Ferenc Körmendi: Die ungarische Jugend des Paul Hegedüs

Der ungarische Schriftsteller Ferenc Körmendi stammt aus einer assimilierten jüdisch-ungarischen Beamtenfamilie; er wurde geboren in Budapest am 12. Februar 1900 und starb in Maryland (USA) am 20. Juli 1972. Er studierte Jura, Geschichte und Musiktheorie, arbeitete als Beamter und Journalist, zwischen 1919 und 1922 veröffentlichte er Musikrezensionen. Von seinem Roman BUDAPESTI KALAND (1932) wurden in Ungarn innerhalb weniger Monate 15.000 Exemplare verkauft; zu diesem Zeitpunkt waren bereits die englischen, amerikanischen, deutschen, niederländischen, schwedischen, italienischen, französischen, spanischen, dänischen und norwegischen Ausgaben vorbereitet, weitere Übersetzungen folgten. 1934 veröffentlichte er den hier vorliegenden Roman A BOLDOG EMBERÖLTŐ, auf Deutsch 1935 unter dem Titel "Abschied vom Gestern". Die hier vorliegende vollständige Neuausgabe 2024 trägt den Titel DIE UNGARISCHE JUGEND DES PAUL HEGEDÜS.

1939, nach der Umsetzung des ersten und zweiten antijüdischen Gesetzes in Ungarn, das die Zahl der Juden einschränkte und sie dann gänzlich aus Regierungsbüros und Zeitungen verbannte, emigrierte Körmendi nach London, 1946 zog er nach Nordamerika. Als liberaler Demokrat konnte er auch nach 1945 nicht in Ungarn leben; er war ebenso Antikommunist wie Antifaschist. Bekannt wurde Körmendi in der Folge durch englisch geschriebene oder ins Englische, ins Deutsche und in andere Sprachen übersetzte Werke. In Ungarn hatte er kein Publikum mehr; dies hat sich offenbar noch kaum geändert. Ferenc Körmendi starb 1972 in Bethesda, Maryland.

DIE UNGARISCHE JUGEND DES PAUL HEGEDÜS (A boldog emberöltő) ist ein großangelegter Entwicklungsroman um den 1900 geborenen Paul Hegedüs, Sohn einer gutbürgerlichen jüdisch-ungarischen Familie. Bedeutenden Stellenwert haben innere Bewußtseinsbewegungen Pauls, subtile Szenen zwischen Traum, Tagtraum, Erinnerung, Phantasie sowie seelischer Verarbeitung bedeutsamer Erfahrungen. Bezugspersonen, an denen der junge Paul sich orientieren könnte, findet er nicht. Auch seine sehnsuchtsvollen Versuche einer Annäherung an die Eltern, den älteren Bruder oder später die Stiefmutter bleiben weitgehend ohne Antwort. Paul erfährt zumehmend bewußt sein Alleinsein unter den Menschen. Dies führt jedoch bereits im Kindesalter zu einer vermutlich eher seltenen Entwicklungslösung, die zum zentralen Motiv des Romans wird und sich auch in Körmendis anderen Werke wiederfindet. Es handelt sich um eine Satori-Erfahrung als Kind. Hier erfährt Paul erstmalig "das Alleinsein, die Seligkeit, das Wunder (…) – und in dieser Sekunde erfuhr er oder fühlte er zum erstenmal, was es bedeutet: von seinem Selbst Abschied zu nehmen und zurückzukehren in die Welt."

In Körmendis Roman schaut der Erzähler auf das Geschehen, als sei es Gegenwart oder ein Film ; gelegentlich wendet er sich sogar an seine Leser*innen als Mit-Beobachtende. Körmendis psychologisch überzeugende Darstellung wird nie psychologistisch einseitig, die Erzählung bleibt ein dichtes Gewebe aller Momente des sozialen und individuellen Lebens, ist immer bestimmt von einer grundlegenden und nie relativierten Liebe zum Leben.

