entfremdung zwischen göttlichem und irdischem
d) Der mensch als teil der natur
e) Entfremdung von körper und geist
f) Nur ein hinweis
g) Gewalt der vernunft

3. Abschnitt
h) Freiheit & notwendigkeit, idee & erfahrung 

4.Abschnitt
i) Karl marx
k) Dialektik der aufklärung
Rudolf steiner und die Anthroposophie

  5.Abschnitt
1) Lebensweg & Menschenerkenntnis

6.Abschnitt
m) Erziehungskunst

7.Abschnitt
n) Anthroposophische Heilpädagogik
o) CAMPHILL
Pfade in die wirklichkeit

8.Abschnitt
Vorbemerkung
p) Das recht des kindes auf achtung
Ellen key/philippe aries/lloyd de mause 
Janusz korczak
Jean liedloff/joseph chilton pearce
Otto rühle/antipädagogik/kinderbewegung
Theodor w. adorno

9.Abschnitt  (q – 1)
q) Das leben lebt!
Neue wissenschaft
Systemtheorie & kybernetik
Selbstorganisation

10.Abschnitt  (q – 2)
Humanökologie
Soziale systeme

11.Abschnitt  (r – 1)
r) Erkenne dich selbst!
Leib & seele

12.Abschnitt  (r – 2)
Irren ist menschlich

13.Abschnitt (r – 3)
Wahnsinn der normalität

14.Abschnitt (s – 1)
s) Erziehung nach auschwitz
Theodor w. adorno 
Martin buber

15.Abschnitt (s – 2)
Selbstbestimmung und integration (Soziale induktion)

16.Abschnitt (s – 3)
Ökosophie/Tiefenökologie
Die poesie ist eine politische methode
Auswege?

17.Abschnitt
t) Anthroposophie im 21. jahrhundert?
u) 'Neue sozialarbeit'?
Anhang

18.Abschnitt
Methodische skizze zur humanökologischen sozialarbeit
mit vor allem körperlich beeinträchtigten menschen

gesamt:

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segmentiert:

Heinrich Hauser: KAMPF. Geschichte einer Jugend

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Der seemann, schriftsteller, farmer, fotograf und dokumentarfilmer HEINRICH HAUSER (1901 – 1955) trat 1918 als seekadett ein in die Marineschule Flensburg. Dort war er augenzeuge der Novemberrevolution. Zum schein schloß er sich kurzfristig den revolutionären matrosen an; anschließend wurde er mitglied des Freikorps Maercker und war beteiligt am bürgerkrieg zwischen reichsregierung (freikorps) und revolutionären aktivisten (Arbeiter- und Soldatenrat).

Kurzzeitig arbeitete er anschließend in einem hüttenwerk in ruhrort. Er schloß sich einer freikorps torpedobootflottille an und erlebte ausläufer des Kapp-Putsches, mit dem er sympathisierte. Von 1920 bis 1922 arbeitet hauser unter anderem als barmann und am hochofen, er macht zwei ansätze, medizin zu studieren und erlebt seine erste liebesgeschichte. In den jahren 1923 bis 1930 war er als (leicht-)matrose auf handelsschiffen und nahm dort an fahrten in alle kontinente teil. –

1925 wurde heinrich hauser mitarbeiter der Frankfurter Zeitung. Der vor allem in den 30er jahren sehr erfolgreiche autor schrieb zahlreiche Essays, reisereportagen und romane. Für seinen zweiten roman 'Brackwasser' erhielt er 1928 den Gerhart Hauptmann-Preis. Im selben Jahr entstand die fotoreportage 'Schwarzes Revier' über das ruhrgebiet.

Von diesen ersten dreißig lebensjahren seines lebens berichtet das vorliegende, hier erstmalig wiederveröffentlichte buch. Die erstausgabe erschien 1934; spätestens seit 1933 sah hauser im nationalsozialismus eine perspektive zur verwirklichung eigener ideale – bis 1939. Im vorliegenden autobiografisch-belletristischen bericht will der autor diese parteinahme für die nazis aus seiner lebenserfahrung heraus begründen.

Heinrich hauser wanderte 1939 in die USA aus. Dort arbeitete er in verschiedenen bereichen; mit zwei aufeinanderfolgenden ehefrauen betrieb er jeweils eine farm, zunächst in south valley/roseboom (new york), dann in wittenberg (missouri). Im Jahr 1948 kehrte hauser nach deutschland zurück und wurde für wenige monate chefredakteur der gerade gegründeten zeitschrift STERN. Er konnte in der BRD an seine früheren publikumserfolge nicht mehr anknüpfen, schrieb neben erinnerungen an seine zeit als farmer am mississippi vor allem auftragswerke (meist für die industrie). Jedoch hatte hauser bis ans lebensende ideen für unterschiedlichste, meist nicht verwirklichte projekte. Vierundfünfzigjährig starb er, offenbar durch freitod.

In jüngster zeit wurden mehrere seiner bücher wiederveröffentlicht, es gab eine ausstellung seiner fotografien aus dem ruhrgebiet, einer seiner filme wurde restauriert und wird ab und zu gespielt. Es gibt eine sehr materialreiche biobibliografische dissertation. Das hier wiederveröffentlichte frühe schlüsselwerk 'Kampf. Die Geschichte einer Jugend' versteht sich als nächster schritt dieser (notwendigerweise kritischen) wiederentdeckung des menschen und des autors heinrich hauser.

Heutzutage findet sich für dieses buch öffentlich kaum mehr als der hinweis, hauser habe sich mit ihm den nazis andienen wollen. Das ist nicht ganz falsch; jedoch lädt es darüberhinaus seite für seite ein zum nachdenken über sozialpsychologische, prozeßsoziologische, mentalitätsgeschichtliche zusammenhänge jener zeit – aus einem blickwinkel, der in den bis zur ermüdung gleichlautenden zeitgeschichtlichen interpretationen der populären medien fehlt; aber es ist dezidiert kein NS-ideologischer blickwinkel. - Wer sich nur aus den zeugnissen "linker", "fortschrittlicher" und "antifaschistischer" kräfte informiert über die vorgeschichte des NS‑deutschland, wird bestimmte aspekte der sozialhistorischen realität nicht verstehen. Solche ideologisch bestimmte selektive sicht ist einer der gründe, wieso wir aus der geschichte so wenig lernen. Robert musil schrieb zu diesem thema: "Die berühmte historische Distanz besteht darin, daß von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will."

Mit einem ausführlichen nachwort des herausgebers, mondrian v. lüttichau.

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Rachel, Klaus, Moni, Lars, Habiba, Ben & Laura: UNSER SIEG ÜBER DIE RITUELLE GEWALT

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Rachel war seit frühester kindheit RITUELLER GEWALT ausgeliefert. In den ersten lebensjahren galt sie als "geistig behindert", später wurde autismus diagnostiziert. Durch Gestützte Kommunikation (FC) wurde ab 1993 deutlich, daß sie nichts weniger als kognitiv beeinträchtigt ist. Als in rachels FC-botschaften zunehmend hinweise auf sexuelle gewalt auftauchten, wurde erst dies zum auslöser für erinnerungen von laura, ihrer mutter, an ihre eigene traumatische kindheit. Mutter und tochter waren opfer desselben germanofaschistischen kults gewesen, dem auch verwandte angehörten!

Bei rachel hatte sich eine dissoziative persönlichkeitsstruktur (multiple persönlichkeit) entwickelt. Sprechen wie selbständiges handeln ist für sie bis heute verknüpft mit verboten, schrecklichen erfahrungen und programmierungen der täter. Mithilfe der Gestützten Kommunikation haben verschiedene persönlichkeiten ihre systems seit 1993 auf weit über 1000 seiten umfassend über folterungen, demütigungen, programmierungen und sexuelle gewalt der täter berichtet. Neben den FC-dialogen mit der mutter entstanden selbstdarstellungen der innenpersönlichkeiten, gedichte. Auch an mehrere selbsthilfezeitschriften richtete rachel und ihr system auf austausch und unterstützung hoffende FC-briefe. Das stimmengewirr innerhalb der texte zeigt ein nuanciertes, aber orientierungsloses aufarbeitungs- und beziehungsbedürfnis. Diese botschaften sind ein überwältigender und erschütternder selbstheilungsversuch des multiplen systems.

Kaum je wurden die unterschiedlichen (und meist dazuhin irritierten) blickwinkel dissoziativer teilpersönlichkeiten auf die eigene traumatische lebensgeschichte sowie ihre schrittweise klärung und aufarbeitung über bald zwei jahrzehnte in einer publikation nuanciert dargestellt. Durch einen ebenfalls dokumentierten mailkontakt von 2011 wird die noch immer bestehende innere verwirrung eines multiplen systems nachvollziehbar, die schwierigkeit, etwas von dem grauenhaften konsistent und nachvollziehbar zu vermitteln, selbst wenn vertrauenswürdige bezugspersonen vorhanden sind.

Durch das hier vorliegende, in seiner vielschichtigkeit, nuanciertheit und stringenz singuläre zeugnis können wir vieles lernen über die psychodynamik von Struktureller Dissoziation (speziell bei DIS) wie über täterintrojekte und konditionierung bei Ritueller Gewalt, über die praxis von sexueller kinderversklavung (hier in deutschland!), aber auch über Gestützte Kommunikation (FC) und die gratwanderung zwischen fürsorge und selbstverantwortung bei menschen mit beeinträchtigungen, nicht zuletzt über lebenskräfte (resilienz), über die unabweisbare sehnsucht nach mitmenschlicher begegnung. - Wichtiger aber ist, daß diese dokumentation für laura, für rachel und alle persönlichkeiten ihres systems zum manifest einer grundlegenden abgrenzung wird: Das grauenhafte ist gewesen - aber es ist vorbei. Wir haben die Rituelle Gewalt nicht nur überlebt, - unsere menschlichkeit, lebenszugewandtheit und liebesfähigkeit hat gesiegt!

(Nachwort mondrian v. lüttichau)

Siehe auch die zweite Veröffentlichung von Rachel & Co.

Achtung - triggerwarnung!
Die dokumentation enthält durchgängig beschreibungen brutaler gewalt.

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Nora Waln: NACH DEN STERNEN GREIFEN

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Deutschland, Österreich und Tschechoslowakei 1934-1938

Die US-amerikanische journalistin nora waln (1895-1964), aus wohlsituierter quäkerfamilie, erkundete von 1934 bis 1938 deutschland und österreich. Ihr 1939 in london und boston veröffentlichter bericht lebt von der für den leser nachfühlbaren zeugenschaft der autorin. Nora walns grundlegender blickwinkel ist ein humanistisch, idealistisch begründeter pazifismus ohne parteipolitische reflexionen, sowie eine zumindest mir sympathische affektiv besetzte gelehrsamkeit.  Immer deutlicher flackern in traulichen szenerien unvermittelt momente von gleichschaltung, unterdrückung und gewalt auf – selbst dies zunächst noch verkleidet in spießbürgerlicher ordentlichkeit, idealistischer begeisterung oder als seien es bedauerliche einzelfälle.

Nora waln zeigt sich im verlauf ihrer vier jahre in deutschland (und österreich) lernfähig, und sie dokumentiert die zögerliche wandlung ihrer zunächst sehr idealistischen einschätzung mit einem hauch bitterer ironie. Ihre zunächst naiv wirkende neutralität modifiziert sich mit den erfahrungen im nationalsozialistischen alltag zur feldforscherischen taktik. In verbindung mit ihrer sozialpsychologisch nuancierten beobachtungsgabe (und ihrer genuinen menschenliebe!) entsteht ein bericht, der nichts weniger ist als apolitisch.

Manche schilderungen harmonischer, idyllischer alltagsszenen oder auch traditioneller umgangsformen lassen sich heute kaum ohne widerwillen lesen. Nach 1945 gehörten solche erinnerungen in deutschland jedoch zu den wenigen scheinbar unkorrumpierten vorbildern für alltag und selbstgefühl. Im westen haben sie zumindest die adenauer-zeit wesentlich mitbestimmt, in der DDR scheinen sich versatzstücke daraus länger gehalten zu haben. Zur reflexion der NS-sozialisierten generationen über die verbrecherischen aspekte der nazizeit – gar noch im gespräch mit den nachgeborenen kindern – taugte entsprechendes selbstverständnis ebensowenig wie zu ihrer integration in die von massenmedien, konsum, kulturindustrie und "sexueller revolution" bestimmten gesellschaft nach 1950.

Heute, 50 jahre später, kann gerade nora walns laien-ethnografischer bericht für uns deutsche eine brücke schlagen zur welt unserer eltern, großeltern oder urgroßeltern.

Ihr augenzeugenbericht vom alltag im austrofaschismus (1936/37) läßt die spezielle österreichische mischung historischer hintergründe und innergesellschaftlicher ideologien und kräfte ahnen. Unabweisbar wird die geradezu mephistophelische raffinesse der schachzüge von NS-politik und -propaganda, mit der das öffentliche klima in österreich manipuliert wurde. Wieder ein anderer zeitgeschichtlicher blickwinkel auf die vorgeschichte des NS öffnet sich in ihrem umfangreichen kapitel zur situation in der tschechoslowakei, dem seinerzeit wohl fortschrittlichsten demokratischen impuls in mitteleuropa.

Bis in die letzten seiten des buches läßt sie die leserInnen teilhaben an ihren unvereinbaren erfahrungen und empfindungen in einem ideologischen spiegelkabinett. Gerade ihr tiefer ernst und ihre konsistente achtsamkeit über mehrere jahre ermöglichen uns, der damaligen soziodynamik in den von ihr rezipierten schichten und kreisen nachzuspüren. Solche zeitzeugenberichte aus dem blickwinkel individueller ("subjektiver") erfahrung und interpretation sind unverzichtbare erkenntnisquellen, die durch prozeßsoziologische bzw. mentalitätsgeschichtliche forschungsansätze behutsam erschlossen werden können.

Der text bietet sich nicht an zur selbstgerechten unterscheidung von bösen nazis und unschuldigen bürgern, sondern nötigt zur reflexion der vielschichtigen verstrickungen der deutschen bevölkerung jener zeit. Er ist ein atemberaubend hautnahes, geradezu intimes, einfühlsames – aber zugleich gespenstisches dokument aus dem innenleben nazideutschlands.

Nora waln engagierte sich bereits mit 20 für die 1915 fast ausgerotteten armenier, später lebte sie 20 jahre in china, schrieb darüber zwei seinerzeit populäre bücher. Nach 1945 arbeitete sie als journalistin in mehreren ländern des fernen ostens.

Das hier neuveröffentlichte buch erschien 1939 (in zwei unterschiedlichen versionen) in london und boston. Weitgehend unbeachtet kam 1947 eine deutsche ausgabe heraus.

Für diese erste deutsche neuausgabe wurde die übersetzung revidiert, gestrichene passagen wurden integriert. Ergänzt wurden zeitgeschichtliche anmerkungen sowie ein nachwort des herausgebers mondrian v. lüttichau.

