Jo Imog: DIE WURLIBLUME

Die Erzählerin, ein etwa 12jähriges Mädchen, lebt in einem Dorf am See, im bayrischen Voralpenland, in einem einigermaßen dysfunktionalen Elternhaus. Zuwendung erfährt sie fast nur in Form unterschiedlicher Grenzüberschreitungen und sexualisierter Gewalt. Immerhin Momente dieser verstörenden, traumatischen Entwicklungsbedingungen scheint sie in Form von phantastischen Inszenierungen und Racheaktionen zu verarbeiten. Eine unbändige "polymorph perverse" Wut richtet die Protagonistin auf alles, was ihr als Opfer unter die Hände kommt: Gegenstände, Ameisen, Schnecken, gelegentlich auch Menschen. Im Morast dieser großangelegten Opfer-Täter-Umkehr entfaltet sich aber zugleich die kreative Lebenszugewandtheit des Mädchens – das ist das schauerlich Wundersame dieses zweifellos autobiografisch fundierten Romans. Nahezu Satz für Satz sind zerstörerische und lebenszugewandte Impulse verbunden. Momente ihrer spröden Liebesfähigkeit richten sich allerdings zumeist nur auf die erwachsene lesbische Freundin, Ersatzmutter und Verbündete Wurio.

Die Wurliblume erkundet und genießt das Leben – abgesehen von all den zwiespältigen sexuellen Erfahrungen – vorrangig in seinem Zusammenhang mit Zerstörung und Tod, in Stinkendem und Verwestem, im Gegenständlichen. Sie befördert Kleintiere vom Leben in den Tod, sammelt Dinge, erprobt ihre Eigenschaften … Ihre vibrierende affektive Besetzung bei all dem ist offensichtlich, Empfindungen wie Mitleid (gegenüber gequälten und getöteten Kleintieren) fehlt gänzlich.

Aber es gibt auch anderes. Sie begegnet einem Kätzchen, mit dem sie Freundschaft schließt, und einmal wollte auch dieses Mädchen ein Leben retten: einen Igel, der sich das Bein gebrochen hatte. Er starb dennoch; jetzt gehört er zu ihren tot lebenden "niemals langweiligen, immer unvollständigen Schätzen". Abseits einer seltsamen Orgie von Erwachsenen tröstet die Wurliblume eine phantasierte Entenfrau, sodaß "sie nicht mehr traurig ist, weil sie mir glaubt, wenn ich sage, daß sie schön ist". Sie spielt mit Hühnern ("Ihre Federn sind schneeweiß") und die Volkslieder, die manchmal in der Familie gesungen werden, bedeuten ihr etwas; wenn nur die Mutter singen und die Texte behalten würde! Viel Lebendigkeit liegt in ihrer Sprachphantasie, in lautmalerischen Wortklumpen und Neologismen, nicht zuletzt den dialektalen Momenten; die barocke Blumigkeit der bairischen Schimpfwörter zieht sich durch das Buch; Abzählreime, Volks- und Kirchenlieder klingen an, Duette mit Vogelstimmen entstehen...

Weg von der familiären Umgebung, zu Besuch beim Onkel, entdeckt sie ein Storchennest und winkt aus dem Auto anderen Kindern. In etlichen Momenten wird die tiefe Sehnsucht dieses Mädchens nach – ja, wonach? nach dem Gegenteil von Oberflächlichkeit, Verlogenheit, Egoismus deutlich. Aber sie hat ja selbst kaum anderes gelernt in ihrem jungen Leben. Immerhin schreibt sie Erfahrungen und Empfindungen in ein verschlossenes, verstecktes Tagebuch, kompliziert verschlüsselt gegen die feindliche Welt. Manchmal hat die Wurliblume einfach Angst, – auch "Angst vor Mutti". Manchmal gehen Alpträume und Realität ineinander über. Aber sie kämpft weiter um ihr weitestmöglich autonomes Leben.

Es ist Sándor Ferenczis "Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind", der wir in dieser Geschichte zuschauen. Die Protagonistin kriegt alles mit, ist teilweise beteiligt – und versteht doch nicht, worum es diesen Erwachsenen geht. Ihre sadistischen Impulse haben eher mit trotzig-verbissenem Erkunden der Welt zu tun, andererseits mit dem kompensatorischen Ausagieren realer (sexualisierter) Gewalt – manchmal in der Hoffnung, es würde doch sowas wie Zuwendung daraus.

