Adam Scharrer: MAULWÜRFE

Neu im März 2024

ELEND UND WIDERSTAND FRÄNKISCHER BAUERN 1900-1933

Adam Scharrer (1889 – 1948) war Sohn eines Gemeindehirts. Seine Mutter starb, als er 5 Jahre alt ist. Der Vater heiratete deren Schwester; in dieser Ehe wurden 15 Kinder geboren. Neben dem Besuch der Volksschule mußte Adam Kühe und Gänse hüten. Anschließend absolvierte er eine Schlosserlehre und war nach eigenen Angaben bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr als Schlosser- und Drehergeselle in vielen Städten Deutschlands tätig, auch in Österreich, der Schweiz und Italien. Bereits seit der Jugend war Scharrer kommunistisch orientierten Kreisen verbunden.
Wegen seines Engagements gegen die NS-Bewegung wurde er nach dem 30. Januar 1933 wegen Hochverrats steckbrieflich gesucht, er mußte zunächst in Berlin untertauchen und noch im selben Jahr in die Tschechoslowakei emigrieren. Ein Jahr später kam er auf Einladung des Schriftstellerverbandes der UdSSR in die Sowjetunion, kurze Zeit hielt er sich in der Ukraine auf, kehrte aber bald in die Nähe Moskaus zurück, wo er in einer Autorenkolonie lebte. 1941-43 wurde er nach Taschkent evakuiert. Nach dem Ende des Krieges zog Scharrer nach Schwerin in die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands, hier wurde er Redakteur der "Schweriner Landeszeitung", ohne einer Partei beizutreten. Er arbeitete vorübergehend in der Verwaltung und gründete mit anderen den Kulturbund Mecklenburg-Vorpommern, wo er Leiter der Literatursektion wurde.

Scharrers bekannteste Veröffentlichungen waren:
AUS DER ART GESCHLAGEN. REISEBERICHT EINES ARBEITERS. (Berlin 1930). Es erzählt autobiografisch orientiert von den Erfahrungen als wandernder Schlosser- und Drehergeselle.
VATERLANDSLOSE GESELLEN. DAS ERSTE KRIEGSBUCH EINES ARBEITERS. (Wien/ Berlin 1930). Einer der wichtigsten deutschen Anti-Kriegsromane, bezogen auf den ersten Weltkrieg.
MAULWÜRFE. EIN DEUTSCHER BAUERNROMAN. (Malik Verlag Prag 1934). Das Buch erschien 1945 als einer der ersten zehn Titel des Aufbau-Verlages. Mehrfach Wiederveröffentlichungen in der DDR, zuletzt 1985 als fotomechanischer Nachdruck. Die vorliegende Ausgabe unter dem neuen Titel MAULWÜRFE – ELEND UND WIDERSTAND FRÄNKISCHER BAUERN 1900-1933 ist die einzige Neuausgabe seither.
In der BRD gab es von Scharrer keinerlei Ausgaben.

Scharrers vorliegender Roman ist eine hautnah berichtete Reportage aus dem Alltag eines fiktiven mittelfränkischen Dorfes in der Nähe von Fürth (im Buch: Felben). Im Mittelpunkt stehen kleine Bauern (Pachtbauern und selbständige Arbeitsbauern). Während der Inflationsjahre (1922/23) kommt es schrittweise zu einem massiven Verdrängungskampf von Großbauern und dem adeligen Großgrundbesitzer gegen kleinere Bauern, wodurch auch persönliche und ideologische Feindseligkeiten in der Bevölkerung aufbrechen. Die Menschen werden zerrieben zwischen zunehmender materieller Not, dörflichen Normen, politischen Vorstellungen und persönlichen Beziehungen, Empfindungen und Wünschen.
Sehr nuanciert wird dargestellt, wie menschenfreundliches und menschenfeindliches Verhalten nebeneinander existieren kann auch wegen tief verwurzelter Anschauungen und Lebensregeln, von denen wir uns emanzipieren können nur, wenn wir den Freiraum haben, weiterzulernen, uns im Laufe des Lebens neue Selbstverständnisse aufzubauen. Schaffer gelingt es, individuelle soziale, seelische Wahrheiten in ihrer manchmal tragischen Unvereinbarkeit nebeneinander stehenzulassen. Wir lesen von der fast unüberwindbaren Schwierigkeit, aus dem traditionellen Dorfgefüge heraus für abweichende ethische Anschauungen einzustehen. Nachvollziehbar wird die gnadenlose Konsequenz, mit der Menschen ihre (lebenslang erlernten) Lebensprinzipien durchkämpfen bis zum Tod anderer oder dem eigenen, wenn sie nicht in der Lage sind, sich auf neue Umstände einzustellen.