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Kurt Münzer: MENSCHEN AM SCHLESISCHEN BAHNHOF

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Berlin 1929. - Der idealistische bürgersohn peter hat sich ins zille-milieu am schlesischen bahnhof verlaufen; schwärmerisch verliebt er sich in anna, ein mädchen von dort. Das kann nicht gutgehn. Er lernt elli kennen, die bei aller seelischen und körperlichen zerstörung hilflos-naive alte hure, annas mutter. Mit dem jungen ganoven paul entsteht zaghafte, mißtrauische nähe. Eine lebenskluge großmutter taucht auf und toni, ihr verkrüppelter, heimlich gedichte schreibender 13jähriger enkel. Jede begegnung, jedes gespräch läßt peter andere wahrheiten ahnen. Öffnet ihm die augen für verdrängte momente der sozialen realität wie der eigenen lebensgeschichte. In einer tragikomischen dreiecksgeschichte zwischen peter, anna und paul führen unterschiedliche traumatische kindheitserfahrungen zur katastrophe.Dann ein gnadenlos wahrhaftiger abschied - in st. pauli, am hamburger hafen. Was bleibt, ist sinnlich-sinnhaftes leben: das meer, die möwen, die städte. Wenn wir unser existenzielles alleinsein annehmen, wird alles (die welt) zum gegenüber, - vielleicht eine reminiszenz münzers an martin bubers dialogische mystik.

Zerrissene, zutiefst ambivalente sehnsucht nach kindlicher mutterbindung und/oder erotischer liebe (zwischen hetero- und homosexualität, zwischen abgestumpftem egoismus und idealistischer sublimierung) - kurt münzers lebensthema! - wird hier fast allgemeingültig, in poetischer verdichtung dargestellt.

Die erstausgabe des romans erschien 1930 in dem avantgardistischen verlag bruno cassirer. In manchem eine antwort auf 'Berlin Alexanderplatz'(1929), fehlen dieser geschichte döblins artifizielle literarische techniken und seine langatmigkeit.Dafür ist der fast vergessene jüdisch-deutsche expressionist kurt münzer wohl näher dran an alltag, leid und lebensgefühl von proleten, kindern, huren und gangstern rund um den friedrichshain und am schlesischen bahnhof (heute ostbahnhof), im wedding (dem andern zille-kiez), im scheunenviertel und am alex.

'Menschen am Schlesischen Bahnhof'  ist eine letzte bittere liebeserklärung münzers an die berlinerInnen im schmuddligen untergrund der glamourösen zwanziger jahre. Auf der straße marschieren bereits die nazis.. 1933 brennt auch dieses buch. Der autor emigriert in die schweiz, wo er 1944 stirbt.

Von kurt münzer wurden  bei A+C außerdem wiederveröffentlicht die romane 'Jude ans Kreuz!' , 'Phantom'  und 'Esther.

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Kurt Münzer: PHANTOM

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Zürich 1916/17, jenseits der grenze tobt der weltkrieg. Doktor gram, der dichter, sucht wahrheit an den extremen seiner erfahrung. In irisierender verdichtung stellt kurt münzer spannungsverhältnisse menschlicher lebendigkeit dar: zwischen phantasie (traum) und wirklichkeit, zwischen kunst, leben und ruhm (oder geld), zwischen liebe und sexualität, männlich und weiblich, schicksal und entscheidung, ideal und realität, alleinsein und begegnung: eins zehrt vom andern, eins geht ins andere über..

Literaturgeschichtlich kann münzers werk meist dem Expressionismus, teilweise eher dem Magischen Realismuszugeordnet werden. Gerade der hier wiederveröffentlichte künstlerroman von 1919 irrlichtert zwischen metaphern und mythen, assoziationen und inszenierungen, stilformen und alltagsästhetiken, um existenzielle, noch heute höchst aktuelle konflikte darzustellen; selbst in kolportagebildern und fin de siècle-inszenierungen wird ein archetypischer kern freigelegt.

Kurt münzer lotet menschliche empfindungen und bedürfnisse aus bis in verstörende untiefen und jämmerlichste entfremdung, bis in skurrile unwahrscheinlichkeit und kitschige schwarzweißmalerei. Er zeigt das gefangensein der menschen in ideologischen strukturen und kategorien verdinglichter gesellschaftlicher normalität, wodurch authentisches empfinden regelhaft übergehen muß in macht-, besitz- und zerstörungsimpulse; wir verstricken uns in selbstüberhebung, schuld- und minderwertigkeitsgefühle.

Kurt münzers affinität zu zürichwird in manchen erzählungen und feuilletons deutlich. Hier lebte und studierte er ab 1904, in zürich starb er 1944. Vor und während des ersten weltkriegs ist die schweiz und gerade zürich zeitweiliger zufluchtsort deutscher und österreichischer künstler und intellektueller. Die meisten deutschsprachigen protagonistInnen des künstlerischen und intellektuellen zürich jener zeit fanden sich anschließend im berlin der Zwanziger Jahrewieder; auch kurt münzer sollte zu dieser szene gehören.  (Aus dem nachwort)

Von kurt münzer wurden bei A+C bereits wiederveröffentlicht die romane 'Jude ans Kreuz!', 'Esther Berg'und 'Menschen am Schlesischen Bahnhof' sowie ein band.

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Michael Brink: DON QUICHOTTE. Bild und Wirklichkeit

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Zunächst engagierte sich der 1914 geborene emil piepke (später michael brink) in katholischen jugendorganisationen; dann kam der NS-arbeitsdienst und übergangslos das militär. Bald hatte er kontakt aufgenommen zu dem münchner Kreis der Weißen Rose, zum Kreisauer Kreis, aber auch zu aufrührerischen militärs. Er selbst bezeichnete sich manchmal als "ordonnanz" dieser gruppen. Er gehörte zu einem kreis kirchenkritischer katholiken um johannes maaßen und war eng befreundet mit dem später hingerichteten widerstandskämpfer alfred delp SJ.

Im winter 41/42 kam er schwerverwundet aus rußland zurück. Im frühjahr 1942 erschien das hier neu aufgelegte buch Don Quichotte. Bild und Wirklichkeit. Schon wenige wochen nach erscheinen war es ausverkauft, auch eine zweite auflage war bereits vergriffen, als (angeblich) stalingradkämpfer sich darüber empörten, daß so etwas erscheinen könne, während sie ihr leben einsetzten. Das Buch wurde verboten. Abschriften davon kursierten unter jungen menschen, nicht zuletzt im umkreis der Weißen Rose.

Michael Brink wurde im Frühjahr 1944 verhaftet und ins KZ sachsenhausen überstellt. Auf dem todesmarsch der KZ–häftlinge konnte er fliehen. Inzwischen war er schwer an lungentuberkulose erkrankt.
1945 heiratete michael brink die junge malerin roswitha bitterlich. 1946 kommt beider tochter zur welt. Michael brink kämpft in einem sanatorium um sein leben. Im selben jahr erscheint sein vermächtnis, das buch 'Revolutio humana', eine bedeutende theologische veröffentlichung jener jahre, – geschrieben in prophetischer radikalität und noch aus der erschütterung durch leichenberge in den KZ, zerrissene soldaten, das leid der bevölkerung, zerstörte städte, das geschrei von hitler und goebbels. Das ist der mensch? Was ist der mensch? (Auch diese arbeit wurde bei A+C wiederveröffentlicht.)

Michael brink kämpfte als soldat "für sein volk", erkannte aber zunehmend das eindeutig verbrecherische des von der deutschen wehrmacht betriebenen vernichtungskrieges. Angesichts dieser aporie, dieser sozialen zerrissenheit war orientierung und perspektive nur in anderen sphären menschlicher lebendigkeit zu finden; so dürfte der 'Don Quichotte' entstanden sein. Michael brinks kaleidoskopische, zwischen romantik und theologie, politischem widerstand und spiritualität sprühende predigten (denn das sind es nicht zuletzt!) sollten wir auch als ausdruck poetischer wahrheit verstehen, – einer poesie allerdings, in der bislang unvorstellbares grauen antezipiert ist. Die figur des Don Quichotte stellt er vor uns hin als archetypus, der wohl erst in unserem zeitalter einer progressiven verdinglichung der menschenwelt seine tiefste bedeutung erhält.

Individuell und konkret zu klären, wozu wir auf der welt sind, ohne außerhalb unserer selbst liegende evidenz, in der wir uns (wie auch immer imaginativ oder projektiv, religiös oder philosophisch) spiegeln können, fällt schwer in einer welt von relativität, verdinglichung und ideologie. - In brinks arbeiten fand ich analysen der menschheitlichen situation und perspektiven eines lebenswerten weiterexistierens der menschheit (trotz der kriege und völkermorde aller zeiten und weiterhin!) aus christlicher, katholischer perspektive.  Für mich war klar, diese texte müssen eine zweite chance bekommen!

(Mondrian v. lüttichau, aus dem nachwort)

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Konrad Telmann: BOHÉMIENS (Berlin 1895)

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Die neunzehnjährige helene aus thüringen entdeckt das weltstädtische berlin um 1890; sie selbst wird natürlich bald von den männern entdeckt. Eine anmutige biedermeiergeschichte scheint sich zu entfalten. Bald aber stolpert der leser über dissonanzen und untiefen. Konsequent bürstet telmann die ganz normalen umgangsformen jener zeit gegen den strich, indem er sie ernst nimmt (fast wie ein ethnografischer feldforscher) und dadurch das sexistische und entfremdete in ihnen sich entfalten läßt – unaufdringlich, innerhalb der zunächst noch unterhaltsamen handlung. Situation für situation wird die altbekannte kolportagefabel demontiert (denn auch klischees tragen ja eine wahrheit in sich). So liefert der kleine roman aus dem jahr 1895 eine subtile studie zum stand von geschlechtsrollen, zur anatomie der doppelmoral in jener zeit. Der buchtitel aber ist bitterste ironie; denn die angebliche "Bohème" ist nur schimäre, – projektionsmodell für gelangweilte gute bürger, wohlfeile ausrede für unterprivilegierte spießbürger, regressive oder narzißtische inszenierung.

Egoistisch-offensive männer und hilflos-hingebende frauen werden nicht klischeehaft gegeneinandergestellt. Telmann führt uns vielmehr erlernte und zueinander kompatible rollenmuster vor. Das gespinst der sozialisationsbedingten normalität, in das seine figuren hineingewachsen sind, in dem sie weitgehend bewußtlos feststecken, wird ebenso achtsam beleuchtet wie situative möglichkeiten authentischer mitmenschlichkeit und liebe, die allzuoft aus bequemlichkeit, selbstbetrug oder trägheit des herzens nicht oder nur für momente genutzt werden.

Bei männern wie frauen zeigt sich hinter den (unterschiedlichen) mustern von selbstentfremdung, verlogener rhetorik, ersatzbefriedigung und rollenspezifischer deformation, jenseits der wie geschmiert laufenden geschlechtsrollenmechanik deutlich die mehr oder weniger resignierte, unterdrückte, korrumpierte sehnsucht nach authentischer lebendigkeit und sozialer geborgenheit. Verhaltensweisen und empfindungen kommen teilweise aus einem Falschen Selbst, andererseits aber auch aus authentischen impulsen. – Situationen, dialoge und innere monologe laufen ab in gnadenloser deutlichkeit, fast lehrbuchhaft zeigen sich sozialpsychologische bedingtheiten und tiefenschichten der "normalen" verfaulten (doppel)moral im nebel der szenischen unmittelbarkeit. Dazu gehört die traditionelle frauenfeindliche doppelmoral, die auch von frauen verinnerlicht wird.

Die männlichen hauptfiguren, erfolglose schriftsteller, wirken zeitweise geradezu molluskenhaft; seelische deformationen finden sich bei ihnen in unterschiedlichen varianten einer regressiven, narzißtischen, hypochondrischen indolenz. Beide suchen sie im grunde eine mutter, keine partnerin. Die für männer angeblich typische chauvinistische selbstherrlichkeit zeigt sich eher als hilfloses (wenn auch wenig ehrenwertes) ringen um struktur und persönlichkeit angesichts gesellschaftlich vorgegaukelter, geld- und statusorientierter entfaltungs- und rollenvorgaben, durch die individuelle bedürfnisse und empfindungen verdrängt, eingelullt und zugeschüttet werden. Unverwüstlich scheint bei ihnen nurmehr ein inzwischen geradezu reflexhafter egoismus.

Der seinerzeit sehr erfolgreiche naturalistische schriftsteller konrad telmann (1854-1897) diskutiert in seinem umfangreichen werk soziale, politische, ethische und religiöse streitfragen seiner zeit, zeigt ihre exemplarische relevanz in konkreten sozialen, mitmenschlichen konstellationen und nimmt dabei durchgängig einen fortschrittlichen, aufklärerischen standpunkt ein. Im zusammenhang mit seinem gesellschaftlichen engagement wurde er mehrfach in gesellschaftliche, kirchliche und gerichtliche konflikte gezogen. - 'Bohémiens' wird hier erstmalig wiederveröffentlicht.

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Albert Lamm: BETROGENE JUGEND

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Ab 1926 arbeitet der maler albert lamm (1873-1939) als zeichenlehrer in einem tagesheim für (männliche) jugendliche erwerbslose in berlin-treptow. Der kritische außenseiter, lebenslang auf der suche nach sozialer wie künstlerischer wahrhaftigkeit, entwickelt geduldiges jugendfürsorgerisches/sozialpädagogisches engagement. Gerade in ihrer früh vom leben enttäuschten und verwundeten widerborstigkeit waren diese jungs ihm vermutlich näher, als er selbst wußte. Zu beginn versucht er noch in treuherziger spießbürgerlichkeit, den jungs die werte der gutbürgerlichen gesellschaft einfach überzustülpen. Aber lamm lernt in beeindruckender stringenz, sich in die situation der desillusionierten, von entsprechenden lebenserfahrungen abgestumpften jugendlichen einzufühlen.

Die gerade in den 20er jahren verbreitete hoffnung auf neue lebens- und gemeinschaftsformen kommt selbst bei dem in anderen aspekten konservativ wirkenden albert lamm an, der über seine jungs schreibt: "Sie sind mit nichts mehr verwachsen und werden mit dem alten Leben nirgends mehr verwachsen, mit dem sie nur noch die Lohndüte, die Stempelkarte und der Unterstützungsbetrag verbindet; aber in ihrer Gemeinschaft wächst eine neue Verbundenheit, die ausreicht, sie sich selber als eine neue und ganze Welt fühlen zu lassen, in der man nach neuen Formen eines den Menschen ausfüllenden Lebens sucht." - Aber er spürt durchaus auch die kehrseite solcher sehnsucht: "Es ist ein ungeheures gährendes Wünschen, was in dieser Jugend arbeitet - umschlossen von dem Zwange der großen Not der Zeit. Wer sich nicht dazu aufzuraffen vermag, zu fühlen, daß Gerechtigkeit und Menschlichkeit hier ein Helfen fordern, der sieht vielleicht wenigstens ein, daß Sicherheitsventile notwendig sind, um nicht einmal unsinnige Entladungen hochgespannter Kräfte heranwachsen zu lassen, um das Anwachsen des Chaos hintanzuhalten, von dessen unterirdischer Ausdehnung und vulkanischer Gewalt unter unserer alt gewordenen Welt leider die wenigsten eine rechte Vorstellung zu gewinnen sich bemühen mögen." 

