Antonina Piroshkova: AN SEINER SEITE. ISAAK BABELS LETZTE JAHRE

Neu im November 2024

Isaak Babel wurde 1894 in eine Familie von jüdischen Händlern im Moldawanka-Quartier in Odessa geboren. Im Jahr 1920 wurde er auf dem Höhepunkt des russischen Bürgerkriegs als Reporter der Reiterarmee des Generals Budjonny zugeteilt. Aus diesen Erfahrungen entstand die Novellensammlung DIE REITERARMEE (1926).
Nachdem er nach Odessa zurückgekehrt war, begann Babel eine Serie von Kurzgeschichten über das Leben im Odessaer Viertel Moldawanka vor und nach der Oktoberrevolution zu schreiben. Diese wurden zunächst in verschiedenen Magazinen und Zeitschriften veröffentlicht, 1931 erschienen die gesammelten Erzählungen unter dem Titel GESCHICHTEN AUS ODESSA als Buch.
1930 reiste Babel durch die Ukraine und sah die Brutalität, mit der die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Als Stalin seinen Griff um die sowjetische Kultur festigte und besonders nach dem Entstehen des "Sozialistischen Realismus" begann Babel sich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen.
Seit 1932 war Antonina Piroshkowa seine Partnerin.
Nach 1935 arbeitete er mit dem Regisseur Sergei Eisenstein zusammen. 1935 erschien sein zweites Theaterstück Marija im Druck. Es spielt im revolutionären Petrograd nach 1917, in einer Stadt des Elends und des Todes. Die scharfen Reaktionen auf die Veröffentlichung führten zum Abbruch der Proben an verschiedenen Theatern. Es wurde an keiner sowjetischen Bühne aufgeführt.
Nach dem Tod Maxim Gorkis 1936 verbrachte Babel seine Zeit in der ständigen Angst, verhaftet zu werden. 1939 wurde er beschuldigt, für den Westen spioniert zu haben. Babel wurde während der Verhöre schwer gefoltert und gab schließlich zu, Mitglied einer trotzkistischen Gruppe gewesen zu sein, für die ihn Ehrenburg und der französische Schriftsteller André Malraux bei seinem Paris-Aufenthalt angeworben hätten. Am Tag der Gerichtsverhandlung widerrief er das erzwungene Geständnis. Dennoch wurde er am 26. Januar 1940 von einem Tribunal für schuldig befunden und am darauffolgenden Tag im Gefängnis Butyrka erschossen. Ein Teil seines unveröffentlichten Werks wurde vernichtet.
Am 23. Dezember 1954 wurde Babel öffentlich von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen freigesprochen.

Antonina Nikolajevna Piroshkova (1909–2010) wurde in Krasny Jar (Nariinsk, Sibirien) geboren. Sie wurde Bauingenieurin; nach 1934 war sie Chefdesignerin beim Moskauer Metroprojekt und Konstrukteurin einiger Metrostationen. Isaak Babel lernte sie 1932 kennen, zwei jahre später verbanden sie sich in einer nichtregistrierten Ehe. Von der Zeit mit Babel berichtet ihr vorliegendes Buch.
Beider Tochter, Lydia (Lidiya) Isaakovna Babel, wurde 1937 geboren. Sie wurde später Architektin.
Während des Deutsch-Sowjetischen Kriegs war Piroschkowa mit ihrer Tochter in Abchasien evakuiert. Sie leitete dort eine Ingenieursgruppe für den Bau von Eisenbahntunneln im Kaukasus. In den 1950er Jahren war sie an Bauprojekten in den Kurort-Bezirken im Kaukasus beteiligt.
1956 bekam sie eine Dozentur am Moskauer Verkehrsinstitut, wo sie bis zu ihrem Ruhestand den Lehrstuhl für Tunnel und Untergrundbahnen innehatte. Sie war Mitautorin des ersten russischen Lehrbuchs für Tunnel- und Untergrundbahnbau.
Piroshkova ging 1965 in den Ruhestand und sammelte nun Materialien zu Leben und Werk Babels. 1996 emigrierte Piroschkowa in die USA. 1989 erschienen die hier wiederveröffentlichten Erinnerungen in Moskau, 1993 in der deutschen Ausgabe.

In Antonina Piroshkovas Erinnerungen wird uns Isaak Babel in seiner vielschichtigen Persönlichkeit vorstellbar… und auch seine Hoffnung auf die Perspektive einer menschenwürdigen Gesellschaft in der frühen Sowjetunion. Piroshkova berichtet von der unversiegbaren Achtsamkeit, mit der Babel Einblick nahm in politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge überall in der Sowjetunion, immer auf Grundlage von persönlichen Kontakten mit den Menschen vor Ort und im Bemühen, seine Erfahrungen mit der komplexen und widersprüchlichen Realität der damaligen Sowjetunion zu erweitern.
Dieses schmale Buch läßt eine Wahrheit der zweiten russischen (der sowjetischen) Revolution ahnen, die nichts von dem sich aus ihr entfaltenden stalinistischen Terror relativiert, aber einen grundlegend anderen Aspekt zeigt. Die hier deutlich werdende, tiefgründig an Menschenwürdigkeit orientierte Haltung Isaak Babels (und anderer damaliger Aktivist*innen, mit denen er befreundet war) hatte möglicherweise die Neigung verstärkt, sich einer "Partei", einem System unterzuordnen: in der Vorstellung, daß allenfalls auf Grundlage einer derartigen hierarchisch strukturierten Kollektivität "das Gute" obsiegen kann. Zeugnisse wie dasjenige von Antonina Piroshkova sind unersetzlich für das sozialpsychologische Nachdenken über diese Fragen (sofern sich überhaupt noch jemand für derlei interessiert, was ich manchmal bezweifle).

Dieser ganz und gar unprätentiöse Bericht steht geradezu kontrapunktisch zu Babels REITERARMEE; es zeigt Babels revolutionären Alltag, für den die Oktoberrevolution gekämpft hatte. Jetzt schien dieser Alltag endlich lebbar zu werden – jedoch lauerte im Hintergrund längst die Zerstörung durch den paranoid terroristischen Stalinismus. Piroshkovas knapper Bericht liest sich wie eine Novelle von Babel über den Schriftsteller Babel – aber es ist mehr: eine Anklage des Stalinismus, die gerade durch das in Piroshkovas Sätzen zu spürende verhaltene Lebensleid nicht weniger eindringlich ist als manche umgangreichen Zeugnisse.

Ähnlich wie Maxim Gorki, wurde auch Isaak Babel als Aktivist der bolschewistischen Revolution, der frühen Sowjetunion, in der BRD vor 1990 kaum rezipiert. Neue Veröffentlichungen deuten darauf hin, daß sich hier seit der Jahrtausendwende etwas zu ändern scheint. Am Anfang dieser Wiederentdeckung Babels standen Antonina Piroshkovas Erinnerungen.

auc-187-piroshkova (pdf 1,8 MB)