Adalbert Stifter: EINE AUSWAHL

Zu seinem 220. Geburtstag am 23. Oktober 2025

 

Der österreichische Schriftsteller, Maler und Pädagoge Adalbert Stifter (1805-1868) gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller des Biedermeier. Er arbeite als Hauslehrer, später hatte er eine Position als Schulrat.
Im 21. Jahrhundert macht sich gesteigertes Interesse an Stifters Werken bemerkbar.

Die Personen in Stifters Erzählungen sind beheimatet in ihrer Lebenswelt und in der umfassenderen Welt: wohl nur wenige Dichter bei uns (in Europa) haben eine derartige Lebenshaltung derart konsequent bis in alle Nuancen (und zugleich glaubhaft) dargestellt. Zweifellos ist Stifters eigene tiefe Sehnsucht nach Heimat in der Welt als Grundimpuls in sein Werk eingegangen; dies wird auch durch biografische Darstellungen deutlich.
Seine vorgeblich idyllische Welt könnte Eskapismus sein, wenn Stifter sie nicht mit tiefgründigen Wahrheiten des realen Menschenlebens verweben würde; diese Verbindung kann zur Ressource werden, unsere weitgehend verdinglichte, entfremdete Lebenswelt nicht nur auszuhalten, sondern menschenwürdige Momente darin alltäglich zu stärken; so jedenfalls ging es wohl mir, seit ich Stifter lese.
All die kleinen idyllischen Momente in Stifters Erzählungen sind nichts weniger als austauschbare Ornamente, vielmehr sind sie konstitutiv für den Fortgang der Handlung, tragen Sinn in sich. Solche Momente bilden das Geflecht, das Mosaik dieser Prosa. Stifters Idyllen sind darüberhinaus meist zugleich auch Untiefen, die es zu erkunden gilt. Schritt für Schritt können wir uns hineinziehen lassen in die Langatmigkeit der Texte.

Zwar tragen Stifters Texte auf einer Ebene die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach friedvollem Leben, nach Konfliktlosigkeit in sich, aber sie gehen alle darüber hinaus. Das platt (klein )bürgerliche, biedermeierische Idyll ist das im Alltag pragmatisch Vorstellbare; Stifter geht es um dessen utopische Obertöne, um das, was wir Menschen wohl alle im Tiefsten ersehnen und nur notdürftig mit den Utensilien eines saturierten, behäbigen, vorzeigbaren Alltags kompensieren. So kann das (Nach- oder Mit-)Empfinden, das Ernstnehmen von "Heimat in der Welt", wie Stifter es darstellt, eine (neue?) Möglichkeit sein oder werden, jenes menschliche Grundbedürfnis zu befriedigen, für das seit jeher die Vorstellung von Göttern stand.

So biedermeierlich-normalitätsorientiert seine Erzählungen prima vista wirken: beim genauen Lesen wird deutlich, daß sämtliche Protagonist*innen Außenseiter*innen dieser Normalität sind. Und genau dies ist wohl ein Schlüssel zu Adalbert Stifters tiefster Intention: es sind Außenseiter*innen, die gleichwohl menschenwürdige Momente in dieser Normalität stärken, bestätigen oder erst in ihr pflanzen wollen. Die durchgängige Achtsamkeit (der Protagonist*innen wie des Autors) für nichtmenschliche Momente des Seins gehört zu dieser Intention.
Außenseiter ist Stifter auch noch in unserer Zeit, sogar weitergehend: wie die Menschen in seinen Geschichten miteinander umgehen, mutet uns heute nun wirklich an wie aus einer anderen Welt. Wir sind garnicht versucht, diese Erzählungen auf Grundlage der Selbstverständlichkeiten unserer sozialen Lebendigkeit zu lesen: alles ist irritierend anders! Deshalb gibt es zu Stifters Werk offenbar bis heute nur zweierlei Reaktionen: staunende, frohe Zustimmung – oder irritierte Langeweile bzw. befremdetes Kopfschütteln.

Einerseits sind sine Geschichten gnadenlos altmodisch, – andererseits empfinde ich sie wie Ahnungen einer möglichen? oder utopischen? Zukunft der Menschlichkeit. Wie Palimpseste einer wiedergefundenen Religion – zu der keine Götter mehr nötig sein werden. Wie es Marayat Rollet-Andriane (Emmanuelle Arsan) irgendwo schrieb: "Die Schönheit und die Güte sind zwei archaische Stadien des Fortschritts, der noch vor uns liegt."

A+C_202_ADALBERT STIFTER (pdf 1,7 MB)