Ernst Glaeser: DER LETZTE ZIVILIST

Ernst glaesers 1928 erschienener erster roman JAHRGANG 1902 war ein internationaler erfolg, an den das zweite, FRIEDEN 1919 (1930) anknüpfen konnte. 1933 wurden auch diese bücher von den nazis verbrannt.
Glaeser siedelte im dezember 1933 mit seiner frau und seinem 4-jährigen sohn in die tschechoslowakei über, von dort ging er 1934 nach locarno und im oktober 1935 nach zürich. Der dort entstandene und hier wiederveröffentlichte dritte roman DER LETZTE ZIVILIST zeigt nuanciert die schrittweise machtergreifung der NS-ideologie in einer süddeutschen kleinstadt. Es wurde im laufe der folgenden jahre (angeblich) in 14 sprachen übersetzt.
In den folgenden jahren distanzierte sich glaeser zunehmend von den antifaschistischen deutschen emigranten. Am 1. april 1939 kehrte er nach deutschland zurück.
Im NS-deutschland durfte glaeser eingeschränkt publizieren. Nach 1945 wurden weiterhin werke von glaeser veröffentlicht, der autor konnte jedoch nicht mehr an seine erfolge der 1930er jahre anknüpfen. Ernst glaeser, geboren 1902, starb 1963 in mainz.

Zweifellos wollte der autor mit dem exilroman DER LETZTE ZIVILIST (1936) der öffentlichkeit die augen öffnen über die kollektive psychodynamik der bevölkerung in deutschland. Er wollte nachvollziehbar machen, wieso eine mehrheit von deutschen zu parteigängern der nazis wurden und es geblieben sind. Ihm ging es kaum um den konkreten antifaschistischen widerstand (der in kommunistisch orientierter exilliteratur im vordergrund stand), eher um die überwindung derartiger deformationen des menschlichen, – um "Erziehung nach Auschwitz" (adorno), allerdings bereits vor auschwitz.
Der übergang "ganz normaler" bürger zu nazis konnte in den 30er jahren beobachtet, aber noch nicht verstanden werden. Bekanntlich streiten sich die fachwissenschaften bis heute um diese frage. Der roman bietet erfahrungsmaterial zu dieser frage und lebt aus der sensiblen beobachtung sozialer und ideologischer zusammenhänge. Er ist organisiert wie das szenario eines films. Krasse schnitte richten die aufmerksamkeit unmittelbar auf das bild der szene, klischeehafte momente malen soziale situationen aus. Die personen wirken gleegentlich wie rollen im kabuki-theater.
Kein zufall, daß manche passagen sich lesen, als habe ein NS-protagonist sie geschrieben. Eine von allen unerwünschten affekten gereinigte "wissenschaftliche" darstellung der NS-deutschen realität ist jedoch noch keine bewältigung, eher eine entwirklichung. Um tiefgründiger nachzuvollziehen, wie es damals (vermutlich) war, ist es nötig, sich gelegentlich in den dreck, in das ekelhafte hineinzufühlen, das zur nazifizierung der deutschen bevölkerung gehört. Durch glaesers nuancierte darstellung wird auch die rhetorisch-manipulatorische machtergreifung der NS nachvollziehbar. Nur in wenigen zeitzeugenberichten wird die emotionale wirkung von hitlerreden in der damaligen zeit nachvollziehbar, ja vielleicht sogar nachfühlbar wie hier.

Die handlung dieses romans ist durchgängig modellhaft zu verstehen, es geht nicht um individuelle schicksale. Ähnlich sozialwissenschaftlichen und psychohistorischen darstellungen sollen glaesers vignetten typische soziale konstellationen verdeutlichen. Hinter diesen mustern liegt dennoch viel einfühlungsvermögen in das gewordensein der figuren. Einzelne situationen lassen sich als parabeln verstehen, manches ist symbolisch aufgeladen. Manche slapstickhaft überzogene szenen sind eher komödiantisch gemeint.
Es ist ein böses – und ein trauerndes buch. Von ekel geschüttelt gegenüber den deutschen, die mit vielfältigen varianten von gift und galle, von lüge und betrug und menschenverachtung deutschland zu zerstören beginnen, – und trauernd um dieses deutschland, das für glaeser (wie sich zeigen sollte) als heimat unersetzbar blieb wie seinen hauptfiguren bäuerle und hans diefenbach.

Bekanntlich ist ernst glaeser 1939 zurückgegangen nach deutschland. Er habe seinen frieden gefunden mit den nazis, heißt es manchmal. Bereits durch den vorliegenden roman läßt sich ahnen, daß das doch etwas komplizierter war. Einige erzählungen zeigen deutlich glasers unauflösbare seelische gebundenheit an die heimat in (süd)deutschland, jenseits aller politischen umstände. In einer der erzählungen (ANDANTE 1939) geht es um seine rückkehr nach deutschland nach fünf jahren exil. "Nein, ich gehöre nicht zu dieser Musik. Mögen auch die Marktplätze überquellen von ihren Fanfaren und die Hybris des Muskels sich auf den Podien spreizen, unvergänglich bleibt, vor dem Geschmetter, dem Aberwitz des Aufstands, der kleine Spalt auf Deutschland, die Heimat, das erste Land." Heimatsuche wird in glaesers büchern direkt oder indirekt immer wieder thematisiert. Affirmative und kolportageelemente wie politische anpassung (im NS wie in der adenauer-BRD) liegen meiner meinung nach seinem schmerzhaften bedürfnis nach geborgenheit in vertrauter umgebung (sei es der menschen, sei es der natur) zugrunde. – Deutschland als liebesobjekt: nationalismus kann auch symptom sein für bindungssehnsucht, bindungsgestörtheit, die auf diese weise kompensiert wird. Dies dürfte für nicht wenige menschen gegolten haben und gelten, auch anderswo, auch heutzutage.
Diese neuausgabe bei A+C orientiert sich an der erstausgabe (1936).

(Aus dem nachwort)

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