Neu im Dezember 2025
Dichte und in ihrer Komplexität kaum zu übertreffende epische, poetische Texte wie die von Robert Musil bedürfen des Atemraums – Satz für Satz, Wort für Wort! Die komprimierten Satzspiegel (um nicht zu sagen: Bleiwüsten), in denen Musils Werk meist präsentiert wird, dürfte die Lektüre dieser Texte behindern, oft auch verhindern.
Jeder Absatz in diesen Novellen ist Vignette eines für sich existierenden Moments: einer seelisch-reflexiven Bewegung, einer Empfindung, oder der Keim eines solchen Moments.
Aus diesem Grund habe ich, entgegen der Vorlage, in dieser Ausgabe jeden Absatz durch eine Leerzeile vom nächsten getrennt..
Sehr häufig geht es in den Novellen um ambivalente bzw. ambitendente Empfindungen bzw. Willensimpulse, wie sie zweifellos viel häufiger bei uns allen vorkommen, als uns bewußt ist – weil wir dazu neigen, uns situativ reflexhaft für eine der Möglichkeiten zu entscheiden .. meist mit der Folge, daß das andere, weiterhin in uns wache Moment bei (un)günstiger Gelegenheit sich regt und uns oder unsere Mitmenschen irritiert oder in Bedrängnis bringt. – Musil hat dieses Sowohl-als-auch (und das Ineinander-übergehen solcher ambivalenter Impulse) lebenslang erforscht; das zeigt sich in seinen Tagebüchern und dann in seinen Werken. Der von ihm geprägte Begriff des "Möglichkeitssinns" steht für diesen Zusammenhang.
Zunehmend entwickelt sich (für mich) in den freigestellten Absätzen, den Erzählvignetten Evidenz jenseits des reflexiven Inhalts – ähnlich wie wenn wir Musik hören. Solche Evidenz aber gibt es doch eigentlich bei jedem sprachlichen Inhalt .. wie Obertöne .. nur übertönen wir sie zumeist durch die reflexive Dimension des sprachlichen Sinns!
Daß Beziehungen oder überhaupt alle Lebenserfahrungen in einer Weise, auf einer Ebene "Zufall" sind, ist eine für Musil grundlegende Überlegung, die im MoE eine entscheidende Rolle spielt. Andererseits fällt nichts vom Himmel: "Denn Gefühle leben nur in einer langen Kette anderer, einander haltend, und es kommt bloß darauf an, daß ein Punkt des Lebens sich ohne Lücke an den andern reiht, und es gibt hundert Weisen." – Aus dieser Zufälligkeit oder Inkonsistenz des Lebens folgert Musil jedoch keine Beliebigkeit oder Gleichgültigkeit der menschlichen Lebensbewegung, sondern (wie ich ihn verstehe) eine nur noch tiefere Verantwortlichkeit für individuelle Entscheidungen (dies wird im MoE vielfach thematisiert oder vorgelebt); sein Anspruch ist die einschränkungslose Verantwortlichkeit der eigenen Individualität! Ob wir Menschen allerdings in der Lage sind, diesen Anspruch nicht nur zu konzipieren, sondern auch einzulösen, war ebenfalls Musils Frage: Die Reise ins Paradies endet in Orientierungslosigkeit.
Bereits bei A+C erschienen ist
Robert Musil: REISE INS PARADIES. ZWANZIG KAPITEL AUS DEM MANN OHNE EIGENSCHAFTEN
A+C_205_MUSIL_Vereinigungen (pdf 886 KB)