Albert lamms bericht wurde 1932 im Bruno Cassirer Verlag Berlin veröffentlicht, - - als "adolf hitler"  im berliner volksmund erst eine sprichwörtliche bezeichnung war für ungebärdig herumbrüllende männer!

Das projekt selbst war zu diesem zeitpunkt schon kaputt, - stanguliert von sozialadminstativen vorgaben, mittelkürzungen und gleichgültigkeit der höheren bürokratie; auch hiervon berichtet lamm. Das buch durfte nach dem machtantritt der nazis nicht mehr vertrieben werden. - Aber was ist wohl aus diesen, aus solchen jungs geworden?

"Lamms Schrift gestattet teilweise soziologische Erfassung und Auswertung der Gestalt des aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß herausgeschleuderten jugendlichen Erwerbslosen", wurde 1933 in max horkheimers 'Zeitschrift für Sozialforschung'  betont. - Heute ist das büchlein vor allem in den östlichen bundesländern in mancher hinsicht wieder aktuell; welche gesamtgesellschaftlichen folgen werden diesmal aus den entsprechenden sozialen zerstörungen erwachsen?

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Mondrian w. graf v. lüttichau: ELSTERN IN BERLIN

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2., erweiterte auflage im oktober 2014.

Teil 1 + 2:

Aus dem tagebuch meiner ersten beiden jahre in westberlin (1984-86). Deutlich wird das ganz eigene lebensgefühl in dem von der mauer umschlossenen 'politischen gebilde', das - von innen gefühlt - kaum mehr mit der BRD zu tun hatte als mit frankreich oder holland. Dafür wurde ostberlin, die hauptstadt der DDR, bald zum untrennbaren teil meiner neuen heimat BERLIN. (Teil 2: "Anne F. nicht vergessen" kam in der 2. auflage hinzu.)

Teil 3:

Tagebuch der aufwühlenden zeit zwischen september und dezember 1989. Da saß ich in westberlin und habe atemlos, erschüttert und voller enthusiastischer spannung DDR-medien verfolgt und dann, vor allem nach dem 9.11., die täglichen veränderungen in ganz berlin miterlebt.

Teil 4:

Rund 500 bücher aus der DDR (und etliche filme) werden (mit bibliografischen angaben) aufgelistet, die zum großen teil schon jetzt vergessen sind. In ihnen ist viel vom lebensgefühl und vom alltag in der DDR bewahrt, - vielleicht mehr als in den wenigen allseits bekannten ('anerkannten') werken der DDR-belletristik. (Wurde für die 2. auflage ergänzt.)

Teil 5:

Textur des übergangs - fotos aus ost-berlin (1998-2000). (Neu in der 2. auflage.)

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Mondrian w. graf v. lüttichau (Hrsg.): VON DEN ELTERN

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Daß der versuch, meine psychosoziale entwicklung, mein gewordensein zu verstehen, sich als roter faden durch alles hindurchzieht, was mir im leben wichtig wurde, kann ich mir erst jetzt eingestehen, im rückblick.
Wohl erst aufgrund der durch den tod meiner eltern ermöglichten abgrenzung von ihnen fand ich den nötigen freiraum, mir wirklich gedanken zu machen auch über ihr leben, über ihre wahrheiten.

Diese veröffentlichung von briefen, aufzeichnungen, dokumenten und kommentarenkönnte einiges von der pathologischen, leidvollen und (vor allem für die eltern) tragischen psychodynamik in meinem elternhaus vermitteln – und ist eine wichtige ergänzung zu meinen früheren darstellungen, die ich gleichwohl in keinem satz relativieren oder korrigieren kann. – Mithilfe ihrer briefe und aufzeichnungen habe ich manches von meinen eltern besser verstehen gelernt. Ich hoffe und glaube, daß durch diese dokumentation verständnis für ihr seelisches wie soziales schicksal auch bei außenstehenden entstehen könnte.

Solch nachträgliches verständnis für eltern führt allzu oft dazu, daß die erwachsen gewordenen kinder ihr eigenes kindheitsleid umdefinieren und verdrängen – mit weitreichenden folgen.
Etwas wie "nachgetragene liebe"(peter härtling) gibt es auch bei mir, - gleichwohl bin ich vorbehaltlos solidarisch mit dem kindlichen wolfi, in der zermürbenden beziehungs- und orientierungslosigkeit seines elternhauses. Es ist keine gesunde form von aufarbeitung, kindliches leid zu relativieren mit dem leid der dazugehörigen eltern!

Im vordergrund des verhältnisses zwischen meinen eltern und mir steht meines erachtens nicht unbedingt schuld, sondern eine tragik, in der mein elternhaus exemplarisch ist für allzu viele familien: Symptome früherer psychischer verletzungen werden (bei funktionierender sozialer fassade) in der nächsten generation ausagiert und bewirken dort neue psychische belastungen..

In dieser dokumentation soll zumindest ansatzweise etwas von der wahrheit meiner eltern deutlich werden – nicht zuletzt ihr oft hilfloses bemühen, mir gerecht zu werden und mich zu unterstützen – im rahmen ihrer seelischen möglichkeiten und ihres verständnisses.

Weitere fotografien aus dem umkreis meines elternhauses finden sich in meinem flickr-account, - hier!

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Anna Schack: DAS HAUS Nr. 131

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Luftkrieg im zweiten weltkrieg? Zerstörte deutsche städte? – Für uns nachkriegsgeborene sind das kaum mehr als worte. Die städte sind wieder aufgebaut, die meisten zeitzeugen sind tot, und im übrigen war das NS-deutschland ja selber schuld. – Dieser hier erstmals wiederveröffentlichte, bereits 1946 erschienene versuch einer romanhaften darstellung der entsprechenden erfahrungen dokumentiert hautnah, geradezu filmisch die situation von weder verfolgten noch antinazistisch aktiven deutschen während der luftangriffe auf düsseldorf, ab 1941.

Alltag im wissen, daß in den nächsten stunden die eigene wohnung ein trümmerhaufen sein kann, völlig unvorhersehbar der fliegeralarm, dann hilfloses verharren im luftschutzkeller angesichts der sicheren lebensgefahr durch verschüttung, verbrennung oder durch brandgase. Kein kämpfen, keine flucht ist möglich; und hinterher die suche nach angehörigen, die oft nur als leichenteile gefunden werden.. – Heute wissen wir, daß solche situationen zumeist traumatisierend wirken. Verleugnung und rationalisierung, kompensationen, traumatische erstarrung und abspaltung (dissoziation) sind, in mancherlei varianten, im buch dargestellte auswirkungen. Sie haben – auch das wird erst seit wenigen jahren (an)erkannt – das seelenleben der überlebenden geprägt bis zu ihrem tod. Zweifellos entstanden in der generation unserer großeltern und eltern häufig traumafolgeschädigungen, die sich direkt oder indirekt ausgewirkt haben in unserer eigenen kindheit.

Im gegensatz zu den isolierten zitaten von luftkriegsbetroffenen, wie sie in manchen fach- und sachbüchern dokumentiert werden, bleiben entsetzliche, von zerstörung und todesangst geprägte situationen im vorliegenden buch verwoben in den unprätentiösen, privatistischen, banalen alltag mit seinen menschlich-allzumenschlichen bedürfnissen und konflikten; darin liegt ein besonderer wert der darstellung, für deren grundsätzliche authentizität auch die veröffentlichung bereits im jahr 1946 spricht. Sicherlich hat sich die autorin ihren figuren – jenseits unterschiedlicher ideologischer standorte – verbunden gefühlt; zweifellos hat auch anna schack im luftschutzkeller gesessen und ist vor dem feuersturm geflohen.

Anna schack vertritt deutlich die anschauung von der verführung der deutschen durch die nazis, mit wesentlicher unterstützung durch karrieristen, grundlegend verbrecherisch oder/und psychopathologisch motivierte personen und ruhmestrunkene jungsoldaten. Darüberhinaus geht es ihr um den wahnsinn des krieges an sich. Die systematische zerstörung von menschenleben und menschenwerk – wozu?? Nachdenken über politische hintergründe ist allerdings bei der autorin so wenig zu finden wie bei ihren figuren..

Mitherausgegeben von DISSOZIATION UND TRAUMA.
Nachwort mondrian v. lüttichau.

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Ulrich Acksel: SCHNURREN UND SCHNAKEN AUS DER LAUSITZ

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Ein tiefsinniger eulenspiegel (jahrgang 1942) erzählt vom alltag in ostdeutschland und der DDR - aus seinem ganz eigenen blickwinkel: humorvoll und menschenlieb, aber auch eigenwillig und unbequem, als kreativer erlebnisgastronom (seit 1970! in der DDR!) ein begnadeter organisator zwischen SED-bürokratie, mangelwirtschaft und den allzumenschlichen untiefen in dem lausitzer städtchen. Ulrich acksels geschichten dürften selbst gelernte DDR-bürger erstaunen. Fein gewürzt mit einer prise magie und einem schuß ostalgie, zeigen sie kaleidoskopische sequenzen eines selbstbestimmten lebens - das jedoch immer wieder seinen preis gefordert hat.

Ich möchte an dieser stelle hinweisen auf das 2013 erschienene 'Brandenburgische Hausbuch', in dem auf 550 seiten rund 200 autorInnen aus mehreren jahrhunderten zu wort kommen mit sagen und anekdoten, gedichten und erzählungen, satiren, briefen, zeitzeugenberichten und erinnerungen. Auch ulrich acksel ist darin vertreten.

Seit 2019 gibt es das Projekt, die Erlebnisgaststätte der Familie Acksel in Großräschen als innovativen Hotelbetrieb neu zum Leben zu erwecken. Hier ein Pressebericht!

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Eugen Diesel: ZIVILISATORISCHER FIRLEFANZ - Verdinglichung mit Perspektiven 1926 & 1947

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(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Der nahezu vergessene technikphilosoph eugen diesel (1889-1970) hat lebenslang nachgedacht über perspektiven der zivilisation. Es ging ihm um die fatalen gesellschaftlichen auswirkungen von technik und organisation, von rationalisierung und bilanzierung, von werbung und konsum in unserer zeit. Kritik an der verwissenschaftlichung des denkens (des "geistes") und der bürokratisierung der sozialen prozesse. Die verdinglichung von organismen, begriffen, ideen/einfällen, von zeit/geschwindigkeit. Der "totale" staat. - Dies nicht im sinne maschinenstürmerischer rückwärtswendung zu "blut und boden" oder "goetheschem geist", sondern als techniker, als genuin systemischer, humanökologischer und rhizomatischer denker, ideologiekritisch, manchmal mit bitterer ironie, aber ehrlich auf der suche nach lebenswerten perspektiven, - und ohne momente von ratlosigkeit zu verschweigen.

Für diesel, dem kreatives verständnis für maschinen, regelungstechnik (als grundlage der kybernetik) und organisation zweifellos schon vom vater (dem motorenerfinder) nahegebracht wurde, ist die progressive verdinglichung der menschenwelt sinnlich (auch psychologisch) greifbarer als für viele politiker oder gesellschaftskritische intellektuelle, die sich mit "technischem" nicht befassen mögen. Seiner darstellung kommt das zugute. Eugen diesel verdeutlicht uns problematische grundmuster, die aktuell geblieben sind; - in mancher hinsicht sind sie heute, im "informationstechnischen" zeitalter von "postmoderne", "radikalem konstruktivismus", "beschleunigung" und "globalisierung", sogar besser zu erkennen als damals. Er nimmt uns mit auf seine suche nach möglichkeiten einer zu irreversiblen entwicklungen kompatiblen gegenbewegung, mit der zunehmend zerstörerisch werdende positive regelkreise möglicherweise ausgeglichen werden könnten.

Sinnlich greifbar wird uns in seiner darstellung die alltägliche, unmerklich und geradezu selbstverständlich fortschreitende verdinglichung, instrumentalisierung unserer welt - und unseres bewußtseins! - Derzeit erleben wir entsprechende prozesse hautnah mit im bereich der digitalen technik: google, social networks, e-bay, amazon, virtuelle welt, blogs, chat rooms, i-phone.. Fortschritte ohne zweifel - aber wohin? Nutzen wir ihre möglichkeiten selbstbestimmt oder passen wir uns ihren vorgaben "automatisch" an? Welche freiräume und erfahrungen werden verstellt durch das neue?

Es könnte nützlich sein, aus der zeitlichen distanz seines blickwinkels konkret und alltäglich über entfremdung, verdinglichung, mechanisierung des heutigen lebens nachzudenken - achtsam für unseren alltag - im bemühen, wahlmöglichkeiten zu erkennen, freiräume, in denen gegenbewegungen zur progressiven verdinglichung sich entfalten können - wenn auch "nur" für unseren individuellen einflußbereich. "In dem erstaunlich verwickelten Gewebe steht jeder von uns an einem Knotenpunkt, worin tausende der ungleichartigsten Fäden zusammenlaufen", schreibt eugen diesel; darin liegt auch ein potential!

Als erstmalige wiederveröffentlichung werden hier zwei texte eugen diesels nebeneinandergestellt: 'Die Krise der Lebendigkeit' (1926) und 'Das Schicksal der Menschheit im Zeitalter der Technik' (1947). - Mit vorwort des herausgebers.

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Heike Skrabs: PAUSENSPIEL

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Diese 1989 in der DDR erstveröffentlichten Erzählungen handeln von Kindern und Jugendlichen zwischen dem Bemühen, ihr Eigenes in der sozialen Umgebung zu bewahren und zu entfalten – und den teilweise längst verinnerlichten Mechanismen der (Selbst-)Konditionierung. In Kindheit und Jugend kollidiert beides noch, oft in subjektiv unlösbarer Weise, führt dann zu tiefgreifender Irritation und Identitätsdiffusion, zu Scham, Demütigung, Hilflosigkeit, Unterwürfigkeit oder Stolz. Bei Erwachsenen haben sich solche Störfaktoren der Normalität meist abgeschliffen.

Die Autorin Heike Skrabs steht offensichtlich durchgängig auf der Seite marginalisierter und gesellschaftlich ausgegrenzter Menschen, – generell: der Schwächeren, und zu denen gehören in jedemfall die Kinder (zumindest so lange, bis sie gesellschaftskonform sozialisiert sind).

