Isaak Babel: DIE REITERARMEE

Neu im September 2024

Mit Dokumenten und Aufsätzen
herausgegeben von Fritz Mierau (1968)

Isaak Babel wurde 1894 in eine Familie von jüdischen Händlern in Odessa geboren. Kurz nach seiner Geburt übersiedelte die Familie nach Nikolajew, wo es Babels Vater zu Wohlstand brachte. Im Winter 1905 kehrte Babel nach Odessa zurück und besuchte die Wirtschaftsschule von Odessa, die er 1911 abschloß.
Da ein Studium an der Universität von Odessa wegen der Quote für Juden nicht in Frage kam, ging Babel nach Kiew an das Institut für Ökonomie und Finanzen. 1916 schloß Babel sein Studium ab und zog nach Petrograd (heute: Sankt Petersburg). In der Stadt lernte er den Schriftsteller Maxim Gorki kennen, der einige der Kurzgeschichten Babels in seinem Magazin Letopis (Летопись) veröffentlichte. Gorki gab dem angehenden Schriftsteller den Rat, sich mehr Lebenserfahrung zu verschaffen.

Der Erste Weltkrieg und die darauffolgende russische Revolution veränderten auch Babels Leben vollständig. In den nächsten sieben Jahren kämpfte er im Ersten Weltkrieg an der rumänischen Front und arbeitete für die Tscheka als Übersetzer bei der Spionageabwehr.
Im Jahr 1920 wurde er auf dem Höhepunkt des russischen Bürgerkriegs als Reporter der Reiterarmee des Generals Budjonny zugeteilt.
Verschiedene Geschichten, die später in dem Band DIE REITERARMEE zusammengefaßt wurden, wurden 1924 in Wladimir Majakowskis Magazin LEF ("ЛЕФ") publiziert. Babels ehrliche Beschreibung der Brutalität des Krieges und sein Verzicht auf Beschönigungen brachten ihm eine Reihe von mächtigen Feinden ein, darunter auch General Budjonny. Die Intervention Gorkis verhinderte jedoch eine Vernichtung des Buches, welches bald in verschiedene Sprachen übersetzt wurde.

1930 reiste Babel durch die Ukraine und sah die Brutalität, mit der die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Als Stalin seinen Griff um die sowjetische Kultur festigte und besonders nach dem Entstehen des "Sozialistischen Realismus" begann Babel sich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen Nach einigen vergeblichen Anfragen wurde es Babel schließlich gestattet, ins Ausland nach Paris zu reisen und dort seine Familie zu besuchen. 1935 hielt er eine Ansprache auf dem Kongress antifaschistischer Schriftsteller in Paris. Nach seiner Rückkehr arbeitete er mit Sergei Eisenstein an dem Film Beschinwiese und schrieb an Drehbüchern für weitere sowjetische Filme mit. 1935 erschien sein zweites Theaterstück Marija im Druck. Die scharfen Reaktionen auf die Veröffentlichung führten zum Abbruch der Proben an verschiedenen Theatern. Es wurde an keiner sowjetischen Bühne aufgeführt.

Man verhaftete Babel aufgrund einer Denunziation am 15. Mai 1939. Er wurde beschuldigt, für den Westen spioniert zu haben. Babel wurde während der Verhöre schwer gefoltert und gab schließlich zu, Mitglied einer trotzkistischen Gruppe gewesen zu sein. Am Tag der Gerichtsverhandlung widerrief er das erzwungene Geständnis. Dennoch wurde er am 26. Januar 1940 von einem Tribunal für schuldig befunden und am darauffolgenden Tag im Gefängnis Butyrka erschossen. Babels Witwe Antonina Nikolajewna erfuhr erst 15 Jahre später von seinem Tod – vorher wurde ihr immer wieder die falsche Information gegeben, dass ihr Mann noch am Leben sei – und die volle Wahrheit erst 1988. Seine Manuskripte wurden bei seiner Verhaftung vom NKWD beschlagnahmt und später verbrannt.
Am 23. Dezember 1954 wurde Babel öffentlich von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen freigesprochen. Dies ermöglichte seiner Witwe die erneute Veröffentlichung seiner erhalten gebliebenen Werke ab 1957.