Der ungarische Literaturhistoriker und Schriftsteller Géza Hegedüs schrieb in einem längeren Aufsatz 1991 über das Buch:
Es ist kaum möglich, sich einen größeren Werteabstand vorzustellen, als wenn wir die Romane von Ferenc Körmendi lesen und dann ihre innenpolitischen Kritiken und literaturhistorischen Charakterisierungen lesen. Das literarische Leben und die literaturgeschichtliche Nachwelt konnten und können es einfach nicht ertragen, dass in unserem Jahrhundert ein sehr talentierter Schriftsteller unter uns lebte, der versuchte, mit der Bereicherung der Weltliteratur Schritt zu halten, mit einer europäischen Perspektive und einem guten europäischen Standard, dessen Der internationale Erfolg war größer als bei jedem anderen ungarischen Prosaschriftsteller. (…) wirklich das Werk eines ungarischen Prosaschriftstellers mit europäischem Geist, wahrscheinlich von bleibendem Wert. – Aber warum besteht diese Abneigung, die man sogar Wut nennen kann, auch jetzt noch, etwa zwei Jahrzehnte nach seinem Tod? Es wäre schwierig, darauf eine Antwort zu finden. Immerhin präsentiert das kürzlich erschienene KLEINE LEXIKON ZEITGENÖSSISCHER UNGARISCHER SCHRIFTSTELLER die ungarischen Schriftsteller, die zwischen 1959 und 1988 lebten und im In- und Ausland eine Heimat fanden – die vielen Emigranten und Literaturpatrioten, die ins Ausland gingen, darunter nicht wenige unbedeutende "Little Masters" ebenfalls aufgeführt ist, wird dort nicht einmal der Name von Ferenc Körmendi erwähnt. (…) Schon damals war A BUDAPESTI KALAND (Versuchung in Budapest) ein Meisterwerk, und heute, sechzig Jahre später, ist es ein tragikomisches Porträt der kleinen Kämpfe einer vergangenen Zeit. Es ist ein ironisches, düsteres, verwinkeltes und doch eintöniges Panorama der Traumwelt und düsteren Alltagswirklichkeit des ungarischen Kleinbürgertums in Budapest.
(…) Danach schreibt er langsam und behutsam den großen Roman, der wohl als das Meisterwerk seines Lebens gelten dürfte: A BOLDOG EMBERÖLTŐ. – Sein Held ist eine der typischen Möglichkeiten dieser Zeit: der halbjüdische Junge, dessen Situation jeden betrifft und nicht ganz die gleiche ist wie die aller anderen. Der Leser hat das Gefühl, den bedeutendsten Roman dieser Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zu lesen. Körmendi war in der damaligen Weltliteratur zu Hause; in der Kritik hieß es früher, er habe westliche Formen nachgeahmt, obwohl er nur mit ihnen übereinstimmte. A BOLDOG EMBERÖLTŐ wurde so kritisiert und verurteilt, daß die verborgene Verzückung Schritt für Schritt nachgelesen werden kann.

Im Verlag G. B. Fischer, Frankfurt/M. erschien 1953 eine Neuauflage des Romans. Sie hat 746 Seiten (gegenüber 1048 Seiten in der deutschen Erstausgabe 1935). Im Impressum findet sich kein Hinweis auf eine Kürzung; auf der Rückseite des Schutzumschlages wird das Buch als "Ungekürzte Sonderausgabe" beworben. Eine Auszählung der Zeichen ergibt, daß die Ausgabe rund 400 Seiten Text fehlen! Da die vollständige Erstausgabe antiquarisch sehr selten ist, werden Interessierte regelhaft zu dieser Drecksausgabe greifen und damit die Wahrhaftigkeit des Romans verfehlen.

A BOLDOG EMBERÖLTŐ ist zweifellos Körmendis Lebensbuch! Es ist ein vergessenes Meisterwerk und gehört zum Schatz der ungarischen Literatur des 20. Jahrhunderts. (Eine Neuausgabe auf Ungarisch gibt es bisher nicht.)

Aus dem Nachwort

auc-185-koermendi (pdf 5,8 MB)