Ihre Geschichten spielen in der von kleinbürgerlichen Konventionen geprägten Welt kleiner Städte der DDR Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Oft geht es um das Dickicht der familiären Interaktion: Kontrollbedürfnisse, Schuldgefühle, Geborgenheitsbedürfnisse, Abgrenzungsbedürfnisse, Überforderung – all dies bei Kindern wie Eltern. Jedoch stehen diese alltäglichen Konflikte bei Kindern/Jugendlichen meist für etwas Grundsätzlicheres: sie sind Schritte in die Welt hinaus, und jede Erfahrung, die Kinder mit der Welt machen, hat zugleich symbolische Bedeutung: So ist es auf der Welt! So sind die Menschen (die Erwachsenen)!

Es sind ganz normale Situationen und Probleme in der normalen Alltagswelt "ganz normaler" Leute – aber Heike Skrabs läßt die Untiefen dieser Normalität aufscheinen, auch dies ohne Lösungen, ohne "Happy end". Es ist einfach so. Die meisten geschilderten Konstellationen sind uns altvertraut; dennoch ist es nötig, solche Zusammenhänge immer neu zu erzählen, in ihren unterschiedlichen Facetten. In jeder Generation neu muß die Frage gestellt werden: Was ist eigentlich "Normalität"? Wo endet ihr Recht? Auf welche Weise kann die individuelle Eigenart sich entfalten, die mit jedem Neugeborenen auf die Welt kommt?

Was meint "Pausenspiel", der Titel einer der Geschichten wie des Buches? – eine Pause wovon? vom alltäglichen Leben in Familie, Schule oder Arbeit? Möglicherweise entfaltet sich das wirkliche, das existentielle Leben von jungen Leuten nicht selten gerade in solchen Pausen, die der angeblichen "Realität" mit dem Blick auf die Uhr abgerungen werden müssen. Und ist "Spiel" (zumal unorganisiertes, nichtkollektiviertes Spiel – wir sind in der DDR!) denn etwas Nebensächliches?

Die Gewalt der öffentlichen Sozialisation (Meinungsmache, Vorurteile, Diffamierungen und Unterstellungen, bösartige Phantasie) zeigt die Autorin besonders deutlich in "Hinter sieben Bergen", der Geschichte eines schwulen Coming out. Die Erzählung gehört zu den seltenen literarischen Darstellungen zum Thema Homosexualität in der DDR.

"Das Leben" ist die zeitlose Geschichte einer existentiellen Grenzsituation. Aus ihm könnte unbedingt ein Film werden.

Heike Skrabs wurde 1961 in Bad Liebenstein geboren und verbrachte ihre Kindheit in Thüringen und Mecklenburg. Sie lebt in Rudolstadt.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: "JEDE ZIGARETTE IST EIN SCHREI NACH ZÄRTLICHKEIT!"

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Durch den kontakt mit ausreißern (trebegängern) entstand in dieser zeit (ab 1980) die gewißheit, daß ich umfassender und systematischer eintreten sollte, könnte und müßte gegen verdinglichte lebensformen und für menschenwürdigere beziehungen. Wichtig wurde der kontakt zur 'INDIANERKOMMUNE' (nürnberg, zunächst heidelberg), die vehement öffentlichkeitsarbeit machte gegen konsumterror, suchtformen und vergiftete elternhäuser. Lebensfeindliche sozialisationsbedingungen führen (bei den meisten von uns) zu seelischen verletzungen und zerstörungen, die sich im späteren leben weiterhin auswirken. – Ich begann, mir einzugestehen, daß auch ich erhebliche traumafolgeschädigungen hatte, nicht zuletzt im bereich sexualität.

Dies ist eine neufassung des 1983 als buchhandelsausgabe erschienenen titels 'Marsmenschlichkeit' (teil I).

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Mondrian Graf v. Lüttichau: ARCHITEKTUR IM ALTEN BERLIN

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…und was davon übrig ist!

Gestaltung, Umgestaltung, / Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung (Goethe: Faust II) – gilt unbedingt für die Doppelstadt Berlin und Cölln, von Anfang an bis heute und auf morgen zu. Aufbau, Umbau, Zerstörung, Neubau, Brache, Wiederaufbau, Ganz-anders-Bau… – so war es hier zu jeder Zeit. Diese Sammlung von über 400 Abbildungen aus 300 Jahren (Federzeichnungen, Stiche, Gemälde, Fotografien) soll es dokumentieren – ohne wissenschaftlichen oder sonstwie systematischen Anspruch. Denn "systematisch" hat sich Berlin niemals entwickelt – und nur wer das Berliner Chaos mag, wird sich hier wohlfühlen (nicht nur sich in einem Kiez verkriechen).

Immerhin versuchen die Begleittexte, auf gesellschaftliche und städtebauliche Zusammenhänge hinzuweisen. Das Chaos ist ja durchaus relativ: jeder Hausbau, jede Straßenanlage hatte ihren historischen Grund. – Graues Kloster, Gerichtslaube, das Stadtschloß (in seinen geschichtlichen Verwandlungen), der unglückselige Münzturm, die Schloßfreiheit, Lustgarten, Leipziger Straße (einst die Berliner Weltstadtstraße), der Wintergarten, Spittelmarkt und Molkenmarkt, Mühlendamm, Hausvogtei, Parochialkirche, Georgenstraße, Kronprinzenpalais und Altes Palais, Unter den Linden, die Hedwigskirche, die Kommode, Singakademie und Kastanienwäldchen, Café Bauer und Kranzler-Eck, Leipziger und Potsdamer Platz, Brandenburger Tor und Pariser Platz, Krolloper, Gendarmenmarkt, Spuren der jüdischen Bevölkerung, Alexanderplatz, Anhalter Bahnhof, das Trauerspiel der Friedrichswerderschen Kirche,  Bauakademie und Museumsinsel, Jungfernbrücke und abgerissene Friedrichsgracht, die Schwebebahn an der Jannowitzbrücke (fast!), Krögel und alter Hafen, Oberbaumbrücke und Görlitzer Bahnhof, der Unterschied zwischen SO 36 und Kreuzberg 61, ein Trudelturm in Adlershof, Bettine v. Arnims Haus, der Gesundbrunnen mit  Millionenbrücke und Wiesenburg, eine überraschende Skulptur im Schloßpark Charlottenburg – – noch manches andere lädt ein, der Berliner Geschichte nachzuspüren. Ich jedenfalls habe Berlin als historisch gewordene Lebenswelt während der Arbeit an dieser Dokumentation nochmal ganz neu kennengelernt.

Natürlich gibt es eine unüberschaubare Fülle von Bildbänden und anderer Literatur zum Thema Berlin (Hinweise sind enthalten). Diese Veröffentlichung ist eine subjektive Auswahl, die auch ihre Geschichte hat … und mit der letztlich nur mein Bedürfnis verwirklicht wird, einmal ein Buch zu machen, das ganz und gar der Stadt Berlin gewidmet ist, die seit 1984 zu meiner Heimat geworden ist.

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Roswitha Bitterlich: EULENSPIEGEL. Elf Radierungen (1941)

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Roswitha bitterlich wurde 1920 in bregenz geboren und bald als zeichnerisches "wunderkind" entdeckt. Ihre erste ausstellung wurde 1935 in wien eröffnet. Weitere ausstellungen fanden 1936 in prag, 1937 in amsterdam, rotterdam und kopenhagen statt, 1938 in london, zürich und den haag, 1939 in münchen und stuttgart. 1951 folgte eine ausstellung in New York. 1945 heiratete sie den katholischen publizisten und NS-widerstandskämpfer michael brink (dessen hauptwerke bei A+C wiederveröffentlicht wurden). Nach brinks tod 1947 wanderte die künstlerin nach brasilien aus, wo sie seither lebte.

Im folgenden verzichtete sie auf weitere ausstellungen und konzentrierte sich auf religiöse motive. Bereits die in der kindheit entstandenen arbeiten zeugen von einer dem menschen zugewandten genuinen spiritualität. Aber in welche welt wuchs sie hinein! Ihre verweigerung einer populären, kommerziellen "karriere" erscheint nachvollziehbar. Tiefe, existenzielle nähe ist dagegen zu ahnen zu dem gefährten michael brink, der ihr nach wenigen jahren wieder entrissen wurde.

Die hier erstmals wiederveröffentlichten radierungen erschienen 1941 in der J.G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger Stuttgart.

Roswitha wingen-bitterlich starb am 10. dezember 2015 in brasilien.

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R. Gilbert-Lecomte/ M. Henry/ R. Daumal: LE GRAND JEU (1928-32)

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Eine auswahl

1924. Einige 16- und 18jährige franzosen gründen die Gruppe der Simplisten. Es geht ihnen um fragen, die sich jeder von uns stellt, bevor er in pseudo-gewißheiten zur persönlichkeit erstarrt: Was ist ich? Was ist identität? Was ist der tod? Was begrenzt der körper? Was geht über diese grenze hinaus? - Die jungen leute sind aufständische, radikal genug, ihre eigene revolte zu zerfleischen, systematisch alle gewißheiten, alle anhaltspunkte zu verweigern, um den nullpunkt der verzweiflung zu erreichen.

1925 finden sich die Simplisten in paris wieder. Hier publizieren sie ab 1928 ihre zeitschrift LE GRAND JEU. Vergeblich bemüht sich andré breton, daumal und gilbert-lecomte für die surrealisten zu gewinnen. René Daumal schreibt:

"Sehen Sie sich vor, André Breton, daß Sie später nicht in den Handbüchern zur Literaturgeschichte erscheinen, während wir dagegen, falls wir uns um irgendeine Ehre bewerben, um die werben, für die Nachwelt in die Geschichte der Katastrophen eingeschrieben zu sein."

Drei nummern von LE GRAND JEU erscheinen, die vierte scheitert am geldmangel. 1933 bricht die gruppe auseinander. Roger gilbert-lecomte stirbt 1941 an wundstarrkrampf, René daumal 1944 an tuberkulose.

Die erstausgabe dieser deutschen auswahl aus LE GRAND JEU erschien in der EDITION TIAMAT (nürnberg 1980), bekam eine gewisse bedeutung bei einigen hausbesäzzerInnen in nürnberg, wuppertal und berlin, wurde aber ansonsten nur als fußnote zum (mode-)thema surrealismus rezipiert. Irgendwann war die ausgabe vergriffen.

In manchmal visionärer, spiritueller klarheit waren diese jungen leute zerstörungen, irrwegen, aber auch möglichkeiten ihrer (unserer) zeit auf der spur. - LE GRAND JEU versteht individuelle dialektische metamorphosen als grundlage von revolution (oder revolte). Aus dem blickwinkel einer induktiven, innengeleiteten revolution nehmen diese poetisch-politologischen visionen momente heutiger ideologiekritik voraus. Von daher korrelieren die ungestümen behauptungen der jungen leute mit heterogenen ansätzen wie der DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG (horkheimer/adorno) oder den SITUATIONISTEN um guy debord.

In frankreich, sogar in englischsprachigen ländern hat eine junge avantgarde LE GRAND JEU mittlerweile neu entdeckt. Es gibt eine französische gesamtausgabe, eigene werke der akteure wurden (wieder-)veröffentlicht und ins englische übersetzt. - Und in deutschland?

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Jürgen Haug: KELLERASSEL

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"Ich möcht nur wissen, warum du immer den Außenseiter spielen willst?!" - Das bekommt jörg, geboren 1943, schon als jugendlicher von der mutter zu hören. Bereits im ersten kapitel (da ist er zwölf) ahnen wir seine homosexualität.

Im mittelpunkt steht zunächst der sozialisationsdruck, der männlichen jugendlichen in der BRD der 50er- und 60erjahre nur zwei möglichkeiten einer sexuellen identität ließ: entweder ganz und gar einzusteigen in die heterosexuelle rolle des "richtigen mannes", mit all ihren banalitäten, gemeinheiten, ihrer fast schon ritualisierten beziehungslosigkeit, ihren blöden und bösen witzen, den entsprechenden vorbildern von älteren und aus den medien, - oder aber gnadenlos in die diskriminierend gemeinte schublade des "schwuli" gesteckt zu werden.

Deutlich präsentiert uns der autor die teilweise pogromhafte gewalt etablierter rollenmuster und anderer gesellschaftlicher kriterien, zwischen denen menschen, die ihnen nicht entsprechen, bereits in der kindheit von gleichaltrigen hin- und hergetrieben werden. Einer unter erwachsenen (hierzulande, heutzutage) subtileren latenten pogromstimmung (im "freundeskreis", im arbeitsleben) sind diejenigen ausgesetzt, die "sich nicht anpassen" an soziale normen, die es wagen, "außenseiter" nicht nur zu sein, sondern auf ihrem recht beharren, zu leben, wie sie es für richtig halten (ohne andere zu beeinträchtigen).

Auch bei ich-synton schwulen männern bleibt die seit der kindheit anerzogene diskriminierung von homosexualität noch lange zeit bestehen, das grundlegende bedürfnis nach sozialer zugehörigkeit sowieso. Deshalb wird mitgemacht beim alltäglichen small talk; (hetero-)sexuelle anspielungen, empfindungen und begegnungen werden inszeniert, über schwulenwitze wird mitgelacht, frauenfeindliche sprüche sollen die eigene "männlichkeit" dokumentieren. Tödlicher, lähmender Defaitismus! – schrieb eine freundin bei einer entsprechenden stelle in mein exemplar des buches. Die angst vor sozialer ausgrenzung hat sich oft verselbständigt und führt zu anpassung auch in belanglosigkeiten. Das alles verstärkt selbstverachtung und Falsches Selbst sowie die fixierung auf den platt-sexuellen aspekt des schwulseins. Der schritt in eine schwule (oder lesbische) subkultur – die es in den 70er jahren erst ansatzweise gab – hat aspekte von flucht, von schutz ebenso wie von befreiung.

Tarnen und Täuschen ist zu jener zeit das grundprinzip schwulen lebens in der normalität; das coming out bleibt verstrickt in rhetorische versuchsballons, taktische erwägungen und lügen. Schwule anmache ist genauso banal wie heterosexuelle anmache. Nur verzweifelter und deprimierender, – und immer verbunden mit der angst vor sozialer ablehnung (und schlimmerem), sofern das gegenüber keine szenetypischen signale gibt. Und daneben immer das gequatsche der anderen, der normalen.

Das coming out ist keine einmalige entscheidung, sondern muß für jede soziale situation, oft für jeden vertrauten menschen einzeln durchgestanden werden, - jedesmal mit unterschiedlichen argumenten, empfindungen (auf beiden seiten) und unterschiedlichen gefahren, abgelehnt zu werden. 'Kellerassel' ist neben allem anderen eine sozialpsychologische studie zur kommunikation unter schwulen jungen männern (zu jener zeit), - zugleich liest sich das buch (das aus einem hörspiel entstanden ist) wie ein film, spannungsvoll, atemlos und soghaft präsent; – wie schade, daß bislang kein regisseur es entdeckt hat!

Letztlich geht es jedoch um mehr, - um die soziale, gesellschaftliche "normalität", erfahren aus dem blickwinkel des "außenseiters".

