Bis heute entzünden gerade zitate aus werken von theodor w. adorno etwas in mir, schon wenn ich in texten anderer über sie stolpere, sie machen mir mut, nicht selten hole ich das entsprechende buch aus dem regal und lese mich mal wieder fest. Nur intellektuelle reflexion bewirkt nichts (jedenfalls nichts gutes); ein impuls aus dem kern des menschseins muß hinzutreten; gerade adornos sätze wecken und stärken diesen impuls bei mir.
In diesen hier gesammelten zitaten ist adornos ebenso sensibler wie kritischer, sein analytischer wie solidarischer blick auf die menschen zu spüren: unter arbeitskollegen und in familien, in der straßenbahn wie beim einkaufen, in schulen und ämtern, in medien und in der kunst, beim small talk und bei akademischen disputen. Wie sind sie? Warum sind sie, wie sie sind? Welche ursachen hat das, und welche folgen? Sämtliche im verlagsprojekt AUTONOMIE UND CHAOS BERLIN veröffentlichten arbeiten haben, wie subtil oder gebrochen auch immer, mit solchen fragestellungen, mit überlegungen und erkenntnissen adornos zu tun.
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Die vor allem mit THEODOR W. ADORNO und MAX HORKHEIMER verbundene, seit 1937 im exil entstandene Kritische Theorie ist seit langem aus dem öffentlichen interesse verdrängt worden. Assoziiert wird sie heutzutage zumeist mit dem ambivalenten verhältnis zwischen adorno und der protestbewegung ab 1968 sowie mit ihrer angeblichen weiterentwicklung durch jürgen habermas und dessen philosophische schüler. Die Kritische Theorie (im sinne horkheimers und adornos) wurde jedoch weder unwahr noch irrelevant. Im gegenteil – die weltweiten gesellschaftlich-politischen entwicklungen der letzten fünfzig jahre bestätigen in erschreckender prägnanz ihre analysen, hypothesen und antizipationen.
Als einer von wenigen hatte der junge philosophieprofessor martin puder anfang der 70er jahre zurückverwiesen auf essentielle aspekte der Kritischen Theorie, die in dieser zeit aus dem philosophischen wie dem gesellschaftspolitischen diskurs jener zeit zunehmend abgedrängt wurden. Puders verstummen in der publizistischen öffentlichkeit seit den 80er jahren bedeutet zweifellos eine lebensentscheidung. "Heute zielt alles darauf, die objektive Verzweiflung, die Adornos Philosophie motiviert, zu verscheuchen", schrieb er in einem essay.
Martin puders hier erstmals zusammengetragene essays sind mitreißende, sternschnuppenhaft funkelnde einführungen in momente der Kritischen Theorie (mit schwerpunkt auf adornos werk) nicht für fachwissenschaftler mit zwei professoralen generationen sekundärliteratur im hinterkopf, sondern für menschen, die vorrangig ihre eigenen erfahrungen zur grundlage der reflexion über die menschenwelt machen. Puders arbeiten verstehe ich vorrangig als anknüpfungspunkte, die dazu beitragen könnten, von adorno zu lernen für unsere zeit. "Um zu sehen, wie aktuell Adorno ist, muß man nur die Zeitung aufschlagen", sagte christoph türcke in seinem referat auf der Berliner Adorno Tagung 1989. Oder heutzutage im internet surfen.
Wohl als erster hatte michail gorbatschow ab 1986 auf die unabwendbare notwendigkeit einer "weltinnenpolitik" hingewiesen. Die katastrophe von tschernobyl, die von brutalster gewalt bestimmten bürgerkriege auch hier in europa, das flugzeugattentat auf das WTC, genozid und flüchtlingsströme, die überall auf der welt eskalierende umweltzerstörung, aber auch fundamentale soziologische und sozialpsychologische veränderungen im zusammenhang mit der informationstechnologie, neuerdings die irrationale eskalation zwischen NATO und dem russischen machtzentrum.. – nichts davon sollte uns überraschen; diese prozesse lassen sich zumindest strukturell verstehen auf grundlage von sozialphilosophischen konzeptionen und hypothesen der Kritischen Theorie. Reflektiert wird jedoch über sie (zumindest in den medien) vorrangig auf der ebene politisch-taktischer erwägungen und reaktionsmöglichkeiten. Bei politischen handlungsträgern ist das nicht unbedingt anders.