Nur selten wurde Sigmund Freuds Begriff von der "polymorph-perversen" Lebendigkeit nachvollziehbarer dargestellt in einem literarischen Text. Bei Freud geht es ebensowenig einseitig um Sexualität im engeren Sinn wie bei der Wurliblume. Die Kreativität des Mädchens entfaltet sich in sämtlichen Sinnen: Gerüchen und Geschmacksmomenten, taktiler Beschaffenheit, Hitze und Kälte, Blumenzartheit, Gefühlen, Farben und Empfindungen, Hitze und Kälte, in den körperlichen, auch sexuellen Selbsterfahrungen. –

Es gehört zum kleinen Einmaleins der Psychotraumatologie: Ein Mensch in unausweichlichen und unerträglichen Lebensbedingungen, der diese psychisch nicht verarbeiten kann, hat nur drei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: mit Flucht, Kampf oder Unterwerfung. Dies gilt umso mehr bei Kindern bei krass unangemessenen, zerstörerischen Sozialisationsumständen. Ihnen bleibt im allgemeinen nur die dritte Variante; sie unterwerfen sich den Erwachsenen (wobei es sich zumeist um Bezugspersonen handelt, von denen die Kinder sich auch aus entwicklungsbedingten Gründen nicht distanzieren können); ihre seelische Entwicklung erleidet tiefgreifende Schäden. – Unsere Wurliblume jedoch kämpft! So selten das ist: es kommt vor und ist auch von anderen Überlebenden von Entwicklungstraumata dokumentiert. Seelische Verletzungen können dennoch nicht ausbleiben und führen bei unserer Protagonistin zu den im Buch geschilderten krassen Einseitigkeiten, zu Haß und Rachegefühlen, eigener Verlogenheit (die einzige Form, in der sie unter den gegebenen Umständen ihre Intelligenz einsetzen kann, um sich zu schützen) und Mord – als letzter Möglichkeit, Momente einer als unerträglich empfundenen Erfahrung zu zerstören. Vieles davon blieb vermutlich Phantasie; verwirklicht wurde es dennoch: durch das Schreiben des Buches. Real ist aber zweifellos das Leid eines Mädchens – der Autorin – aufgrund von unangemessenen, lieblosen und gewalttätigen Sozalisationsbedingungen.

Dieses Mädchen ist Opfer, aber zum Opfer ist sie nicht geboren ; vermutlich rührt auch daher unsere Solidarität über alle Entsetzlichkeiten hinweg.

Deswegen auch kann sie zur Täterin werden. Dieses Buch ist die grandioseste Rache sexuell traumatisierter Kinder und Jugendlicher an der Erwachsenenwelt, in der bekanntlich gerade sexualisierte Gewalt normal ist. Rache ist keine Lösung, nein, aber was erwarten wir von einer kindlichen Überlebenden? Daß sie sich in ihr Leid verkriecht, ihr Leben zerstört, weil es ihr zerstört wurde? Um Hilfe bittet – aber wen?

Auch ihre Empfindungen und Verhaltensweisen sind natürliche, also letztlich gesunde Reaktionen auf ungesunde (traumatisierende) Lebensumstände: orientiert an der Selbststabilisierung des psycho-physischen Systems. Dieses Mädchen fühlt sich im Krieg, das ist sicher nicht weniger angemessen, als sich zum hilflosen Opfer machen zu lassen.

Es gibt (auch hierzulande) viele Tausende Kinder und Jugendliche, die vergleichbaren traumatischen Zerstörungen durch die soziale Umwelt ausgesetzt sind. Zweifellos finden die allermeisten von ihnen andere Kompensations- und Überlebenswege. Meist entwickeln sie ein Selbstbild als Opfer, werden prostituiert, unterwerfen sich gewalttätigen Partnern, sie fliehen in Drogenwelten, bleiben in Persönlichkeitsstörungen oder psychischen Krankheiten stecken oder werden ggf. selbst TäterInnen. Angemessene, nachhaltige Unterstützung finden die wenigsten.

DIE WURLIBLUME ist traumapsychologische Fallstudie, aber nicht nur. Uta Haaks Vermächtnis ist nichts weniger als halbbewußtes Ausagieren kindlicher Traumatisierungen; die rasante Szenenfolge ist von Anfang bis Ende durchkomponiert, hat weder Längen noch Redundanzen, keine überflüssigen Adjektive, jedes Wort ist sinnlich aufgeladen; – in seiner kompromißlosen Poesie ist es große Literatur!

DIE WURLIBLUME erschien 1969 im Gala Verlag Hamburg. 1973 erschienen englische und niederländische Ausgaben des Buches. Die Autorin, Uta Haak, lebte auf Ibiza (Spanien), arbeitete unter dem Namen Ute Schroeder als bildende Künstlerin. (1997 waren ihre Environments bei der Biennale d’art contemporain de Lyon vertreten.) Sie starb im Februar 2014.

(Aus dem Vorwort der Neuausgabe)

Achtung: Das Buch enthält Schilderungen sexualisierter Gewalt! Sie können triggern!

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