Jürgen haugs figuren haben allesamt nahezu keine individuelle lebensperspektive, sie spüren kaum intentionen in sich außer den anforderungen vorgegebener sozialer rollen und ziele entweder zu ent- oder zu widersprechen; – das ganze leben wird ihnen zur "gewohnheitssache". Sie sind "ganz normal" – auch und gerade der schwule (unfreiwillige) "außenseiter" jörg. So ein leben hat seinen preis. Es stabilisiert sich über alltägliche trägheit des herzens, unsensible grenzüberschreitung und oberflächlichkeit im umgang der menschen miteinander, über lebenslügen, selbstbetrug, rationalisierungen. Durch "normale" suchtformen (zigaretten, kino, alkohol, sex, konsum, karriere) oder illegale drogen, durch die assoziationsreflexe des small talk nur notdürftig kaschierte innere und äußere leere und beliebigkeit des alltagslebens gehören zu diesem teufelskreis der entfremdung. Weil individuelle ressourcen für situationen ohne eindeutige konsensuelle empfindungs- und verhaltensvorgaben kaum zur verfügung stehen, wird dann in reflexhafter selbstverständlichkeit gelogen. In verhängnisvoller solidarität werden verletzende, unsoziale verhaltensweisen aneinander hingenommen, mitmenschliche ansprüche senken sich zunehmend. Noch das ehrlichste ist (manchmal) eine ahnung, daß irgendwas daran nicht stimmt.

Auf grundlage des Falschen Selbst (winnicott) können nur falsche, unechte begegnungen und beziehungen entstehen. Es sind nichtbeziehungen, leer wie in theaterstücken samuel becketts, wie bilder von edward hopper. Jürgen haug verdeutlicht gestörte, unwürdige zwischenmenschliche kontakte als normalität; – und nicht selten bricht sich die hilflose sehnsucht nach authentischen begegnungen bahn in lächerlichmachen, selbsthaß und gegenseitiger verachtung. – Auf einer anderen ebene liegt pure gewalt, der in besonderem maße menschen ausgeliefert sind, die auf solidarität und hilfe ihrer mitmenschen kaum hoffen können, weil sie "anders" zu sein scheinen. Vor allem in kindheit und jugend haben entsprechende erfahrungen mit gleichaltrigen nicht selten traumatisierendes gewicht und führen im weiteren leben zu sozialem rückzug, alpträumen und depressiver grundstimmung. Das vorliegende buch macht eine derartige kontinuität nachvollziehbar.

Jürgen lothar harald haug wurde 1940 geboren. 1962 begann er, sich in der BRD als hörspielautor zu etablieren. 1975 erschien seine dokumentation 'Aufzeichnungen aus einer Wandererherberge'. (Auch sie wurde bei AUTONOMIE UND CHAOS BERLIN wiederveröffentlicht.) Das vorliegende buch erschien 1981. Trotz einiger wohlwollender, sogar begeisterter rezensionen fanden beide werke keine nachhaltige öffentliche aufmerksamkeit. – Jürgen haug starb am 2. juli 2012.

(Aus dem nachwort von mondrian v. lüttichau)

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Harald Graf v. Lüttichau: GESCHICHTE DER FAMILIE

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(Hrsg. mondrian v. lüttichau)

Dieser zentrale band der von meinem vater (1921-1999) begründeten 'Beiträge zur Familiengeschichte der Herren, Freiherren und Grafen v. Lüttichau' wird hier in 2. auflage online veröffentlicht, inhaltlich im wesentlichen unverändert, jedoch digitalisiert und in neuem lay out. Er enthält eine genealogisch strukturierte zusammenstellung von daten der namensträger ab 14. jahrhundert (nach dem kenntnisstand von 1985). Grundlage der familiengeschichte sind vom autor seit etwa 1940 erforschte und gesammelte quellen und regesten. Diese sind dokumentiert in den weiteren bänden der 'Beiträge zur Familiengeschichte..' (die eingesehen werden können in verschiedenen landes- und universitätsbibliotheken, genealogischen archiven sowie bei familienmitgliedern). Für die online-neuauflage hinzugefügt wurden etliche abbildungen sowie erläuterungen.

Genealogisch orientierte familiengeschichte bedeutet mir an sich nichts. "Verwandten" fühle ich mich nicht per se verbundener als "nichtverwandten" menschen. Gleichwohl gab es seit meiner kindheit immer wieder austausch mit meinem vater über sein lebensthema, - was ihn öfters hoffen ließ, ich könnte seine arbeit einmal fortführen oder doch bewahren.

Für mich haben derlei dokumentationen eher sinnlich-symbolische bedeutung. Sie tragen bei zum bewußtsein, mit letztlich allen menschen, mit der ganzen welt verbunden, vernetzt, verflochten zu sein, - verwurzelt zu sein in der welt. Während der arbeit an dieser neuausgabe wurde mir bewußt, wie viele menschliche schicksale sich entfaltet haben, ohne die es mich nicht gäbe, - gerade in sachsen, wo ich an der neuausgabe arbeitete: dörfer, rittergüter, zerstörungen, heiraten.. - Natürlich ist sowas keine ganz neue erkenntnis, aber sie wurde mal wieder sinnlich greifbarer für mich.

So meint die neuherausgabe der familiengeschichte keine wendung in die vergangenheit, sondern vielmehr den impuls, bewußtsein für die realität des vergangenen in der und für die gegenwart zu wecken.

Fotos zur geschichte der familie v. lüttichau finden sich in meinem flickr-account, - hier!

Hinweise zu wolff caspar v. lüttichau, dem stammvater der skandinavischen lüttichaus, und seiner herkunft aus bad düben/sachsen: Link 1 und Link 2.

GESCHICHTE DER FAMILIE
(HARALD GRAF v. LÜTTICHAU):

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Siehe auch die neue GENEALOGISCHE FAMILIENGESCHICHTE IN BENUTZERFREUNDLICHER DARSTELLUNG:
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Mondrian w. graf v. lüttichau: AUSSENSEITER-ALLÜREN. Anatomie einer kriegserklärung

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Eine gekürzte, aber ansonsten sprachlich und inhaltlich authentische fassung meiner ersten tagebücher, als 14-18jähriger. Im mittelpunkt steht die schrittweise distanzierung und abgrenzung von den eltern – nicht vorrangig in demonstrativen kampfgebärden, vielmehr als reflexionsprozeß, bei dem in zunehmendem maße das mir eigene sich herauskristallisierte. Deutlich werden im elternhaus momente von überbehütung, beziehungsleere und parentifizierung. Nachdenken, lesen und schreiben sind die ersten alternativen, aber schon in dieser zeit zeigt sich meine suche nach authentischen begegnungen als zentrale lebensbewegung. – "Außenseiter-allüren" hatte seinerzeit meine mutter mir vorgehalten: doppelt verächtlich, indem noch nichtmal mein außenseiter-sein ernstgenommen wurde.

Der untertitel meint meinen damals bewußt werdenden widerstand gegen entfremdete (verdinglichte) zwischenmenschliche beziehungen, gegen trägheit des herzens, verlogenheit und egoismus als grundlagen der "normalität" in unserer menschenwelt.

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Christa Anita Brück: SCHICKSALE HINTER SCHREIBMASCHINEN

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Christa anita brück (1899-1958?) war eine sensible junge frau mit feinem psychologischen bewußtsein, die wohl nicht ganz freiwillig im kaufmännischen bereich gearbeitet hat. Ihrem sozialen blickwinkel nach kam sie aus gutbürgerlichem elternhaus, vermutlich in ostpreußen, wo auch ihre romane spielen. Nach ihrem hier wiederveröffentlichten ersten buch (von 1930) erschienen bis 1941 noch drei selbständige veröffentlichungen; einer der romane wurde verfilmt.

'Schicksale hinter Schreibmaschinen' ist eines der ersten literarischen werke mit dem thema mobbing am arbeitsplatz. Prägnant wird gezeigt, wie  individualitäten im verdinglichten mechanismus der arbeitswelt so weit zurückgestutzt, verstümmelt werden, bis sie nur noch als menschliche karikaturen agieren können, - wobei täter  und opfer, vorgesetzte und kollegInnen in ihren idiosynkrasien, zwanghaftigkeiten, mit narzißtischen kompensationen und medikamenten- oder alkoholmißbrauch nicht zufällig einander oft sehr ähnlich sind.

Auch in der gegenüberstellung von großbürgerlichem selbstverständnis bei der 'deklassierten' protagonistin und kleinbürgerlich bestimmter arbeitswelt ist dieses buch ein dokument zur vorgeschichte des nationalsozialistischen deutschland und damit auch unserer gegenwart. Die hilflosigkeit der in ihrer etikette, in standesdünkel und moralischen zwängen verhafteten 'guten bürger' angesichts der gesellschaftlich zunehmend dominierenden kleinbürger (und damit auch ihre hilflosigkeit gegenüber den machttaktischen methoden der nazis) wird differenziert geschildert von viktor klemperer in seinem bekannten tagebuchwerk.

Darüberhinaus geht es um sexuelle nachstellung/gewalt als grunderfahrung berufstätiger frauen. Bis heute wird gnadenlose borniertheit, seelische zerrüttung und arroganz der macht bei männlichen vorgesetzten und ihr physiognomisches, ästhetisches korrelat nur selten ungeschönt und sinnlich prägnant dargestellt wie hier. Daß eine romanfigur männliche anmache weder in traditioneller weiblicher unterwerfung hinnimmt noch ihr als emanzipierte amazone begegnet, vielmehr entsprechende männchen bei aller eigenen leidvollen hilflosigkeit doch kalt beschreibt, in verachtung und ekel, widerspricht weiblichen rollenerwartungen noch immer.

Die meisten in 'Schicksale hinter Schreibmaschinen' subtil geschilderten momente von machtmißbrauch, impertinenz, psychoterror (mobbing), verlogener rhetorik, zwanghaftigkeit, aber auch angst, unterwürfigkeit, kollektivzwang und hilflosigkeit bzw. die unterschiedlichen neurotischen kompensationen und interaktionsmuster sind mir - bis in einzelne formulierungen! - vertraut aus eigener erfahrung (als betroffener oder beobachter) in etlichen branchen, noch 50 jahre später, in BRD, berlin (west wie ost) und sachsen!

Prägnant beschrieben werden alpträume, projektive angstphantasien und andere psychotraumatische symptome bei mehreren figuren sowie eine situative eskalation bis zu suizidalen empfindungen.

Ein schlaglicht auf die undurchsichtige, in manchem paradoxe gesellschaftliche situation vor dem machtantritt der nazis gibt eine klarsichtige überlegung der protagonistin: "Gewiß sind Sie überzeugt, ein nationaler Mann zu sein. Aber in Wirklichkeit propagieren Sie den Umsturz, denn der Umsturz kommt nicht aus den Gepeinigten, die ihn vollführen, er kommt aus denen, gegen die er sich richtet."

Möglicherweise sind die in diesem buch profilierten ansprüche an das soziale leben  tatsächlich anachronistisch: "So wund bin ich geschlagen, so elendig verhetzt und in meinen Erwartungen entartet, daß allein der Klang unverfälschter Herzlichkeit mich bis zur Fassungslosigkeit erschüttert." Sind wir heute überhaupt noch in der lage, unverfälschte herzlichkeit wahrzunehmen, in unserem Falschen Selbst, mit dem wir uns abdichten gegenüber einer alltäglich gewordenen zwischenmenschlichen kälte? - "Kollegialität und Anstand", wofür die protagonistin dieses buches noch offensiv eintritt, kommt meiner erfahrung nach im arbeitsleben kaum mehr vor, dafür eine sogenannte 'teamfähigkeit', die wenig mehr ist als kollektive unterordnung unter situative machtverhältnisse. Christa anita brück schreibt: "Die Wehrlosigkeit eines feigen Hasses, der aufbegehrt, solange er allein ist und Beleidigungen schluckt, um des Brotes willen, er, nicht die Abhängigkeit meiner Stellung, erniedrigte mich. Ich sehne mich mit dem ganzen Rest  meiner früheren Lauterkeit zurück nach Achtung und Vertrauen." - Mag sein, daß derlei nuancen und inhalte heutzutage nicht mehr als literaturfähig gelten. Mir allerdings scheinen sie unverzichtbar für unser menschsein.
(Aus dem nachwort von mondrian v. lüttichau)

 Im august 2015 ist bei A+C in neuausgabe erschienen christa anita brücks zweiter roman: Ein Mädchen mit Prokura.

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Diotíma: SCHULE DER LIEBE

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(Bearbeitete neuausgabe: Mondrian graf v. lüttichau)

Dieses buch ist ein wunder! Es ist gewiß das radikalste, tiefste, liebevollste und weiseste, das in deutscher sprache je zum thema leibliche liebe geschrieben wurde. Diotímas haltung ist radikal in jeder weise: Liebe sieht sie als schrankenlose, tabulose sexuelle leidenschaft und hingabe und zugleich unbedingte und kompromißlos innigste nähe zweier menschen in ihrer individualität.

Zum thema eros im zeitalter der sexuellen revolution schreibt der sexualwissenschaftler volkmar sigusch: "Doch wenn wir genauer hinsehen, entdecken wir überall, oft hinter buntscheckigen Masken versteckt, ungestillte Sehnsucht, aufgeputschte Nerven, abgespeistes Verlangen, enttäuschte Liebe, eingeredeten oder tatsächlichen Missbrauch, Versagen, Heuchelei, Geschlechtszweifel, Sexismus, Angst, Schuld, Einsamkeit und Selbstsucht. Offenbar gähnt in unserer Kultur ein Abgrund zwischen unseren Wünschen und ihrer Befriedigung. (...) Eine in sich harmonische Möglichkeit des Erotischen und des Sexuellen ist nicht einmal theoretisch zu erkennen." ('Neosexualitäten', frankfurt/m. 2005, seite 50, 52) - Genau um solche möglichkeiten aber ging es lenore frobenius-kühn, der autorin des hier wiederveröffentlichten buches.

'Schule der Liebe' erschien 1930 im Verlag Eugen Diederichs (Jena). Die neuausgabe wurde um rund 70% gekürzt. Herausgenommen wurden vor allem inhaltliche redundanzen und weitschweifige erörterungen, die vielleicht damals die funktion hatten, zensur-instanzen abzulenken. Einige zeittypische begriffe wurden durch heutzutage verständlichere ersetzt. – Die ausgabe enthält ein ausführliches nachwort des herausgebers.

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Detlev Walter Schimmelsack: GEDANKEN WERTE UNWERTE FLIEGEN LASSEN. Neue Gedichte

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"Die Texte sind voller Einsamkeit und Sehnsucht und gleichzeitig getragen von Versuch, stark und allein zu stehen und nichts mehr zu hoffen. Der Dichter beschwört in den Gedichten seine Autonomie und doch macht er sich gerade dadurch verletzlich und abhängig. Die Gedichte sind getragen von dem Gefühl der Ausgrenzung, dem Wunsch dazuzugehören und gleichzeitig der Hoffnung, auch im anders zu sein Anerkennung zu finden. (…)
Es sind Gedichte zwischen Ausgrenzung und Einengung. Zwischen der Sehnsucht nach menschlicher Nähe und dem Wunsch, von dieser Nähe unabhängig zu sein. Zwischen Hoffnung und Selbstaufgabe. Vom Verirren und der Hoffnung heimzukehren. Gedichte, die berühren und verstören."(Aus dem Nachwort von Dr. Birk Eggers)

Diese veröffentlichung wurde herausgegeben von der SÄCHSISCHEN GESELLSCHAFT FÜR SOZIALE PSYCHIATRIE (SGSP e.V.)