Der autor martin puder wurde 1938 geboren. er studierte 1956 bis 1961 in berlin germanistik und altphilologie. Nach dem staatsexamen war er über ein jahr in indien, indochina und japan. 1963 kehrte er nach westdeutschland zurück und begann in frankfurt philosophie zu studieren. Die promotion (mit einer arbeit über kant) erhielt er bei theodor w. adorno und jürgen habermas. Puder war bis zu seiner emeritierung professor für philosophie an der Leibniz-Universität Hannover. Öffentliche wortmeldungen von ihm gibt es nur bis 1985; er starb im jahr 2000.
Einige von martin puders aufsätze waren für mich in den 70er jahren erste orientierungshife im umkreis der Kritischen Theorie. In ihrem unprätentiösen engagement sind sie weiterhin lesenswert und selbst noch relevant. Sie sollten bewahrt werden; auch deshalb diese veröffentlichung.
Mein nachwort skizziert den standort der Kritischen Theorie während der 68er-zeit und gibt hinweise auf aktuelle arbeiten zu ihren intentionen und ihrer relevanz für das 21. jahrhundert.
In der 2. auflage wurde ein text hinzugefügt, die 3., wesentlich erweiterte auflage im november 2016 (neuausgabe) enthält zusätzlich die erstveröffentlichung einer vollständigen vorlesung martin puders: WIRKUNG UND ERFOLG DER KRITISCHEN THEORIE (hannover, WS 84/SS 85) sowie zwei weitere kleine texte. Ein schwerpunkt der vorlesung ist die bedeutung WALTER BENJAMINs innerhalb der Kritischen Theorie.
Diese neuausgabe enthält einige zusätzliche abbildungen, auch das nachwort wurde erweitert.
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Heutzutage werden in der Öffentlichkeit mit dem Namen Theodor W. Adorno (1903-1969) zumeist wohl seine umfangreichen philosophischen Arbeiten zur ÄSTHETISCHEN THEORIE und zur NEGATIVEN DIALEKTIK verbunden, gelegentlich auch Adornos aphoristische Sammlung MINIMA MORALIA und die mit Max Horkheimer verfaßten Aufsätze der DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG. Der Begriff der Autoritären Persönlichkeit geistert immerhin gelegentlich durch die Medien, auch Adornos Bedeutung in Zusammenhang mit der sogenannten Studentenbewegung um 1968. Inwieweit Adorno gelesen, verarbeitet wird, steht auf einem anderen Blatt.
Theodor W. Adornos tiefgründige Reflexion halte ich mehr denn je für unverzichtbar angesichts der erschreckenden und hilflos machenden globalen gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. In vielen Aspekten sind seine Überlegungen noch immer tiefgründiger und relevanter als Arbeiten, die sich an ihm abzuarbeiten meinen.
In diesen beiden Vorträgen bringt Adorno Zusammenhänge auf den Punkt, die grundlegend sind für seine Sozialphilosophie und zugleich präzise unsere Gegenwart betreffen: Mediale und administrative Macht- und Einflußzusammenhänge auf dem Hintergrund von Ökologie, Internet, neuem Nationalismus, Krieg. Keineswegs sind es "Nebenarbeiten". Nicht zuletzt können gerade diese eher alltäglich orientierten Überlegungen sensibilisieren für Adornos bis in winzige Momente hinein dialektisches Bewußtsein: jenseits aller Schwarz-Weiß-Dichotomie; genau dies brauchen wir heute, um uns in den Gespinsten der online-Gesellschaft auch nur ansatzweise zu orientieren, um nicht der Kakophonie interessengeleiteter (oder einfach engstirniger) medialer Rhetorik zu unterliegen.
Adorno, ein verschollener Autor? Das natürlich nicht. Aber ein zu wenig gelesener.
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