Victor Kravchenko: ALS FUNKTIONÄR IM SOWJETISCHEN STALINISMUS

("I Chose Freedom", 1946)

Victor A. Kravchenko wurde geboren am 11. Oktober 1905 in Jekaterinoslaw (heute Dnipro/Ukraine); er starb am 25. Februar 1966 in Manhattan. Er war ein sowjetischer Ingenieur und späterer Handelsdiplomat in Washington, D.C., der dort 1944 um politisches Asyl gebeten hatte. Sein 1946 veröffentlichtes Buch I CHOSE FREEDOM war das erste umfassende Zeugnis zur terroristischen Bürokratie des sowjetischen Stalinismus jener Zeit. Es erregte weltweites Aufsehen und wurde in viele Sprachen übersetzt.

Für Menschen in westlichen Ländern, die damals oft in gläubiger Unbedingtheit an ihrem Ideal einer fortschrittlich menschenwürdigen Sowjetgesellschaft hingen, bedeutete Kravchenkos Zeugnis Skandal und Tabubruch – wogegen eine Vielzahl auch prominenter Intellektueller und Künstler mit allen Mitteln der medialen Öffentlichkeit Einspruch erhob. In einer kommunistisch orientierten französischen Zeitung erschien ein diffamierender Artikel, in dem nicht nur die Aussagen des Kravchenkobuches insgesamt bestritten, sondern auch der Autor in jeder nur möglichen Weise persönlich diffamiert wurde. Deshalb verklagte Kravchenko die Zeitung wegen Verleumdung. In einem ebenfalls aufsehenerregenden Prozeß (1949) wurde monatelang gestritten – nicht eigentlich um ein Buch oder Kravchenkos Persönlichkeit, sondern um die Situation im sowjetischen Staat!
Victor Kavchenkos Zeugnis in Verbindung mit dem von ihm angestrengten Prozeß (den er gewann) lenkte erstmals die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die menschenverachtenden, die mörderischen Zustände in der stalinistischen Sowjetunion.

Auf Grundlage des Prozesses konzipierte Kravchenko sein zweites buch: I CHOSE JUSTICE (New York 1950). Es bleibt wohl die gewichtigste Veröffentlichung zum Prozeß und ist zugleich eine bedeutende Ergänzung zum ersten Buch.
I CHOSE JUSTICE stellt den Pariser Prozeß, Kravchenkos Recherchearbeiten im Vorfeld und den grundsätzlichen Ablauf übersichtlich dar. Jedoch liegt der Schwerpunkt in Kravchenkos zweitem Buch deutlich auf den Zeugnissen der überlebenden Stalinismus-Opfer (sei es im Zusammenhang mit der Zwangskollektivierung oder der Verschleppung in Zwangsarbeitslager). Hier stand Gerechtigkeit für die schuldlosen Opfer dieses Regimes im Mittelpunkt – die vielleicht allenfalls durch das öffentliche Zeugnis, das Urteil der Geschichte möglich ist! Hier konnten Menschen einfach von dem Leid berichten, dem sie ausgesetzt waren und das sie vielleicht für den Rest des Lebens begleiten sollte – ohne kritische Befragungen und diskriminierende Zweifel. (Der Anhang der vorliegenden Veröffentlichung enthält eine kurzgefaßte Übersicht der ausführlicheren Zeugenaussagen sowie Namen vieler Opfer, die in jenem Buch genannt wurden.)

Spätestens nach dem russischen Überfall auf die Ukraine läßt sich die Frage nicht verdrängen, inwieweit es innere Verwandtschaften geben könnte zwischen dem sowjetischen Stalinismus (auch der Zeit nach Stalin) und dem von Wladimir Putin bestimmten aktuellen politischen System in Rußland. Ich meine, wir (im Westen) sollten uns bemühen, mehr zu verstehen von unserem Nachbarn Rußland, von der Entwicklung der russischen Gesellschaft, vom Lebensgefühl und Lebenssituation auch der dörflichen und kleinstädtischen Bevölkerung dieses größten Flächenstaates der Welt, um von daher den an der Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft in Rußland Interessierten solidarisch die Hand reichen zu können.

