Anne Moody: ERWACHEN IN MISSISSIPPI
Anne Moody (1940 – 2015)war das älteste von acht Kindern einer afro-amerikanischen Familie in Mississippi. Das Leben war bestimmt von materieller Not. Bereits als Kind begann sie, für weiße Familien in der Gegend zu arbeiten, ihre Häuser zu putzen und deren Kindern für wenig Geld bei den Hausaufgaben zu helfen. Später absolvierte sie ein akademisches Studium am Tougaloo College. Seit dieser Zeit engagierte Anne sich beim Congress of Racial Equality (CORE), der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und dem Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC). Sie nahm an einer Vielzahl von gewaltfreien Protestformen wie Märschen und Sitzstreiks teil. Als zentrale Aufgabe wurde darin gesehen, die Schwarze Bevölkerung zu motivieren, sich als Wähler*innen zur Wahl des Gouverneurs von Mississippi einschreiben zu lassen. (Freedom Summer, 1964) Dieses grundlegende demokratische Wahlrecht wurde kontinuierlich von Störmanövern, massiven Bedrohunen und bürokratischen Finessen hintertrieben. Es war den meisten Afro-Amerikaner*innen in den Südstaaten zu dieser Zeit kaum möglich, ihre begründete Angst vor der (gelegentlich auch tödlichen) Bedrohung durch die Weißen zu überwinden, um den Weg zur Wählerregistrierung zu wagen.
Anne Moody berichtet in ihrer hier erstmalig seit 50 Jahren auf Deutsch wiederveröffentlichten Autobiografie umfassend vom Kampf der Bürgerrechtsbewegungen, soweit sie daran beteiligt war.
Nach 1964 mußte sie sich wegen chronischer Erschöpfung (und auch Resignation) von der aktiven Arbeit in den Bewegungen zurückziehen. Sie zog nach New York. 1965-67 schrieb sie ihr hier vorliegendes Buch COMING OF AGE IN MISSISSIPPI.
Anne Moody steht für den Übergang zwischen dem gewaltlosen Engagement Martin Luther Kings und vieler anderer einerseits und dem in Erbitterung und Haß auch zu Gegengewalt übergehenden Kampf von Menschen wie Angela Davis, Assata Shakur (und anderen) bzw. den Black Panthers. Dennoch hatte Moody zunehmend Zweifel an einer einseitig an der Situation der Afro-Amerikaner* innen orientierten Bürgerrechtsbewegung. Sie sagte: "I realized that the universal fight for human rights, dignity, justice, equality and freedom is not and should not be just the fight of the American Negro or the Indians or the Chicanos. It’s the fight of every ethnic and racial minority, every suppressed and exploited person, everyone of the millions who daily suffer one or another of the indignities of the powerless and voiceless masses."
In den folgenden Jahren arbeitete Anne Moody an der privaten Cornell University Ithaka, NY., engagierte sich später auch in der Anti-Atomkraft-Bewegung und als Beraterin für das New York City Poverty Program.
Anne Moodys nuancierte und unmittelbar nachfühlbare Darstellung der vielfältigen Formen sozialer Kontrolle, Diskriminierung und Unterdrückung geht weit über das Thema Segregation und Rassismus gegen die Farbigen in den USA hinaus. Diese und ähnliche Mechanismen wurden und werden zu allen Zeiten und in jeder Gesellschaft, jedem sozialen Verbund angewandt, um Menschen dem Diktat der jeweils Stärkeren zu unterwerfen, sei es auch nur zu deren situativer Bequemlichkeit: in Schulen und Kindergärten, in Arbeitsstellen, Vereinen und politischen Parteien, in Wohnheimen, Krankenhäusern, in Familien und in der Nachbarschaft. Zeugnisse wie das hier vorliegende können dazu sensibilisieren, solche Mechanismen zu erkennen, sie nicht mitzutragen, können Mut machen, Widerstand gegen sie zu leisten.
Bei all den widerwärtigen Erfahrungen, die sie mit Weißen, gelegentlich aber auch mit Farbigen in Kindheit und Jugend machen mußte, blieb Anne Moodys Selbstbild das eines Menschen von eigenem Recht. Sie identifizierte sich weder mit dem Leid, das ihr angetan wurde, noch mit einer schematischen Frontstellung gegen die Weißen. Sie zeigt Menschen in ihren unvereinbar scheinenden Aspekten, legt sie nicht fest auf (moralisch bestimmte) Rollen, wie es oft geschieht in derlei Erinnerungen. Haß und Selbsthaß, Verletztsein und verletzen wird in ihrem Bericht deutlich in seinem unauflösbaren Zusammenhang. Ihre politische Autobiographie enthält eine Fülle von Einzelheiten zum Leben der Farbigen in den Südstaaten der USA in den 50er und 60er Jahren; wir lesen von Menschen, die zerrieben werden zwischen den Ideologemen, dem Haß, den Traditionen einer durch und durch zerstörten Gesellschaft, zerrieben oft auch von der Unmöglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Seelisch zerstört sind aber auch die Weißen in dieser rassistischen Gesellschaft. –
COMING OF AGE IN MISSISSIPPIerschien 1968, wurde von Anfang an hochgelobt und (in den Südstaaten) medial bekämpft, es wurde in etliche Sprachen übersetzt; in den Vereinigten Staaten ist es bis heute eines der bekannten Bücher zum Thema, bei (vor allem studentischen) Leser*innen wie in der Presse, in Fachveröffentlichungen und unter Bürgerrechtler*innen. – Der Kampf gegen die Segregation (in ihren "zeitgemäßen" Varianten) ist in den USA noch keineswegs beendet.
Auf Deutsch erschien das Buch 1970 (S. Fischer) sowie 1971 in der DDR (Verlag Neues Leben), jeweils in der Übersetzung von Annemarie Böll, mit Vorwort von Heinrich Böll. Eine Taschenbuchausgabe bei S. Fischer von 1972 sollte dann für 50 Jahre die letzte deutsche Ausgabe des Buches sein, – bis zu der hier vorliegenden kostenfreien online-Veröffentlichung (Text und Übersetzung weitestgehend nach der früheren Ausgabe) beim Verlagsprojekt Autonomie und Chaos.
Die Neuausgabe enthält als Anhang das Script eines Interviews, das Anne Moody 1985 gab; es handelt auch von ihrem Leben in den 10 Jahren seit Erscheinen ihrer politischen Autobiografie.
Hier direkt angehört und heruntergeladen werden kann die Audiodatei eines Interviews von 1969, aus Anlaß der Veröffentlichung ihres Buches:
auc-164-moody-a (pdf 8,5 MB)
Hinweis: Zum Thema Segregation / Rassismus in den USA ist bei A+C wiederveröffentlicht worden der Roman Fremde Frucht ("Strange Fruit")von Lillian Smith, einer weißen Bürgerrechtlerin. Die Neuausgabe enthält einen umfassenden Anhang zum Thema.