Mária Ember: SCHLEUDERKURVE. Jüdische Ungarinnen und Ungarn im NS-Arbeitslager 1944-45

Neuausgabe, mit einem Anhang: Moshe (Miklós) Krausz – ein fast vergessener Kämpfer für die ungarischen Jüdinnen und Juden

Mária Ember (1931–2001) wurde 1944 in das österreichische Durchgangslager Strasshof an der Nordbahn und von dort in das Zwangsarbeitslager Wien-Stadlau deportiert. Nach 1945 ging sie zurück nach Ungarn. Dort studierte sie und arbeitete als Journalistin. Wegen ihres politischen Engagements erhielt sie nach 1956 vier Jahre lang Publikationsverbot. 1968 und 1971 erschienen zwei Romane, 1974 der hier wiederveröffentlichte romanhafte Bericht HAJTŰKANYAR (Schleuderkurve), in dem sie die Erfahrung der Deportation aus der Sicht eines 12-13jährigen Jungen verarbeitet.

Anfang der 80er Jahre recherchierte sie in Moskau zum Schicksal Raoul Wallenbergs. In den frühen 80er Jahren verlor Ember durch ihre Solidarität mit der Prager Charta ‛77 ihre Arbeitsstelle.

HAJTŰKANYAR (Schleuderkurve, Haarnadelkurve, Kehre) berichtet halbdokumentarisch von der Deportation einer Gruppe jüdischer Ungarn aus Szolnok und Debrecen zur NS-Zwangsarbeit nach Österreich, ab April 1944. Durchgängige Handlung des Buches ist die mäandernde, bruchstückhafte Erinnerung an den Terrors durch ungarische, ukrainische, österreichische und deutsche NS-Schergen. Schattenhafter Protagonist des Berichts ist ein wohlerzogener namenlos bleibender Junge aus bildungsbürgerlichem Elternhaus, in Márias damaligem Alter.

Die Erinnerungen (des Jungen), die Zeiten schieben sich zunehmend ineinander, lassen sich oft nicht mehr zuordnen. Seine Aufmerksamkeit, seine Wachheit zieht sich mehr und mehr in sich selbst zurück, in seinen Leib, in den Dämmerschlaf: hinter seine geschlossenen Augenlider… Gegenwart als durchgängige Zeitebene gibt es in dem Buch nicht; die Stationen der Entrechtung durch die Nazis und ihre ungarischen (und ukrainischen) Verbündeten tauchen unvermittelt als Bruchstüche in der Erinnerung des Jungen auf und versinken wieder im traumatischen Nichts. Begebenheiten werden sprunghaft und mit plötzlichen Abbrüchen berichtet, ganz so, wie wir im Innern vergrabene, gleichwohl tief bedeutsame Einzelheiten zutage fördern, um sie uns selbst oder jemandem zu erzählen.

Die vielen Momente, mit denen Gefangene versuchen, unter den Umständen der menschenverachtenden, brutalen Verschleppung ein Mindestmaß an zwischenmenschlicher Ordnung, an sozialer Stimmigkeit zu erreichen, beeindrucken und berühren. Nicht zuletzt geht es um die Perspektive von Frauen in der Shoah – ohne daß dabei biologistischen Ideologemen Vorschub geleistet werden soll. Im Hinblick auf den (fast erfolgreichen) Genozid an ungarischen Jüdinnen steht hier neben (und zeitlich gesehen vor) HAJTŰKANYAR der ebenfalls bei A+C wiederveröffentlichte autobiografische Bericht von Katalin Vidor (Vidor Gáborné).

Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der nüchternen, unsentimentalen Erzählung werden selbst die nur in Schlaglichtern vorgestellten weiteren Personen der Gruppe spürbar als Menschen mit einem individuellen Schicksal; da geht es nicht um die tausende, hundertausende, Millionen Opfer, sondern um die Individuen, aus denen sich solche nicht mehr wirklich vorstellbaren Menschenmengen zusammensetzen.

In SCHLEUDERKURVE geht es nicht um die Situation in Auschwitz oder anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Es geht "nur" um die Deportation aus Ungarn in ein österreichisches Arbeitslager. Aber auch innerhalb dieser Prozedur zeigte sich die intendierte Demütigung, dieselbe schrittweise Zerstörung von Selbstwertgefühl und sozialer Identität scheint auf in herzzerreißenden Szenen. In wenigen Zeugnissen wird die alltägliche Entwürdigung und Verhöhnung der jüdischen Opfer nachfühlbar wie hier. Bei jeder neuen Unterdrückungsmaßnahme greifen sie hilflos nach den noch verbliebenen Ressourcen sozialer Normalität und Selbstbestimmtheit (an die sie auf einer Ebene ihres Bewußtseins selbst nicht mehr glauben können) – und jedesmal sind es weniger Ressourcen. Hilflose Nuancen der Rationalisierung, auch Momente von Unterwürfigkeit zeigt Ember, die peinlich, würdelos genannt werden könnten, falls wir uns nicht klarmachten, daß sie zu unserem natürlichen Überlebensrepertoire gehören. Die jüdischen Opfer sind "ganz normale" Menschen wie du und ich, – mit allem mehr oder weniger spontanen Eigennutz, mit Klatsch und Engstirnigkeit, Feigheit und Bequemlichkeit, mit Vorurteilen und Trägheit des Herzens. Alle wollen sie "nur" ihr eigenes Leben, ihre Normalität und möglichst viel von ihren vertrauten Umständen bewahren.

Einen Schwerpunkt des Berichts bildet die erbarmungslos kalte, höhnische Menschenverachtung der ungarischen Gendarmen gegenüber den ungarischen Juden. Ungarische Bürger waren es, die 1944 binnen weniger Wochen rund 500.000 jüdische Mitbürger deportierten. In diesem Zusammenhang schrieb die Autorin: Ennek a könyvnek a tárgya nem a zsidó sors. Amit ez a könyv elbeszél, az magyar történelem. – Das Thema dieses Buches ist nicht das jüdische Schicksal. Was dieses Buch erzählt, ist ungarische Geschichte.

(Aus dem Vorwort)

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