Victor Kravchenko lebte in den 50er Jahren meistens in Südamerika, wo er einen Großteil seines (durch die unzähligen Auflagen seines ersten Buches verdienten) Vermögens nutzte, um Silber- und Kupferminen zu finanzieren. Auch Projekte zur Organisation der armen Bauern in Genossenschaften scheint er dort unterstützt zu haben. Angeblich hatte er zunächst beträchtlichen Erfolg als Prospektor und Bergwerksunternehmer. Zeitweise hielt er sich in New York und auf der Ranch seiner Gefährtin Cynthia Earle in Arizona auf, bei seinen Söhnen Anthony und Andrew. Die Unternehmungen in Südamerika waren auf lange Sicht erfolglos, Kravchenko scheint deshalb viel Geld verloren zu haben.
In dieser Zeit erreichten ihn Gerüchte, daß seine Verwandten in den Lagern umgekommen seien.
Kravchenko hatte offenbar auf das mit Chruschtschow verbundene "Tauwetter" in der Sowjetunion gehofft. Dessen Sturz (1964) deprimierte ihn tief.
Am 25. Februar 1966 wurde Kravchenko mit einer Schußwunde in seiner Wohnung in Manhattan gefunden.

Kravchenkos Buch I CHOSE FREEDOM erschien auf Deutsch 1947 in Zürich, zwei Jahre später kam eine Ausgabe in Hamburg heraus, dann war Schweigen in der ja keineswegs kommunistenfreundlichen jungen BRD. Auf dem Hintergrund der kollektiv verdrängten NS-Vergangenheit tat sich die westdeutsche Öffentlichkeit möglicherweise besonders schwer damit, über eine menschenverachtende, terroristische Diktatur nuancierter nachzudenken.
Die hier vorliegende Ausgabe beim Verlag Autonomie und Chaos (2023) ist die einzige deutschsprachige Wiederveröffentlichung des Buches. (Demgegenüber gibt es zwei englische und eine französische Wiederveröffentlichungen.)

Der Anhang der vorliegenden Veröffentlichung enthält neben einer ausführlichen inhaltlichen Übersicht zu Kravchenkos zweitem Buch  einen Aufsatz des Historikers Sebastian Voigt (zur Bedeutung des Kravchenkoprozesses für die Dissidentin und GULAG- wie KZ-Überlebende Margarete Buber-Neumann), Exzerpte aus Veröffentlichungen von Swetlana Alexijewitsch (zur Situation im nach-sowjetischen Rußland) sowie von Arthur Koestler (einem seinerzeit prominenten Dissidenten). Von einer russischen Website stammt Alex Klevitskys Bericht zu Victor Kravchenkos nachgelassenem Archiv. Die Literaturliste enthält vor allem Hinweise zu autobiographischen und belletristischen Werken russischer und sowjetischer Autor*innen; auch auf Dokumentationen zu Kravchenkos Prozeß sowie andere Arbeiten zum Thema Stalinismus wird im Anhang hingewiesen. Die Neuveröffentlichung enthält außerdem Fotos aus dem Prozeß sowie ein Nachwort des Herausgebers (MvL), in dem mögliche Kontinuitäten der russischen Gesellschaft (von der Zarenzeit bis zum Putin-Regime) zur Diskussion gestellt werden.

Zum Thema "Stalinismus" siehe auch das bei A+C wiederveröffentlichte Buch von Moshe Zalcman: Als jüdischer Arbeiter in Polen und im stalinistischen GULAG.

!- Grundlegender Widerspruch der "Söldnergruppe Wagner" zu den taktischen Begründungen des Putin-Regimes für den Krieg gegen die Ukraine! (23./24.6.23) ! - Der Anführer der Gruppe (Jewgeni Prigoschin) kam bei einem ungeklärten Frlugzeugabsturz ums Leben (August 2023).

! - Der oppositionelle Politiker Alexei Anatoljewitsch Nawalny ist seit 2021 inhaftiert und muß eine mehrjährige Gefängnisstrafe absitzen. Im August 2023 wurde ein weiteres Urteil gegen Nawalny bekannt gegeben und die Zeit im Straflager auf 19 Jahre Haft erhöht. - !  Kam im Februar 2024 im Gefängnis ums Leben.

 

 

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