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Genealogische Familiengeschichte in benutzerfreundlicher Gliederung

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Herausgeber: Mondrian graf v. lüttichau

Diese übersichtliche neuordnung der genealogischen familiengeschichte LÜTTICHAU möchte es familienmitgliedern erleichtern, sich selbst im zusammenhang der vorfahren wiederzufinden. Sie versteht sich als vorschlag, als arbeitsgrundlage, die von interessierten familienmitgliedern genutzt werden kann zur darstellung des genealogischen zusammenhangs ihrer "engeren" familiengeschichte in gegenwart und zukunft.

Datenmäßige grundlage ist die bei A+C in 2. auflage veröffentlichte 'Geschichte der Familie'  harald graf v. lüttichaus.

In allen mir erinnerlichen äußerungen meines vaters harald wurde für mich deutlich, daß im mittelpunkt seiner genealogischen lebensarbeit "die familie"  stand. In einem vorwort betont er: "Es zeigt sich, daß ein oft recht inniges Geflecht von Verbindungen und Verwandtschaften sichtbar wird."  Sein einstehen für "die familie"  meinte im kern einen verbund von menschen, zu denen man sich gehörig fühlen kann, die in schwierigen situationen zu einem stehen. Um dieses wohl zeitlose bedürfnis von uns allen zu verwirklichen, kann auch die orientierung am gemeinsamen familiennamen ein ansatz sein, ebenso wie eine vereinsmitgliedschaft oder wie heute FACEBOOK und andere möglichkeiten des social networking.

Historisch orientierte "ahnenforschung"  ist also nur ein aspekt von familiengeschichte. Grundlegend geht es um bewußtheit für das rhizomatische geflecht menschlicher zusammengehörigkeit, in vergangenheit, gegenwart und zukunft. Ein familiäres netz, wie es auch durch die vorliegende darstellung sinnlich greifbarer werden soll, könnte auch in unserer zeit in individuellen kontakten zum leben erwachen, - ohne adelsdünkel und ohne familiären normendruck.

Nicht zuletzt mit dieser intention ist diese pragmatisch orientierte genealogische darstellung entstanden. Sie enthält übersichten zu allen linien, ästen, zweigen und häusern der deutschen, der dänischen, norwegischen und italienischen familie. Separate auflistungen aller namensträger von der ersten bis zur 18. oder 19. generation schließen sich an.

Der zweig der farbigen (coloured) lüttichaus in namibia (früher die deutsche kolonie deutsch-südwestafrika) fehlt leider, da hierzu noch  keine vorarbeiten geleistet wurden. Aber die namibischen lüttichaus existieren nach wie vor und wurden auch schon angesprochen! Wer von ihnen zum sammeln von material beitragen kann, ist herzlich eingeladen!  

Übrigens: fotos zur geschichte der familie finden sich HIER!

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Gabi Lummas: WER BIN ICH? oder DAS UNGLAUBLICHE

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Gabi lummas hat Rituelle Gewalt überlebt - schrecklichste psychische und körperliche traumatisierungen in der kindheit. Sämtliche erinnerungen daran waren bei ihr über viele jahre vollständig abgespalten. Als einzige botschaft von innen fungierten zunächst schlimme selbstverletzungen seit dem neunten lebensjahr. Später entstanden eine fülle von tonfiguren, die auf hohem künstlerischem niveau inneres leid nach außen zu vermitteln suchten, Aus tagebüchern entstand 1999 ein erstes, recht bekannt gewordenes buch: 'Verschlossene Seele'.

Zeitweise unterstützt durch traumatherapie, begibt gabi lummas sich in den folgenden jahren auf den weg nach innen, - sie sucht nach ihrer verschlossenen seele. Tagebuchauszüge aus den jahren 1998-2008, träume und passagen aus der traumatherapie sowie abbildungen von tonfiguren sind in dieser neuen veröffentlichung zusammengefaßt. Vielleicht noch nie wurde auch nur annähernd differenziert eine derartige selbstentwicklung dokumentiert, - eine von verzweiflung, resignation und wütendem hadern mit dem schicksal (und mit Gott) unterbrochene zunehmende achtsamkeit für eigene abgespaltene erinnerungen, empfindungen und botschaften, - solidarität für die inneren kinder, die grauenhaftes überleben mußten.

Wohl kein außenstehender ahnt, wie qualvoll für einen traumaüberlebenden das oft jahrelange gefangensein in den eigenen traumafolgen ist, - tag für tag ängste, unverständliche bilder und empfindungen, verwirrung, hilfloses nachdenken - und zumeist keine begründung dafür. Niemand, mit dem man darüber sprechen kann. Immer wieder die verzagte überlegung: Und wenn ich doch verrückt bin und mir alles nur einbilde? Bin ich eine simulantin? -

Mit unbegreiflicher lebenskraft und viel reflexiver intelligenz tastet gabi lummas sich durchs unterholz ihrer traumatischen vergangenheit, - mutterseelenallein, wie sie es zeitlebens nicht anders kannte. Ängste, gedanken und verzweiflung kreisen im kopf, nur in winzigen schrittchen, mit unzähligen wiederholungen und konkretisierungen findet sie heraus aus dem labyrinth der dissoziativen abspaltungen. Leiten läßt sie sich von der zunehmenden gewißheit, daß sie - als kind! - das schreckliche definitiv überlebt hat. Die entsprechenden lebenskräfte sind also in ihr bewahrt; an sie gilt es anzuknüpfen. Trotz der zeitweise fruchtbaren traumatherapie bleibt es im wesentlichen ein einsamer, gleichwohl selbstbestimmter heilungsweg, auf dem gabi lummas sich bis heute befindet. Traumakonfrontation und integation entwickeln sich dabei rigoros nach maßgabe innerer kräfte, qualvoll langsam, oft an der grenze zur desintegration, andererseits als bedingungslos authentischer nachreifungsprozeß. Bedeutsame voraussetzung dazu war die schwere, dann aber kompromißlose entscheidung gegen die opferrolle und für eigene selbstverantwortlichkeit: der wille, zugang zu finden zur verschlossenen seele.

(Nachwort mondrian v. lüttichau)

Achtung Triggerwarnung!

Das buch enthält durchgängig deutliche hinweise auf sexuelle gewalt, folter und rituelle gewalt!

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Giuliano Asti: BISMILLEHNARIAN. Reise und Gedicht

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Aus dem Italienischen übersetzt vom Autor

Uta Kühn schreibt im nachwort über giuliano asti (geboren 1937 in mailand): "Ich lernte ihn als einen einfachen und bescheidenen Menschen kennen, der das wenige was er hatte mit allen teilte. Und als einen Mann, mit dem ich stundenlange philosophische Gespräche führen konnte voller Spannung, Harmonie und Staunen. Diese Art von Gesprächen und intensiven Begegnungen mit den Menschen, die er unterwegs traf waren für ihn ein immerwährendes lebendiges Wasser, das er trank und weitergab."

Die erstausgabe dieser deutschsprachigen gedichte erschien 1992 als typoskript in fotokopierten einzelexemplaren. Giuliano asti gab sie uta kühn mit der bitte, seine gedichte irgendwann in deutschland zu veröffentlichen. Eine italienische ausgabe erschien 1999 beim verlag Gabrieli Editore Roma. Zwei jahre später starb der autor.

Das nachwort ist deutsch und italienisch. - Mit dieser online-ausgabe verband sich unser wunsch, auch in italien an giuliano asti zu erinnern! - Erst später fanden wir heraus, daß in italien auch noch zwei prosa-bände von giuliano asti erschienen sind:

In LA VIA DELL'OREB. Viaggio al monte Sinai (1988) erzählt der autor von reisen in die wüstenwelt der beduinen, vom roten meer, einem aufenthalt in einem kloster, konfrontationen mit der israelischen armee: "L'incontro con il mondo beduino, col Mar Rosso e l'aspra realtà del deserto, parallelamente a un breve soggiorno nel monastero di Santa Caterina, insieme alle più svariate vicissitudini di viaggio, nonché a continue peripezie coi rappresentanti dell'esercito israeliano, animano e rinnovano quindi senza sosta il lungo racconto no alla sua conclusione, offrendo spesso materia su cui meditare e da comunicare agli altri. Il richiamarsi spesso ad avvenimenti e personaggi che abbiano caratterizzata la storia del Sinai fa ovviamente parte integrante e basilare di tutta l'opera."

Auch DELL'ALBERO E LA PIETRA - Viaggio in medioriente (2009) berichtet von reisen zwischen kulturen und religionen: katholische welt und hippies in italien, jüdische und arabische welt in israel: "Qui si cimenta con uno stile di vita comunitaria agraria organizzata su vasta scala, dove è stato abolito il miraggio dell'opulenza e l'uso del denaro a livello individuale. L'avvicinamento con candore voltairiano, ad aspetti dell'Ebraismo, dell'Islam e del Cristianesimo danno corpo al seguito della storia, toccando temi a tutt'oggi molto sentiti come quello della guerra e della pace, della convivenza tra Ebrei e Palestinesi su di una stessa terra, nonché della reciproca accettazione tra le tre religioni che fanno capo a Gerusalemme."

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Friedrich v. Raumer: MARIE, SPREU UND FRIEDRICH II. IM BERLINER VORMÄRZ

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(Hrsg. Mondrian v.Lüttichau)

Den berliner historiker und politiker friedrich v. raumer (1781-1873) gilt es wiederzuentdecken als achtsamen und tiefgründig kritischer humanisten, der manche problematischen momente heutigen bewußtseins erspürt hat: ideologisierung, verdinglichung, überwindung der geist/körper-, denken/fühlen-dichotomie und relativierung der christlichen dogmatik.

Besonders deutlich wird raumers ansatzweise durchaus dialektische verbindung von 'preußischen sekundärtugenden' und romantischer idealisierung, gelassenem gottvertrauen und aufklärerischem, demokratischem engagement in seiner hier neu herausgegebenen aphorismensammlung 'Spreu', die der autor ursprünglich im jahr 1848 veröffentlichte - wenn auch anonym!  In ihr wird der schritt für schritt ambivalente übergang in die "entzauberte welt" (max weber) im 19. jahrhundert als individueller bewußtseinsprozeß sinnlich nachvollziehbar. Selten läßt sich historischer bedeutungswandel von begriffen und phänomenen ähnlich konkret beobachten. Und schon bei raumer wird deutlich, wie der idealistisch-humanistische impuls eines aufklärerischen fortschritts die verdinglichende abgrenzung von allem "nichtidentischen" (adorno) impliziert.

Durch etliche initiativen setzte raumer sich dafür ein, breiteren bevölkerungskreisen (auch frauen!) zugang zu fachlicher bildung zu ermöglichen. Seine kritischen meinungsäußerungen brachten ihn häufig in konflikt mit dem monarchistischen establishment; auch während der berliner märzrevolution stand er (als nationalliberaler) auf seiten der fortschrittlichen kräfte.

Friedrich v. raumer war ein enger freund ida v.lüttichaus; ihre briefe an ihn wurden im ergänzungsband zu 'Wahrheit der Seele - Ida v. Lüttichau' (bei A+C) erstmalig veröffentlicht.

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Kurt Münzer: BRUDER BÄR. Ausgewählte Novellen und Feuilletons

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(Nachwort Michael Helming)

Es fröstelt stets ein wenig, selbst im Sonnenschein. Eine seltsame Unsicherheit liegt über allem, eine lichtschwache Zeitenwende. Die Dinge können noch so schillernd beschrieben sein, etwas in ihnen ist ausgewaschen, fahl, bleich. Wo Brückenpfeiler sich aus blassem Dunst lösen, da erscheint eine Stadt. Tinte kann ebenso blass sein, eine Kerzenflamme, ganze Landschaften und die Milchstraße. In dieses Universum schreibt Kurt Münzer mit Herzblut eine Menschheit hinein, die den Dingen gleicht; Annäherung entgleitet ihr zur Anpassung, gegen die sie sich einerseits sträubt und an der sie andererseits zerbricht. Das sind keine Automaten, sondern Charaktere, in eine sich rasch verändernde Zeit geworfen, und die damit einhergehende neue Ordnung produziert Chaos. Als Personen funktionieren sie, oft gegen ihren Willen oder ohne ihr Funktionieren auch nur zu ahnen. Dann suchen sie plötzlich den Ausbruch, eine Korrektur, die Tat. Andere hingegen haben sich dem, was sie als Schicksal begreifen wollen längst schon ergeben: "Der wilde Indianer wischte sich Schminke und Tätowierung ab und wurde ein blasser, armer, stiller Mensch, der vielleicht glückliche Jugend, schuldlose Sünde, unfreiwillige Abenteuer seines Lebens überdachte.“ Manchmal beschattet ein brauner Hut ein fahles Gesicht. Ganz gleich jedoch, ob milde, alte Dame, feuchtwangiges Mädchen, schüchterner, ängstlicher Jüngling oder Herr, den Lebenden fehlt es an Farbe, denn Münzer setzt die Pigmente geschickt außerhalb seiner Figuren.  (Aus dem Nachwort)

Diese sammlung wurde für die vorliegende publikation zusammengestellt. - Bei A+C wiederveröffentlicht wurden auch kurt münzers romane 'Jude ans Kreuz!', 'Phantom', 'Esther Berg' und 'Menschen vom Schlesischen Bahnhof'.

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Heidi schmidt: DAS AKROBATENBUCH

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(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Heidi schmidt war eine originäre kreative stimme der feministischen kunst & literatur in der BRD. 1974/5 erschienen von ihr drei schmale bücher mit prosa, 1979 der hier wiederveröffentlichte band: szenen einer lebensgeschichte in aquarellen und zeichnungen.  

Heidi ging es darum, rollennormen und sozialisationsgrenzen, denen frauen unterworfen sind, im wirklichen leben sinnlich-emotional zu überschreiten, - selbstbestimmt erfahrungen zu machen, diese selbstbestimmt zu interpretieren und zu beschreiben. Dazu gehörte die zunehmende bewußtheit um eigene seelische verwundungen und entfremdungsformen, aber auch die abgrenzung von damals vorherrschenden ideologemen: "man sagt guck mal da kommt das politgroupie es ist noch nicht entschieden wer links ist und wer nicht ich bin nicht in der lage trennungen zu akzeptieren".