Die materielle Not, bei der über jedes Stück Nahrung entschieden werden muß, und dies noch vorausdenkend über Monate, wird in Scharrers subtilen Dialogen unmittelbar nachvollziehbar: "Wie a Maulwurf wühlt der kla Bauer si ei in sei Fleckl Erdbudn, und wenn er a Menschnalter gschindert hat, hat er nix." Die Subtilität und Prägnanz, mit der alltägliche Arbeitsabläufe und bäuerliche Ordnungsprinzipien in den Gesprächen der Personen deutlich werden, ist ein besonderer Gewinn, weil wir uns heute bäuerliches Leben zu jener Zeit kaum noch vorstellen können. Satz für Satz ist in diesem Buch (stärker noch als in anderen Werken Scharrers) die handwerkliche, haushälterische Liebe zum Detail zu spüren. Der Autor war eben nicht nur Hirt und Bauer, sondern auch Maschinenschlosser und Dreher und hat in diesem Berufsfeld über zehn Jahre gearbeitet.
Zwar gibt es einen Ich-Erzähler (Schorsch Brandl), aber das Buch ist nicht vorrangig seine Geschichte, sondern eine Art (fiktiver) Chronik jener Zeit und zeittypischer Umstände. Nirgendwo wird Scharrers Parteilichkeit für die Frankenbauern propagandistisch überpointiert. Traurige, tragische, aber auch tiefbeglückende Empfindungen werden nachvollziehbar – ohne breites Ausmalen, vielmehr als lakonischer Bericht über das Leben, wie es eben war, aber auch in berührenden Gesprächen. Und dann kam schon wieder der nächste Tag mit seiner Arbeit ..
Die nuancierte Wiedergabe des mittelfränkischen Dialekts (in der wörtlichen Rede der Personen)  ist dabei ein spezieller Schatz dieses Buches. Wären diese Dialoge nicht auch inhaltlich mitreißend und Träger der Handlung, wäre wohl nur eine Minderheit von nicht-fränkischen Leser*innen bereit, sich auf diese Sprache einzulassen. So bedeutet dieses Buch nicht zuletzt auch das Dokument eines deutschen Dialekts.

Ende der 20er Jahre eskaliert die Situation Zug um Zug: auf der einen Seite verbitterte, in ihrer konkreten wirtschaftlichen Situation zunehmend verzweifelte Kleinbauern, auf der anderen Seite Parteigänger der Nazis, personalisiert in Funktionsträgern (einschließlich des Pfarrers), Großgrundbesitzern und pogrombereiten Einzelnen. Eine Gruppe von Dörflern (mit implizit deutlich werdendem kommunistischem Selbstverständnis) versucht, politische Hintergründe zu vermitteln, den anderen Mut zu machen, für ihre berechtigten Interessen einzutreten: in alltäglichen Gesprächen, am Biertisch wie bei dörflichen Versammlungen, gelegentlich auch mit Prügeleien, publizististisch und mit praktischer Unterstützung und Anteilnahme. ("… daß dös a gibt, daß Leit für an eisteh und die Hand net aufhaltn, dös hätt i net für mögli ghaltn.")

Für die allgemeine, durch Einzelinteressen verstärkte wirtschaftliche Not müssen Schuldige benannt werden, dafür boten sich die "Novemberparteien" an, verallgemeinernd auch: die Bolschewisten. Darin waren sich weite Kreise der verarmten kleinen Leute und die Großgrundbesitzer einig.
Auch politische Machtkämpfe zwischen bauernorientierten Vereinigungen, ausgetragen in der Presse, werden dargestellt (insbesondere, um angeblich oder tatsächlich kommunistisch orientierte Initiativen mit Hilfe von verlogener Rhetorik gesellschaftlich auszugrenzen). Sacht formiert sich nach Ende der Inflation (1924) eine "vaterländische" Front gegen die "Novemberparteien", vordergründig (d.h. rhetorisch) engagiert für die Interessen der "kleinen Leute", die dann einige Jahre später bei den Nazis die ihnen gemäße Heimat finden wird. Wirtschaftlich Abhängige wie Hirten, Knechte oder Hilfeempfänger wurden von Arbeitgebern, der NS-orientierten Gemeindeverwaltung oder dem Pfarrer genötigt, "im eigenen Interesse" in die Nazipartei einzutreten; das halberzwungene Mitmachen war dann unvermeidbar.
"Und wenn mir klan Leut zsammhaltn, nacha wird 's nimmer lang dauern, und 's schaut anders aus auf der Welt." Mit dieser – ursprünglich linkssozialistischen – Hoffnung wurden dann auch die Nazis begrüßt und gewählt von einer Mehrheit wenig orientierter Leute. Deren Argumentation (vor 1933) war auf dem Dorf zweifellos eingängiger als diejenige der Linken, der Kommunisten.

Wir verfolgen Schritt für Schritt das perfekte Zusammenspiel (die "Seilschaften") der dörflich einflußreichen Personen und Institutionen (Bürgermeister, Pfarrer, Gastwirt, Förster, Großbauer, Parteifunktionäre), wenn es um die Interessen einzelner von ihnen geht. Andererseits gibt es weiterhin durchaus situative Kooperation zwischen Bauern und Gemeinderat im Sinne des funktionierenden Gemeinwesens. Allerdings führt jeder kleine Schritt in eine offizielle Position tiefer hinein in Abhängigkeiten (auch, aber nicht vorrangig vom Geld). So ist es seit jeher und auch heute; aber diese Überlegung hilft denjenigen nicht, die sich Familie und einen höheren Lebensstandard wünschen, damals aber auch nur: sich jeden Tag satt essen und ihre notwendigen Alltagskosten bezahlen wollen.

In dieses erste Buch im Exil, veröffentlicht 1934 bei Malik, dem bedeutenden Prager Exilverlag, hat Adam Scharrer seine ganze Liebe zu den Menschen im Dorf hineingegeben. Jedoch fehlt jede verklärende Schönfärberei (wie sie oft in sogenannten Bauernromanen zu finden ist). Der Autor gibt den Bauern ihre Würde – und zeigt andererseits den alltäglichen gnadenlosen Eigennutz vieler Menschen (zu allen Zeiten). Viele zarte Momente enthält das Buch – nicht zuletzt, wo es um die Situation von Frauen in diesem von nie endender Arbeit und nie endenden Sorgen bestimmten bäuerlichen Leben geht.

(Aus dem Nachwort)

auc-178-scharrer (pdf 1,6 MB)