Erna Saenger: GEÖFFNETE TÜREN. Lebenserinnerungen 1876-1976

Neu im Dezember 2023

Erna Wehr, geboren im September 1876 in Kensau (Westpreußen) , gestorben im November 1978 in Berlin, stammte aus einer großbürgerlichen Gutsherrenfamilie. Bestimmend für ihr Leben war ihr alltäglich gelebtes Christentum sowie ihr Engagement für Kindererziehung und Sozialarbeit. So absolvierte sie ab 1896 eine Berufsausbildung im Pestalozzi-Fröbel-Haus (P.F.H.) Berlin, einer der ersten Ausbildungsstätten für das damals neue Berufsbild Sozialarbeit. Durch ihre Ehe mit dem preußischen Staatsbeamten Konrad Saenger lebte sie ab 1911 in Berlin in bildungsbürgerlichen Verhältnissen.
Kern ihrer Lebenserinnerungen waren Auszüge aus ihrem (lebenslang geführten) Tagebuch. Sie wurden von der Autorin organisch eingebunden in die direkt für das Erinnerungsbuch verfaßten Passagen. Das Buch ist ein Dokument der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit: zur Situation der Gutsherrschaft in Westpreußen (heute Polen) und zugleich zum Lebensgefühl preußischer Staatsbeamten und etablierter Akademiker in Berlin. Deutlich wird eine wie selbstverständliche Amalgamierung von preußischem Nationalismus (einschließlich des Glaubens an "das Urdeutsche") und christlichem Ethos mit Momenten der nazistischen Ideologie. So ist das Buch ideologiegeschichtlich möglicherweise repräsentativ für die entsprechende Schicht von Großbürgern, Beamten und Adligen in Deutschland (vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, im Nationalsozialismus sowie dann noch einmal aufflammend in den ersten Jahrzehnten der BRD).

Das Einzigartige liegt in der bis ins hundertste Lebensjahr ungebrochenen vitalen Reflexionsfähigkeit der Autorin, in die ihre lebenslang geführten Tagebücher einbezogen werden. Es entsteht ein seltenes Gleichgewicht der reflexiven Präsenz ihrer Lebenserfahrung, dies nicht als nostalgisch orientierte Rückschau, vielmehr nimmt die Autorin damalige Blickwinkel, Erfahrungen, Einschätzungen mit in die Gegenwart, konfrontiert heutige soziale, gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten mit ihnen und lädt ihre Leser*innen ausdrücklich zum Mitdenken ein. Dabei gelingt ihr ein "beidäugiges Sehen", aus dem wir viel lernen können. Dies wäre kaum möglich ohne eine ungebrochene Lebenszugewandtheit, die bei ihr viel mit ihrer Beheimatung im christlichen Glauben zu tun hat, aber auch in der Verbundenheit mit der Familie liegt. Kostbare Zeitzeugin ist sie auch, weil sie (subjektiv, mit Herz und Verstand) das politisch-soziale Leben spiegelt – einschließlich der Ideologeme und Verirrungen, denen auch sie unterworfen war. Erna Saenger hat lebenslang weitergelernt, jedoch ohne ihre Vergangenheit (wie sie in den Tagebüchern dokumentiert war) retrospektiv umzuinterpretieren.

Schwerpunkte der Lebenserinnerungen sind Kindheit und Jugend auf dem westpreußischen Gutshof – Aufenthalte in Berlin – Die Anfänge der Sozialarbeit – Erster Weltkrieg (nationalistisch-preußischer Taumel) – tätige Nächstenliebe in Kensau – Leben in Berlin (Dahlem) –Kirchenkampf im NS – lebendige Christlichkeit – Alltag im Zweiten Weltkrieg – Familienleben.

Saengers einfühlsame, genuin sozialarbeiterische Haltung zeigt sich nicht zuletzt in der nuancierten Darstellung des dörflichen Lebens in Kensau. Leid und Freude, Probleme, Begrenztheiten und persönliche Ressourcen der Kleinbauern und Landarbeiter werden in den skizzierten Dialogen vorstellbar.