Heidi hatte bei all ihren individuellen nöten mehr autonomie, mehr revolutionäre lebendigkeit als viele der '68er-ideologInnen: "weil wir lügen sind wir unverständlich weil ein missverhältnis zwischen unseren ansprüchen von uns und uns als person besteht gibt es kompliziertheiten gibt es etwas zu verschweigen etwas 'uninteressantes' 'das private ist nicht so wichtig bei der politischen arbeit' aber ich kann doch nicht trennen ich will nicht trennen das würde mir den kopf zerreissen".

Die entfremdung im sozialen alltag und innerhalb der gesellschaftlichen strukturen hat seither zugenommen. Andererseits sind neue widerstandsformen entstanden, auch das bewußtsein über geschlechtsrollen und instrumentelle vernunft scheint im alltag angekommen zu sein. Heidi schmidts sinnlich-konkret dargestellte schrittweise bewußtwerdung der eigenen verinnerlichten entfremdung und deren korrespondenz mit der sozialen "normalität" hat an aktualität nicht verloren. Heidi war radikal - wenn auch kaum im sinne der damaligen linken gruppennormen. Ihre arbeiten kamen wohl 30 jahre zu früh.

Niemand scheint zu wissen, was aus heidi schmidt geworden ist. - - Ich mochte nicht hinnehmen, daß diese künstlerin und autorin ganz vergessen wird!

(Mit einem bibliografischen nachwort.)

Heidi schidts textbücher wurden im jahr 2019 bei A+C wiederveröffentlicht (unter dem gesamttitel "Das wahrnehmen der schwingungen und der buntheit  zwischen den geschehnissen macht das leben voll" - hier!

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Petra Bern: LISA UND LUDWIG. Novelle einer Monumentophilie

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Prägnant wird die gnadenlose soziale isoliertheit einer ohne zweifel seelisch tiefgreifend verwundeten jungen frau gezeigt, die sich in herzzerreißender konsequenz lossagt aus der gemeinschaft der lebenden menschen.

(Erstveröffentlichung 1994 - unter dem namen petra haase - in: 'VIELLEICHT blickte ich gern in die Welt. Jugendtexte zur Gegenwart.'
Hrsg. von der Jürgen Ponto-Stiftung Frankfurt/M. und dem Literaturbüro Leipzig e.V.)

Siehe auch von Petra Bern: ESCAPICTORA (2018)

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DIE FOTOALBEN VON WALLY FLEISCHER AUS NEUKÖLLN

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(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Drei fotoalben, gefunden in einem westberliner trödel - unspektakuläre zeugnisse einer frau, die "gar nichts besonderes gemacht hat", aber sie hat ihr eigenes leben gelebt, schritt für schritt durch untiefen hindurch.. und ist ohne zweifel bis zuletzt sie selbst geblieben! Das ist keineswegs selbstverständlich, und es verdient achtung. Zeugnisse eines solchen lebens verdienen, bewahrt zu bleiben. Darum diese auszugsweise dokumentation der fotoalben von wally bahr, geborene fleischer.

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Petra Nürnberger: MEINE FREUNDIN PAULA N. – Wie es weiterging. Leben voller Hoffnung

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Petra nürnberger ist überlebende von schwersten psychischen traumatisierungen in der kindheit. Neben anderen traumafolgeschädigungen entstand bei ihr eine dissoziative identitätsstörung (DIS, umgangssprachlich "multiple persönlichkeit"). Ursprünglich 36 anteile (persönlichkeiten) mußten sich in der kindheit abspalten, um die unterschiedlichsten traumaerfahrungen aushalten zu können bzw. den anforderungen des alltags gerecht zu werden.

In einer früheren veröffentlichung (2005) hatten die persönlichkeiten der gruppe nürnberger von sich selbst und den ersten jahren der traumatherapeutischen aufarbeitung berichtet. Jetzt geht um die möglicherweise abschließende phase der therapie. Im mittelpunkt stand die zunächst noch recht labile 'innenarchitektur' des multiplen systems, nicht zuletzt die solidarische und gleichberechtigte kooperation der persönlichkeiten miteinander – orientiert am leben hier und heute mit all seinen 'ganz normalen' konflikten.

Petra nürnberger ist inzwischen mit großem engagement wieder berufstätig, die traumatische kindheit ist vergangenheit geworden. Die weiterhin existierenden persönlichkeiten leben und arbeiten gleichberechtigt hand in hand; - für die gruppe nürnberger gilt ohne zweifel, daß pures "überleben" zu "leben" geworden ist!

Dieser lebens- und therapiebericht kann betroffenen mut machen und hoffnung geben, daß der schwere, von rückschlägen gesäumte weg der therapeutischen aufarbeitung, der nachreifung, des heilewachsens sich lohnt, - daß auch für überlebende so schrecklicher kindheitserfahrungen ein einigermaßen "normaler", selbstbestimmter alltag mit freude, erfolg, bestätigung und lösbaren konflikten möglich werden kann! - Außenstehenden ermöglicht er den einblick in alltagssituationen von menschen mit "multipler persönlichkeit", von denen mehr unter uns leben, als wir wohl ahnen.

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Adelheid Reinbold: RUSSISCHE SCENEN / IRRWISCH-FRITZE

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Zwei Novellen

(Herausgeben von mondrian v. lüttichau)

Zu unrecht völlig in vergessenheit geraten war die junge schriftstellerin adelheid reinbold (1800-1839), eine eigenwillige literarische protagonistin der ersten deutschen frauenbewegung. Sie stammte aus hannover, arbeitete vorrangig in dresden und war befreundet mit dorothea und ludwig tieck, friedrich v. raumer und ida v. lüttichau. Zwei noch immer lebensvolle, tiefgründige und mitreißende novellen werden hier wiederveröffentlicht, 170 jahre nach ihrem tod. Dazu ein biobibliografisches vorwort (mondrian v. lüttichau) sowie ein zeitgenössischer nachruf (ludwig tieck).

Siehe auch die 2015 bei A+C wiederveröffentlichte erste buchveröffentlichung adelheid reinbolds: 'Novellen und Erzählungen 1836'.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: TRAUER LIEBE UNENDLICHKEIT

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(3. auflage 2013)

Enthält vorrangig tagebuchauszüge, briefe und buch-rezensionen aus den jahren 1975-80. In dieser zeit wurde mir bewußt, daß familienleben wohl nicht meine lebensperspektive ist. Die gemeinsame zeit mit gise ging zuende; durch die mitarbeit beim 'LITERARISCHEN INFORMATIONSZENTRUM ULCUS MOLLE' (von biby wintjes in bottrop) und bei der neugegründeten partei DIE GRÜNEN konnte ich lernen, für soziale, gesellschaftliche möglichkeiten einzutreten. – Das buch dokumentiert erste versuche, das mir eigene in der erwachsenenwelt zu entfalten.

Teil 1: Briefe über bewußtheit, spontaneität und erfahrung (1975-77)
Teil 2: Abschied von gise (Enthält u.a. briefe von karin struck im zusammenhang mit deren roman 'Lieben')
Teil 3: Erinnerung an HAP grieshaber und margarete hannsmann (Briefe 1970-2000)
Teil 4: Aus briefen an hans imhoff (1977-81)

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Kurt Münzer: JUDE ANS KREUZ !

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(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Kurt münzer (1879-1944) war ein origineller expressionistischer schriftsteller, dessen werke uns soziales und seelisches leben in deutschland zwischen 1910 und 1933 in besonderer weise nahebringen. Seine romane und novellen erschienen seinerzeit in hohen auflagen; sie provozierten jedoch leserschaft wie literaturkritiker durch ihre themen, die zutagetretende haltung wie durch die emotional überhöhte darstellung. Der autor galt vielen als "skandaldichter", seine bücher wurden nicht selten abgetan als "unterhaltungsliteratur".

Von unterschiedlichen blickwinkeln nähert sich der autor in romanen und erzählungen seinen lebensthemen: der unvereinbarkeit von kunst und leben, dem wesen des judentums angesichts des zunehmenden antisemitismus, dem leid der entfremdeten menschen unserer zeit, der realität pathologischer mutter-kind-bindungen und seiner eigenen sehnsucht nach authentischen begegnungen und beziehungen, der ambivalenten lebendigkeit der großen städte. (Auch als porträtist der stadt BERLIN ist er wiederzuentdecken!)

Der roman 'JUDE ANS KREUZ' erschien 1928. Er enthält eine tiefgründige poetisch-literarische auseinandersetzung dieses jüdischen autors mit dem sinn des jüdischseins - angesichts der zunehmenden antisemitischen pogromstimmung im deutschland der 20er jahre. Dabei erinnert die darstellung an jesus christus, den juden, und daran, daß die botschaft der liebe zwischen den menschen zur jüdischen spiritualität gehört.

'JUDE ANS KREUZ' wird hier erstmals wiederveröffentlicht, mit einem ausführlichen biobibliografischen nachwort des herausgebers sowie einem anhang (kurt münzer zum wesen des judentums; bibliografie).

Als originalausgabe ist bei A+C eine auswahl von novellen und feuilletons von kurt münzer erschienen: 'Bruder Bär', als wiederveröffentlichungen der berlln-roman 'Menschen am Schlesischen Bahnhof' sowie die romane 'Phantom' und 'Esther Berg'.

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DIE BUCHENWALD-BAHN

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(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Im frühjahr 1943 mußten gefangene des Konzentrationslagers Buchenwald innerhalb von nur drei monaten eine 10 km lange eisenbahnlinie zwischen weimar und Buchenwald bauen. Zunächst diente sie der versorgung des rüstungswerks. Seit anfang 1944 wurden etwa hunderttausend häftlinge in zum teil offenen güterwaggons auf diesen gleisen transportiert. Aus ganz europa wurden jungen und männer ins KZ Buchenwald und von dort aus zur zwangsarbeit in eines der außenlager gebracht. Vernichtungstransporte mit kindern und kranken häftlingen fuhren von hier nach Auschwitz, wo sie ermordet wurden. Als die nationalsozialisten im januar und februar 1945 die lager im osten räumten, gingen massentransporte nach Buchenwald. Viele der häftlinge waren bei der ankunft bereits tot oder starben kurz darauf.

2007 wurde auf den letzten 3,5 km der trasse ein gedenkweg angelegt, auf den vor ort bislang noch kaum hingewiesen wird. Im mai 2011 habe ich ihn bei einem besuch in weimar zufällig entdeckt und fotos gemacht.

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VOR DER ZERSTÖRUNG DER BILDER - Felix, ein maler im internat

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(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Der 10-12jährige felix war Der Maler in der internatskommune, von der in 'WIR INTERNATLER' berichtet wird. Seine bilder waren botschaften aus einer tiefe, an der er wohl niemanden teilhaben ließ. Sein weggang vom internat bedeutete die zerstörung der bilder, denn in die außenwelt konnte oder wollte er diese kreativität nicht mitnehmen.

Bei felix geht es um innere bilder, um rhythmen und muster des lebens, um kreisläufe und verflechtungen, es geht um begegnung und gemeinschaft und monadische beziehungslosigkeit.. - es geht durchaus um unsere welt.

Sensibilität, kreativität und phantasie jenseits der wörter, im unvermittelten gewahrwerden des lebens, gehört natürlicherweise zum menschen. In der erwachsenenwelt bleibt kaum mehr etwas davon übrig. Die (inneren) bilder werden zerstört - und wir zerstören sie allzuleicht selbst, und nennen das "erwachsenwerden". Ersetzen sie durch begriffe, definitionen - und die bilder von konsumindustrie und werbung.

In den allermeisten in der internatskommune entstandenen bildern und zeichnungen ist etwas von jener unmittelbaren wahrheit des lebens, jenseits der wörter, zu spüren. Felix war jedoch der einzige, der über zwei jahre lang momente seiner empfindung für die welt konsequent umgesetzt hat. Wenn er auch kein künstler "geworden ist", - als 10- bis 12jähriger war er es zweifellos.

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Uta Kühn: SURAMDILILS GEFOLGE UND ANDERE GESCHICHTEN VOM LEBEN

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Uta über sich:

Ein Mensch eine Frau auf dem Weg, auf der Suche, ständig lernend und gelerntes weitergebend. Literatur und Kunst sind für mich vor allem Kommunikation durch alle Zeiten. Ich glaube daran dass sie sich wie Schneebälle multiplizieren können und unsere Welt ein wenig lichter machen. Genau wie mit Liebe und Können gebackene Brötchen oder gut gebaute Tische und ein gutes Gespräch. Für mich finden sie Ausdruck im Tanz, der Literatur und in gemalten Bildern, aber auch beim Kochen und im Gespräch mit einem Kind. Alles ist offen.

Siehe auch im hauptmenü die galerie INDISCHE WEGE - HERZWEGE sowie bei den büchern den von uta herausgegebenen gedichtband von GIULIANO ASTI.

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Friedrich Berg: DAS MÄDCHEN FLEUR

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Diese erschütternde romanhafte darstellung von der schleichenden, alltäglichen machtübernahme durch die NS-bürokraten, nicht zuletzt als machtübernahme in den köpfen der bürger, kam 1948 in berlin heraus, - aber sowas wollte damals niemand lesen.

Aus dem blickwinkel einer jungen jüdischen rechtsanwältin wird nachvollziehbar, wie die schlinge sich fast unmerklich zuzog.. - Dabei wollen die menschen nur leben, ganz alltäglich und "normal", - und bei jedem ruck der schlinge, bei jedem schlag ducken sie sich ein stückchen mehr, wie kaninchen oder schnecken, igel oder schildkröten: synchron mit den angriffen, - ohne umsicht.
Fleurs familiärer hintergrund ist das damalige akademische bildungsbürgertum; so erinnert manches an die bekannten aufzeichnungen victor klemperers.

Das buch wird hier erstmalig wiederveröffentlicht. Mit einem vorwort des herausgebers (2009).

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Claudia Beate Schill: MENSCHEN IN BEWEGUNG

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Ein im jahr 2010 entstandener zyklus von federzeichnungen der lyrikerin zeigt uns geradezu archetypische momente von lebenszugewandter menschlichkeit. Es sind bilder von meditativer durchsichtigkeit, bestimmt von tiefer menschenliebe und achtsamkeit.

Claudia schreibt in ihrem vorwort: "Alle Menschen bewegen sich aufeinander zu, voneinander fort oder treten im Zweifelsfalle auf der Stelle, ob sie das nun wollen oder auch nicht. Sich in Bewegung befindliche Menschen sind wie ein Wunder, was sie selbst kaum oder auch gar nicht wahrnehmen. Alles, was Odem hat, atmet, lebt, ist aufeinander angewiesen oder tauscht sich geistig oder finanziell aus. So verkörpert jeder einzelne Mensch seine eigene Welt, die mit ihm be­ginnt und aufhört. Weltgeschichten werden geboren und begraben. (...) Menschen wirklich, genau und nicht oberflächlich wahrzunehmen, ist mit der Feder einfacher auszuführen als mit irgendeinem technischen Apparat. Menschen in Bewegung sind genauso faszinierend wie Blumen, Vögel, Tiere oder Engel."

