Iden Tietze: TRÄUME AM ABGRUND

Der zuerst 1947 veröffentlichte kleine roman TRÄUME AM ABGRUND vermittelt uns ein NS-deutschland im bombenkrieg der letzten monate, aus dem blickwinkel der vage antinazistischen, sich als hilflos erlebenden schweigenden mehrheit. Das buch spielt an der westfront 1944/45, im gebiet der eifelberge.

Die personen der handlung sind keine überzeugten nazis und keine antifaschistischen helden, sondern menschen zwischen anpassung, privatistischem rückzug, eigennützigkeit, überlebenskampf, politischer gedankenlosigkeit, zumeist nur indifferentem widerspruch zum nationalsozialistischen regime, – deren mitmenschliche sensibilität und solidarität sich aber durchaus entfaltet im umkreis der konkreten eigenen, affektiv besetzten erfahrungen und beziehungen.

Die autorin vermittelt hautnah zweifellos repräsentative befindlichkeiten in der bevölkerung jener zeitgeschichtlichen situation; seine fast filmische dichte und rasanz macht das buch als zeitzeugenbericht (fast im sinne der oral history) lesenswert bis heute.

Nur eine handvoll bücher der sogenannten trümmerliteratur nach 1945 wurde anerkannt als unverzichtbare zeitzeugnisse. Wie andere, fand auch das vorliegende seine leserInnen in der camouflage eines unterhaltungsromans; als zeitgeschichtliche dokumentation sind solche zeugnisse zumeist verloren. (Siehe auch den ebenfalls bei A+C wiederveröffentlichten roman von anna schack: Das Haus Nr. 131.)

Meist gehen wir in großer selbstverständlichkeit davon aus, daß wir alle uns im alltag in irgendeiner weise mit politisch-gesellschaftlichen problemen, mit ungerechtigkeiten und dem leid fremder menschen befassen, daß wir stellung beziehen und eigene meinungen haben, konsequenzen ziehen oder übergeordnete politisch-gesellschaftliche tatbestände im eigenen interesse nutzen, gelegentlich auch mißbrauchen. Tatsächlich befassen wir uns jedoch im allgemeinen nur mit umständen, die unmittelbar unsere gewohnte alltägliche lebensweise beeinflussen oder die im fokus individueller persönlichkeitsentwicklung liegen. Das gilt unter unseren relativ demokratischen umständen genauso wie es in nazideutschland galt, es war auch in der DDR nicht anders, und in anderen regionen der erde zeigt sich dasselbe. Moralische forderungen mögen gesellschaftlich ihre aufgabe haben, sie ersetzen jedoch nicht soziologische, sozialpsychologische recherche über das, was der fall ist. Das vorliegende buch ermuntert zum nachdenken darüber.

(Aus dem nachwort)

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