Moshe Zalcman: ALS JÜDISCHER ARBEITER IN POLEN UND IM STALINISTISCHEN GULAG

Jüdischkeit in Europa – damit verbinden sich uns meist Lebensberichte, Zeugnisse und Erzählungen mehr oder weniger "assimilierter" Juden und Jüdinnen in Westeuropa. "Ostjuden" tauchen eher als undifferenzierte Kategorie mit für uns seltsamem Habitus auf. Bis heute sehr verbreitet sind die Stereotypien des Händlers und des traditionell religiösen Juden, schwarzgekleidet, mit Kippa und Stirnlocken. Moshe Zalcmans Bericht zeigt uns eine völlig andere Welt osteuropäischer Jüdischkeit!

Das Buch verbindet Zalcmans mitreißend erzählte Lebensgeschichte zunächst mit einer unglaublichen Fülle an Informationen zur Situation der jüdischen Bevölkerung in Polen vor 1933. Ein roter Faden des gesamten Buches sind detaillierte Hinweise auf Aktivist*innen der damaligen jüdischen Arbeiterbewegung in Polen und Sowjetrußland. Zalcman erinnert an unzählige jüdische Opfer der stalinistischen Terrors, nennt ihre Namen, skizziert ihr Leben und ihr Leid. Sein Buch ist ein wichtiges und zumindest deutschsprachig durch nichts zu ersetzendes Zeugnis zu diesem sonst wohl wenig beachteten Kapitel in der Geschichte des europäischen, speziell osteuropäischen Judentums, das trotz seiner Orientierung an den religiösen Formen integriert war ins soziale Leben der nichtjüdischen Umgebung (wobei Zalcman hier vorrangig von seiner Heimatstadt Zamość berichtet), in verschiedensten Berufen und eben auch im politischen Engagement. Eine Kehrseite ist jedoch der in Polen und Rußland damals immer wieder aufflammende Antisemitismus, manchmal geschürt aus politischen Gründen, immer mit bösen, tödlichen Folgen.

Nicht weniger detailgenau und zugleich ergreifend nachfühlbar erzählt geht es im zweiten Teil um Zalcmans Schicksal ab 1933, in Sowjetrußland, wo er mitarbeiten wollte am Aufbau einer menschenwürdigen "neuen" Gesellschaft. Dieses Engagement führte für Zalcman in Stalins paranoidem Staatssystem zu Verhaftung, Gefangenschaft, Folterung, Zwangsarbeit (1937-47) und Verbannung (1948-56).

Zalman berichtet von ökonomischen und alltäglichen Lebensumständen der Bevölkerung in Rußland, in Sibirien und (für die Zeit nach 1948) in Georgien. Wir erfahren nuancierte (auch strukturelle, sozialpsychologische) Einzelheiten zu Leid, Tod und zum Überleben unter menschenunwürdigen, von bürokratischer Indolenz, Machtmißbrauch, menschlicher Abstumpfung und Sadismus geprägten Umständen. Zalcman berichtet von entsetzlichen, kaum glaublichen bürokratisch-terroristischen Gewalttaten gegen einzelne Menschen. Insbesondere in Zalcmans Bericht aus seiner Zeit in Georgien (1948-56) wird sinnlich nachvollziehbar, wie der Alltag einer durch Korruption, Seilschaften, Bürokratenwillkür, Staatskapitalismus und organisiertes Banditentum der Funktionäre verkrebsten Gesellschaft abläuft.

Moshe Zalman (geboren 1909) hat seinen Lebensbericht auf Jiddisch geschrieben; im Jahr 1977 wurde er in französischer Übersetzung veröffentlicht. Eine deutsche Ausgabe erschien 1982 im Verlag Darmstädter Blätter. Während der Autor und sein Bericht in Frankreich bis heute medial präsent ist, wurde das Buch in der Bundesrepublik offenbar kaum zur Kenntnis genommen. Hier erscheint es in seiner ersten Neuausgabe.

Zum Thema Stalinismus siehe auch das bei A+C wiederveröffentlichte Buch von Victor A. Kravchenko: Als Funktionär im sowjetischen Stalinismus.

auc-160-zalcman (pdf 4,4 MB)