Anastassija Werbizkaja: MANJA UND IHRE REVOLUTION

Neu im November 2025

Anastassija Aleksejewna Werbizkaja (1861-1928) studierte am Moskauer Konservatorium Gesang, arbeitete dann über 20 Jahre als Gesangslehrerin an Moskauer Mädchengymnasien. Sie schrieb zunächst Erzählungen und Artikel, vorrangig mit dem Thema der Emanzipation der Frauen. Um 1902 gründete sie einen eigenen Verlag mit diesem Schwerpunkt.
Anastassija Aleksejevna nahm aktiv an der revolutionären Bewegung teil, indem sie in ihrer Moskauer Wohnung illegale Literatur, Proklamationen und Flugblätter druckte und sie verteilte. Sie stellte ihre Wohnung für Zusammenkünfte der sozialdemokratischen Partei (РСДРП-б) zur Verfügung und organisierte eine Art Lazarett für Verwundete der Straßenkämpfe.
Insbesondere ihr politischer Romane AUS STURMESZEIT (1907) und der hier wiederveröffentlichte (Originaltitel: Ключи счастья, 1909) wurden seinerzeit in Rußland Bestseller und in etliche Sprachen übersetzt.

Nach der Oktoberrevolution (1917) wurde Webizkaja zunehmend politisch ausgegrenzt. 1924 wurden ihre Bücher aus Bibliotheken und Buchhandlungen entfernt. Anastassija Aleksejewna begann, Geschichten für Kinder zu schreiben, die unter Pseudonym veröffentlicht wurden. Offenbar verarmte sie in den letzten Lebensjahren.

Der hier nach fast 120 Jahren erstmalig auf deutsch wiederveröffentlichte Roman spielt ab 1904 auf ukrainischen ("kleinrussischen") Gütern und in Moskau. Im Mittelpunkt steht Manja (geboren 1869), ein Mädchen aus schwierigen familiären Verhältnissen, mit viel Temperament und ausgeprägter Individualität. Hin- und herrissen von leidenschaftlichen Liebesempfindungen zu zwei bzw. drei Männern, verrät sie ihr innerstes Empfinden nicht an die gesellschaftlichen Konventionen; sie kommt zu dem Schluß, daß sie zu allen drei Männern einzigartige und durch nichts zu ersetzende Liebe empfindet. Wie aber damit leben? Dies ist zentrales Thema des Romans, dessen Hintergrund die sozialen Verhältnisse der ukrainischen Gutsbesitzer sind sowie (am Rande) die Revolution (1905). Diese erste russische Revolution war nicht zuletzt diejenige der Frauen, die – zunächst als engagierte Mitwirkende am revolutionären Widerstand – sich auf den Weg machten, offen ihre soziale und politische Selbstbestimmtheit zu entfalten!

Im gesamten Roman thematisiert die Autorin ausdrücklich das Recht der Frau auch auf sexuelle Selbstbestimmung – allerdings nicht im Stil eines feministischen Triumphes. Die Autorin vermeidet es, Manja als feministisches Wunderkind darzustellen. Auf den ersten 200 Seiten konnten sich wohl viele Mädchen des russischen Bürgertums mit ihr identifizieren, gerade auch in ihrem naiven, kindlich-jugendlichen Schwärmen für männliche Idealgestalten, im unsteten Wechsel ihrer Empfindungen und Überzeugungen. Schritt für Schritt zeigt sich ihre Eigenart: Manja, darin eine Ausnahme, entscheidet sich in immer wieder für das Ihr Eigene, für die ihr gemäße (sehr ichbezogene) Freiheit – auch gegen den Protest, die Ablehnung ihrer Umgebung. Das Buch ist ein subtil, weitgehend ohne überflüssiges Ausmalen komponierter Entwicklungsroman.
Werbizkajas Roman erzählt hier vorrangig von der schrittweisen (individuellen) Revolution dieser jungen Frau. Dieser Prozeß wird im Schlußteil des ersten Bandes (der in der deutschen Ausgabe von 1910 fehlt und hier erstmalig auf deutsch publiziert wird) auf einer tiefgründigen, fast sozialphilosophischen Ebene inszeniert: Welche Bedeutung kann Phantasie, poetisches Traumbild, ganz und gar aus dem Innen sich entfaltende Wahrheit im menschlichen Leben haben? Was ist Liebe – in dieser Tiefe?
Daß Manja fast zeitgleich einander scheinbar ausschließende existentielle Liebesempfindungen für mehrere Männer hat, ist noch nicht ihre Revolution, vielmehr daß Manja diese Tiefe der Selbsterfahrung, der inneren Wahrheit nicht leugnet und verdrängt, sondern durchlebt und dabei nur noch mehr sie selbst wird. Daß sie für diese existentielle Selbstentwicklung letztlich keinen realen Lebensalltag finden wird, lag (meines Erachtens) auch an der Normalität des sozialen Bewußtseins ihrer Zeit. Wie es immer so ist: Revolutionen sind Anstöße – nie verwirklichen sie sich so, wie sie gemeint waren.

1909 wurde dieser russische Roman erstmalig veröffentlicht. Seine von der Autorin konzipierten 6 Bücher (= Teile) erschienen in Werbizkajas Eigenverlag aus ökonomischen Gründen nacheinander als einzelne Veröffentlichungen.
1910 erschien eine deutsche Ausgabe von Buch 1 und 2. Für diese erste deutsche Wiederveröffentlichung wurde die damalige Ausgabe ergänzt durch das Buch 3 des Romans (als deutscher Erstveröffentlichung).
Der russische Titel des Romans: Der Schlüssel zum Glück (Ключи счастья) ist verständlich überhaupt erst auf Grundlage der Bücher 3 - 6 des Romans! Dabei bildet das Buch 3 den Übergang zwischen Manjas Jugendzeit und ihrem Erwachsenenleben. Die erste deutsche Version von 1910 (Buch 1 + 2) ist an sich ein lesenswertes Buch, aber es ist ein Torso! Ihm fehlt der existentielle, ja: spirituelle Hintergrund von Manjas intuitivem Entwicklungswillen, der sich erst im Verlauf der Bücher 4 - 6 offenbart.

Hinzugefügt wurde ein Aufsatz der russischen Literaturwissenschaftlerin Alla Michailowna Gracheva (1993), eine Liste der Personen der Handlung, ein Nachwort sowie einige Abbildungen.

A+C_203_WERBIZKAJA_Manja (pdf 3,8 MB)