Isaak Babel war ein radikaler Revolutionär: durch und durch ging es ihm um menschenwürdige Inhalte. Die Frage nach dem Sinn, der Notwendigkeit, der Vermeidbakeit oder Unvermeidbarkeit von Gewalt (auch gegen subjektiv Schuldlose) ließ ihn nicht los. Deutlich wird Babels seelische Zerrissenheit in diesem Kampf, mit dessen grundlegenden Intentionen er ganz und gar identifiziert ist – obwohl er sich zugleich unfähig fühlt, einen Menschen zu töten. Die überragende Bedeutung seiner REITERARMEE liegt auch darin, daß er ein zärtlicher, gewaltloser, nachdenklicher und unbedingt liebevoller Mensch war. In seinem Ringen um adäquaten sprachlichen Ausdruck manifestiert sich möglicherweise auch sein innerer Kampf gegen den Impuls, sich in die revolutionäre Gewalt fallenzulassen (wie es wohl viele gemacht haben): um dem apokalyptischen Schrecken, den er erlebte, doch winzige Momente Menschenwürdigkeit abzugewinnen.

"Mein trübes Poetenhirn verdaute eben den Klassenkampf", schreibt Babel in einer der Novellen – und es kann kaum Zweifel geben, daß der Klassenkampf im konzeptionell definierten Sinn nicht sein Thema war. Auch wenn er auf die russische Revolution hoffte und sie auf seine Weise, mit seinen Möglichkeiten unterstützen wollte. Isaak Babel geht es immer vorrangig um die konkreten Menschen in ihrer kreatürlichen Authentizität, ihrem Leid und ihren Hoffnungen und Sehnsüchten. Selbst gewalttätiges Verhalten, das wir spontan empört ablehnen, wird uns in Babels Darstellung unfreiwillig ein wenig nachfühlbar … Uns wird wieder ein bißchen bewußter, daß alles, was Menschen machen, menschlich ist. Nichts, wovon wir bei Babel lesen, ist uns ganz und gar fremd; aber wie hätten wir uns verhalten in dieser geschichtlichen Situation .. wo wären wir gestanden? Diese Frage ist ein zartes Pflänzchen und geht im allgemeinen unter in dem genauso natürlichen Impuls, eigene Interessen, Empfindungen und Überzeugungen für ein bißchen legitimer zu halten als die Interessen, Empfindungen und Überzeugungen anderer. – Aber ohne mehr Aufmerksamkeit für das uns allen gemeinsame Spektrum menschlicher Impulse wird dieses Hauen und Stechen, dieses "Wie du mir, so ich dir" unablässig weitergehen in der Geschichte der Menschheit.

Die Situation der russisch-ukrainischen Juden in dieser Zeit, in diesem ukrainisch-polnischen Land, zieht sich als Subtext durch die meisten Episoden dieses Zyklus: da sind jüdische Angehörige und Sympathisanten der Revolution, ist die politisch indifferente, oft chassidisch orientierte jüdische Landbevölkerung, da ist der offenbar verbreitete Antijudaismus (Antisemitismus?) in der nichtjüdischen Bevölkerung und da sind die Hinweise auf Judenpogrome als selbstverständlicher Aspekt des sozialen Lebens.

Es gibt auf deutsch etliche Ausgaben der REITERARMEE. Die Relevanz einer Wiederveröffentlichung der Ausgabe in der Reclam Bibliothek Leipzig (1968) lag allein in dem von dem bedeutenden Slawisten Fritz Mierau zusammengestellten Material des Anhangs (einschließlich seiner eigenen subtilen Darstellung der Welt des Isaak Babel). Dieser zweite Teil des Buches ist in seiner Dichte und Vielschichtigkeit ein dokumentarisches Abenteuer für sich! Es vermittelt etwas von Isaak Babels Lebens- und Schaffensernst und der Bedeutung des Babelschen Textes in der Zeit, in der er und für die er geschrieben wurde. Isaak Babels REITERARMEE ist mehr als eine Sammlung mitreißender Novellen in einem ungewöhnlichen Stil: es ist ein geschichtliches Dokument für die Situation in Rußland am Beginn der Sowjetischen Revolution. Als solches gehört es zur europäischen und damit auch zu unserer Geschichte.

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