Gespenstisch alltäglich liest sich der Bericht vom kollektiven Wahn zu Beginn des Ersten Weltkriegs, einem Wahn, mit dem die Autorin offenkundig noch 60 Jahre später identifiziert ist. Nachvollziehbar wird auch, wie die affektiv besetzte Deutschtümelei in den Kriegsjahren weiterging und, entsprechend pointiert, die Verinnerlichung der nazistischen Ideologie im Volk begünstigte und stabilisierte. Politik wird in Saengers Buch jedoch nicht problematisiert; sie schreibt: "Politik also nicht — historisches Geschehen umso mehr." Diese eigenartige Abgrenzung zieht sich durch Erna Saengers Buch. Politik ist das Parteiengerangel, menschliches Irren und Wirren, historisches Geschehen ist das Dauerhafte, womit "man" sich identifizieren möchte.

Während der NS-Zeit war Erna Saenger eingebunden in den Dahlemer Kreis der "Bekennenden Kirche" (um Martin Niemöller). Nicht nur in diesem Zusammenhang dokumentiert sie christliche Diskussionsprozesse und Kontroversen, so zwischen deutsch-völkischen ("heidnischen"), deutsch-christlichen und traditionellen christlichen Haltungen und den Positionen des "Kirchenkampfs". Die Bedeutung dieses Zeugnisses liegt nicht zuletzt darin, daß Erna Saenger sich auch hier ihr Selbstdenken erhalten hat und sich offenbar keiner der Gruppierungen pauschal angeschlossen hat. Selbst die "einseitige, prinzipielle Verurteilung der DC" (NS-nahe, antisemische Gruppierung Deutsche Christen) wollte sie "nicht mitmachen".

Nachvollziehbar wird für mich, wieviel Kraft (Ressourcen) es Menschen gegeben haben kann, für die der christliche Glaube, die Orientierung an christlichen Texten, Sprüchen und Liedern tatsächlich das alltägliche Leben mitbestimmt hat.
Sinnlich nachvollziehbar wird allerdings auch die Kehrseite dieser Christlichkeit. Mit den Ideologemen des christlichen Weltbild läßt sich alles menschlich Verwerfliche integrieren – nämlich als das zu Überwindende, wofür die christliche Religion die Werkzeuge selbstverständlich zur Verfügung stellt; das Böse, das sind Aufgaben Gottes. Auch das christliche Weltbild ist ein geschlossenes System, in dem alles seinen Platz findet, sobald es einmal geschehen ist: auch der Nazismus, der Stalinismus, jedes Verbrechen. Für jede Lebenssituation gibt es ein Bibelzitat, wodurch das entsprechende Phänomen in den Gesamtzusammenhang des christlichen Weltbilds gestellt werden kann; es liegt dann nur noch am Einzelnen, eine biblisch legitimierte Umgangsweise dafür zu finden; die Autorin macht es uns vor.

In Erna Saengers Buch entsteht der Eindruck, daß die Ablehnung der Nationalsozialisten in ihrem Kreis (auch innerhalb des sogenannten "Kirchenkampfes") zunächst vorrangig damit begründet wurde, daß die Nazis die beiden Amtskirchen nicht anerkannten. "Dem Nationalsozialismus stand Saenger ablehnend gegenüber. Insbesondere missfiel ihm, dass der Staat die evangelische Kirche immer mehr beeinflusste", heißt es in einer ausführlichen Würdigung Konrad Saengers. War das nun wirklich das Schlimmste, was den Nazis vorzuwerfen wäre?
Hitlers Buch MEIN KAMPF (1925/27) wurde offenbar weder von dem professoralen Philosophen Eduard Spranger noch im Umkreis der hochgebildeten Familie Saenger rezipiert.
Im Anhang des Nachworts werden beispielhaft einige Passagen aus Hitlers programmatischer Schrift dokumentiert. Ihre gnadenlose, wahnsinnige, in der Konsequenz mörderische Rationalität war die Kehrseite einer an christlicher Nächstenliebe und unbedingter Lebenszugewandtheit orientierten Gutbürgerlichkeit, von der Erna Saenger glaubwürdig und sympathisch erzählt.

(Aus dem Nachwort)

auc-175-saenger (pdf 2,8 MB)