Siehe bei A+C auch den gedichtband 'IMMER WERDEN WIR FREMDLINGE SEIN'.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: WIR INTERNATLER

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Für die beiden letzten schuljahre bis zum abitur war ich im internat in heidelberg. Dort entstand rund um mein zimmer ein informelles begegnungszentrum von vorrangig jüngeren internatlern. Gespräche, musikhören, essen, malen und einfach beieinander sein waren die von der internatsleitung akzeptierten aspekte unserer "kommune" (wie das ganze genannt wurde von den beteiligten), schwule begegnungen und (moderater) alkoholkonsum die nichtakzeptierten. – Im mittelpunkt der tagebuchauszüge steht die (in ihrer vielschichtigkeit von erwachsenen meist nicht wahrgenommene) lebendigkeit 11-14jähriger jungen, aber auch die schöne und schwierige liebesbeziehung zwischen jim & mir. In diesen beiden jahren habe ich erkannt, daß männliche menschen keineswegs von natur aus unsensibler sind als weibliche; - die typische seelische abstumpfung vielleicht der meisten erwachsenen männer hat eher mit geschlechtsspezifischer sozialisation und entsprechenden umständen im arbeitsleben zu tun. Deutlich wird in den tagebüchern aber auch, wie schlimm es für die allermeisten internatler ist, in die internatserziehung abgeschoben zu werden von eltern, die offenbar wichtigeres zu tun haben..

Mondrian w. graf v. lüttichau: "SCHWEINISCH WIRD KRITISCH UND PHYSISCH!"

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Unter den gleichaltrigen im gymnasium war ich ein außenseiter aus gründen, die ich erst viel später verstanden habe. Ich suchte – ja, was? – und fand etwas davon im kontakt mit gassenkindern (das ist schwäbisch und meint kinder, die ihre freizeit relativ selbstbestimmt 'draußen' verbringen können, ohne daß sie deshalb straßenkinder im üblichen sinn wären.) – In diesem buch versuche ich etwas von der ganz eigenen lebendigkeit zu vermitteln, die bei kindern zwischen 8 und 12 lebt (der sogenannten "vorpubertät"), eine zeit, in der erwachsene ihrem seelenleben oft besonders wenig aufmerksamkeit schenken. Bei den kindern dagegen eine zeit hoher sozialer offenheit und achtsamkeit, in der sich vieles entscheidet. Bei einigen der im buch vorkommenden kinder wird seelisches leid aufgrund von dysfunktionalen elternhausbedingungen deutlich. Im mittelpunkt stehen jedoch individuelle ressourcen der kinder, die sich im allgemeinen an der erwachsenenwelt vorbei entfaltet haben.. soweit es ging. –

Im anhang eine sammlung von regeln für's gummihupfen (gummitwist); diese wurden seinerzeit nur mündlich weitergegeben unter den kindern.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: ALLTAG MIT TINA

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Bettina ist kognitiv beeinträchtigt ("geistigbehindert"). Das buch berichtet von unserer liebesbeziehung über drei jahre. Es wird deutlich, daß auch derart schwer beeinträchtigte menschen gleichberechtigte, partnerschaftliche freundschaften, sogar liebesbeziehungen leben können, sofern ihre kognitiven und seelischen möglichkeiten als rahmen der begegnung geachtet werden. Ihnen angemessene entwicklungsbedingungen in der kindheit vorausgesetzt (und dieses glück hatte tina!), werden auch menschen mit schweren kognitiven beeinträchtigungen "erwachsen", sie entwickeln lebensreife und beziehungsfähigkeit (einschließlich erotisch-sexueller entfaltung).

Auf grundlage der erfahrungen in der beziehung mit bettina kann ich die sozialisationsbedingungen wohl der meisten "geistigbehinderten" menschen (auch hierzulande) nur als verbrechen gegen die menschlichen grundrechte sehen.

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Jürgen Haug: AUFZEICHNUNGEN AUS EINER WANDERER-HERBERGE

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Diese 1975 erschienene und hier erstmalig wiederveröffentlichte erzählende dokumentation bietet eine bis heute seltene gelegenheit, selbstempfinden und selbstdarstellung von "pennern", "berbern", "landstreichern" – wie immer wir sie, politisch korrekt oder nicht, nennen wollen, in jedemfall: dauerhaft obdachloser menschen (männer) anhand ihrer mündlichen äußerungen ahnend nachzuvollziehen, – ihre argumentationsmuster, rationalisierungen und bekenntnisse, – um menschen mit solchem schicksal auf diese weise etwas näherzukommen.

In den szenen werden regressive momente deutlich, symptome von psychotraumatisierungen (auch als NS-opfer), kognitive beeinträchtigungen, psychosen, depression, delirium tremens und das ebenfalls alkoholbedingte korsakow-syndrom; kompensation von schlimmen erfahrungen, leid, wut, verbitterung, menschenscheu; selbstunterdrückung und unterwürfigkeit, projizierte selbstverachtung und menschenverachtende, rassistisch-nazistische und sadistische impulse, schwulenhaß, abgestumpftheit, hilflose versuche, sich abzugrenzen, zu profilieren und ein mindestmaß an selbstachtung und identität zu bewahren; verfestigte soziale rollen und inszenierungen, zugehörigkeitsgefühle, feindbilder, loyalitätsreflexe; daneben aber auch selten offenbarte rudimente innerer werte, guter erinnerungen – und verschämte, vorsichtige momente mitmenschlicher solidarität. In aller kumpanei schwingt ein moment von verachtung (und selbstverachtung) mit, aber andersrum genauso.

Jürgen haug berichtet von all dem empathisch und doch nüchtern, ohne voyeuristischen oder diskriminierenden unterton.

Deutlich wird bei manchen männern eine grundlegende getriebenheit, rastlosigkeit und wurzellosigkeit, die immer wieder zum abbruch einer möglichen perspektive geführt haben dürfte. Nicht selten auch flucht und scheinbarer neuanfang als hauptsächliches problemlösungsmuster; manchmal verbunden mit der sehnsucht nach regressivem rückzug aus der welt, die durch die paternalistische versorgung in der herberge teilweise im sinne einer hospitalisierung befriedigt wird. Bei anderen jedoch ist zu ahnen, daß die nichtseßhaftigkeit, das unabhängige herumziehen genuiner ausdruck ihrer individuellen entfaltung geworden ist: selbstbestimmung, abenteuer (in der allzu stark durchreglementierten sozialen umwelt).

Jürgen haug (geboren 1940) begann 1962, sich in der BRD als hörspielautor zu etablieren. Die 'Aufzeichnungen aus einer Wandererherberge' basieren auf erfahrungen, die der autor während seines zivildienstes als wehrdienstverweigerer in einer solchen institution sammeln konnte.
Jürgen haug starb am 2. juli 2012.

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Daniel Rudman: "HALT MICH BIS ZUM MORGEN - !"

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(Übersetzung und nachwort: wieland speck)

Fast vergessen ist die kometenhaft wieder verschwundene westdeutsche männerbewegung in den 70er jahren des letzten jahrhunderts. Dieses theaterstück (oder hörspiel) erschien (auf deutsch) erstmalig 1976 in westberlin und findet sich nichtmal in den beständen der Deutschen Nationalbibliothek.

Die beiden charaktere PENIS und SELBST versuchen in einem hilflos-wütend-verzweifelten gespräch, ihre gegenseitige entfremdung zu begreifen und aufzulösen. – Unzulängliches "funktionieren" im rahmen der geschlechtsbeziehungen wird deutlich als auslöser von selbstvergewaltigungs- und selbstzerstörungstendenzen (auch) bei männern. Dies wird kaschiert durch patriarchalische selbstwertgefühle – nicht nur auf kosten der sexualpartnerInnen, sondern auch der eigenen geschlechtlichkeit. Der PENIS wird zum werkzeug, - die gesellschaftlich "normale" verdinglichung vergiftet menschliche nähe und intimität. Selbsthaß wird zu haß auf das sexuelle gegenüber: "Natürlich habe ich sie/ihn ficken wollen!"

Ein tief berührendes stück, das sich noch immer sehr gut eignet zur szenischen lesung in männergruppen – aber gibt es überhaupt noch männergruppen??

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Sarah gerstner & mondrian graf v. lüttichau: "WARUM IST ES SO SCHWER, GEFÜHLE ZU ZEIGEN?!"

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Sarah war 1971 elf, ich (mondrian) war neunzehn. Kennengelernt hatten wir uns auf den spielplätzen der kleinen württembergischen stadt, in der wir beide lebten. Ab 1971 war ich, für die letzten beiden schuljahre bis zum abitur, in heidelberg im internat. Dorthin hat sarah mir ihre ersten briefe geschrieben. Unser briefwechsel (bis 1980) zeigt in den ersten jahren viel von sarahs empfindungen und lebensentscheidungen angesichts alterstypischer erfahrungen und probleme. Deutlich wird der soziale anpassungsdruck hin zum "nett sein", zu idealisierten beziehungsmodellen, dem mädchen ausgesetzt sind. Sarah gelang es in diesen jahren, immer wieder zurückzufinden zu ihren authentischen empfindungen, - wodurch sie sich notwendigerweise von vielen gleichaltrigen distanzieren mußte. - In späteren briefen konnten wir uns austauschen über unsere sehnsucht nach authentischen begegnungen, über sexualität und körperliche liebe.
1980 brach sarah unseren kontakt plötzlich ab - mit dem hinweis auf kindliche träume und illusionen, in denen ich wohl noch steckte, sie aber nicht mehr..
 (Sarah gerstner ist ein pseudonym.)

Siehe zu diesem buch eine grundlegende anmerkung auf der startseite!

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Mondrian w. graf v. lüttichau: MAUER AUS SCHWEIGEN UND MISSTRAUEN. Briefe gegen erwachsene

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Briefzitate aus den jahren 1968-77 machen auswirkungen sozialer verdinglichung in der konsumgesellschaft BRD auf kinder und jugendliche sinnlich nachvollziehbar. Dieses bereits 1978 entstandene manuskript wollte zusammenhänge solcher "ganz normaler" unterdrückungsformen zu haß und gewalt der damaligen stadtguerilla-scene (RAF, Bewegung 2. Juni) verdeutlichen; es widerspricht den in der medien-öffentlichkeit so beliebten ideologischen schwarz/weiß-argumenten.

Kindern und jugendlichen im heutigen deutschland geht es anders, aber kaum besser. Die mauer aus schweigen und mißtrauen zwischen den generationen ist ungebrochen; - genaues, achtsames hinschauen (mit herz und vernunft) auf die situation, das empfinden von kindern und jugendlichen ist noch immer selten. Stattdessen hat sich die "jugendhilfe"-bürokratie weiter perfektioniert; verstärkt werden neuropharmaka eingesetzt gegen schwierige kinder.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: FARBEN SPIELEN. Enkaustikbilder

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Die uralte technik der enkaustik ermöglicht vielfältigste interaktion von farben in bewegung und form. Aus spontaneität, zufall und achtsamkeit entstehen geradezu choreografische szenen. Jede bewegung zerstört unwiderbringlich und schafft neues gebilde; - intuitive verbindungen zu inneren bildern und empfindungen führen zum surréalen (wieder-)erkennen von momenten des lebens.

Diese enkaustikbilder entstanden 1998-2000 in berlin.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: CLARISSA und DIE LIEBE

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Während meines sozialpädagogik-studiums hatte ich einen teilzeit-job als nachtwache in einer wohnstätte für erwachsene mit kognitiver beeinträchtigung ("geistigbehinderte"). Das buch berichtet von dem engen kontakt mit clarissa, einer bewohnerin mit schwerer epilepsie. Im mittelpunkt steht clarissas kampf um selbstbestimmtes leben – und mein bemühen um achtsamkeit für ihre autonomie. Deutlicher denn je wurde mir in der zeit mit clarissa, daß es bei alldem letztlich um liebe geht – und daß "mitleid" niemals grundlage sein kann für hilfe. Auch schwer beeinträchtigte menschen haben ein menschenrecht auf selbstentfaltung und selbstverantwortlichkeit.

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(Anonymus:) GEHEIME GESCHICHTE DER HERTZOGIN VON HANOVRE.. (1734)

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(herausgegeben von mondrian w. graf v. lüttichau)

Eine zeitgenössische darstellung der tragödie um sophie dorothea v. celle (1666-1726), die aufgrund ihrer liebesbeziehung mit philipp christoph graf v. königsmarck geschieden und verbannt wurde als "prinzessin von ahlden". – Ausschlaggebend für meinen impuls, dieses büchlein nach 270 jahren nochmal an die öffentlichkeit zu bringen, war das abenteuer sprache! Der spätbarocke text macht authentische sprachentwicklung für mich sinnlich greifbar als kreativer ausdruck von sozialer erfahrung und kommunikation. Die lebendige sprache könnte für uns noch heute handlungsträger der 'Geheimen Geschichte..' sein.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: ERSTICKTES LEBEN

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Eine sammlung von frühen gedichten und kurzgeschichten (sowie das aphoristische anáklasis-tagebuch) aus den jahren 1966-1971. Daneben enthält das buch eine sozusagen pornografische kurzgeschichte, die 30 jahre später entstand, aber meinem empfinden nach in diesen kontext gehört. (Achtung! Diese letzte geschichte kann bei überlebenden von sexueller gewalt als trigger wirken!)

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Liane Tjane Michauck & Co: EINE UNGEWÖHNLICHE FAMILIE

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Manche menschen mußten bereits als kleinkinder und während ihrer kindheit und jugend unvorstellbar brutale gewalttaten erdulden, meist auch von den eigenen eltern. Überleben konnten sie diese hölle oft nur, indem ihre seele sich in verschiedene persönlichkeiten teilte. - Tjane, liane, katharina, martina, jane, krissy, taralenja und ein baby sind ein solches "multiples system". Diese veröffentlichung enthält gedichte, die entstanden sind im versuch, etwas von dem leid auszudrücken, mit dem sie alle weiterleben müssen – und von dem täglich neuen widerstand gegen die erinnerungen.
Zugleich sind sie poetische dokumente bewahrter menschlichkeit, innerer schönheit und liebesfähigkeit.

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Siehe auch Liane Michauck & Co. / Mondrian v. Lüttichau: TAGEBUCH EINER DIS-THERAPIE (2021)

Die Gesamtausgabe der Gedichte ist HIER!

Mondrian w. graf v. lüttichau: SCHLÜSSELBLUMEN. Erinnerungen an die allererste zeit

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Diese erinnerungen an meine kindheit entstanden im wesentlichen 1978. Ich hatte versucht, möglichst alles zu notieren, woran ich mich noch erinnere aus der lebenszeit, bevor ich (mit 14) tagebücher zu schreiben begonnen habe. (Die frühen tagebücher waren zu diesem zeitpunkt noch verschnürte packen von schulheften.) Jahre später wurde die erste version der erinnerungen in zusammenarbeit mit meinem bruder ergänzt. – Deutlich wird, daß ich als kind leben gelernt habe nahezu ausschließlich durch erfahrungen jenseits des elternhauses.

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