Albert Lamm: BETROGENE JUGEND

Ab 1926 arbeitet der maler albert lamm (1873-1939) als zeichenlehrer in einem tagesheim für (männliche) jugendliche erwerbslose in berlin-treptow. Der kritische außenseiter, lebenslang auf der suche nach sozialer wie künstlerischer wahrhaftigkeit, entwickelt geduldiges jugendfürsorgerisches/sozialpädagogisches engagement. Gerade in ihrer früh vom leben enttäuschten und verwundeten widerborstigkeit waren diese jungs ihm vermutlich näher, als er selbst wußte. Zu beginn versucht er noch in treuherziger spießbürgerlichkeit, den jungs die werte der gutbürgerlichen gesellschaft einfach überzustülpen. Aber lamm lernt in beeindruckender stringenz, sich in die situation der desillusionierten, von entsprechenden lebenserfahrungen abgestumpften jugendlichen einzufühlen.

Die gerade in den 20er jahren verbreitete hoffnung auf neue lebens- und gemeinschaftsformen kommt selbst bei dem in anderen aspekten konservativ wirkenden albert lamm an, der über seine jungs schreibt: "Sie sind mit nichts mehr verwachsen und werden mit dem alten Leben nirgends mehr verwachsen, mit dem sie nur noch die Lohndüte, die Stempelkarte und der Unterstützungsbetrag verbindet; aber in ihrer Gemeinschaft wächst eine neue Verbundenheit, die ausreicht, sie sich selber als eine neue und ganze Welt fühlen zu lassen, in der man nach neuen Formen eines den Menschen ausfüllenden Lebens sucht." - Aber er spürt durchaus auch die kehrseite solcher sehnsucht: "Es ist ein ungeheures gährendes Wünschen, was in dieser Jugend arbeitet - umschlossen von dem Zwange der großen Not der Zeit. Wer sich nicht dazu aufzuraffen vermag, zu fühlen, daß Gerechtigkeit und Menschlichkeit hier ein Helfen fordern, der sieht vielleicht wenigstens ein, daß Sicherheitsventile notwendig sind, um nicht einmal unsinnige Entladungen hochgespannter Kräfte heranwachsen zu lassen, um das Anwachsen des Chaos hintanzuhalten, von dessen unterirdischer Ausdehnung und vulkanischer Gewalt unter unserer alt gewordenen Welt leider die wenigsten eine rechte Vorstellung zu gewinnen sich bemühen mögen." 

Albert lamms bericht wurde 1932 im Bruno Cassirer Verlag Berlin veröffentlicht, - - als "adolf hitler"  im berliner volksmund erst eine sprichwörtliche bezeichnung war für ungebärdig herumbrüllende männer!

Das projekt selbst war zu diesem zeitpunkt schon kaputt, - stanguliert von sozialadminstativen vorgaben, mittelkürzungen und gleichgültigkeit der höheren bürokratie; auch hiervon berichtet lamm. Das buch durfte nach dem machtantritt der nazis nicht mehr vertrieben werden. - Aber was ist wohl aus diesen, aus solchen jungs geworden?

"Lamms Schrift gestattet teilweise soziologische Erfassung und Auswertung der Gestalt des aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß herausgeschleuderten jugendlichen Erwerbslosen", wurde 1933 in max horkheimers 'Zeitschrift für Sozialforschung'  betont. - Heute ist das büchlein vor allem in den östlichen bundesländern in mancher hinsicht wieder aktuell; welche gesamtgesellschaftlichen folgen werden diesmal aus den entsprechenden sozialen zerstörungen erwachsen?

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Bettina v. Arnim / Rudolf Baier: ZEUGNISSE EINER ARBEITSBEZIEHUNG (1844-47)

Bettina v. Arnim veranstaltete seit 1839 eine Gesamtausgabe der Werke ihres 1831 verstorbenen Ehemanns Achim v. Arnim und suchte hierfür einen Mitarbeiter, der ihr bei der Neubearbeitung der Volksliedersammlung DES KNABEN WUNDERHORN, die ebenfalls in diese Gesamtausgabe aufgenommen werden sollte, zur Hand ginge. Der damals 26jährige Student Rudolf Baier, dem diese wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der gefeierten, fast 59jährigen Bettina als ein unverdientes Glück und eine große Auszeichnung erscheinen mußte, stellte sich dafür gern zur Verfügung und so ist Baier zwei Jahre lang Bettinas Mitarbeiter an der Neufassung des WUNDERHORNS gewesen. Die Zusammenarbeit endete jedoch mit dem durch Bettine vollzogenen Abbruch der Beziehung.

Diese in der Bettine-Forschung bisher wohl allenfalls selektiv ausgewertete Dokumentation von Tagebuchaufzeichnungen Baiers sowie Briefen Bettine v. Arnims und ihm birgt aufgrund der sehr speziellen Beziehung und inhaltlichen Konstellation zwischen beiden eine Fülle von Hinweisen, die über andere Zeugnisse nicht zu finden sind.

Die Veröffentlichung durchbricht ein offenbar durchgängiges Tabu des Bettine zugewandten Publikums (damals wie heute): ihre krasse Egozentrik mit seinen unangenehmen sozialen Folgen zur Kenntnis zu nehmen, zu dokumentieren oder gar darüber nachzudenken.Die betreffenden Verhaltensweisen (von denen andere Zeitgenossen in umschreibenden Formulierungen, wie hinter vorgehaltener Hand, zu schreiben pflegten – falls sie sie aus ihren Erinnerungen nicht gänzlich herausließen) waren jedoch keine "Ausrutscher", sondern grundlegende Elemente ihrer Persönlichkeitsstruktur, sind – so meine Hypothese – Folge ihrer sozialen Einsamkeit und Isolation in und seit der Kindheit, der sehr gebrochenen und widersprüchlichen Entwicklung ihres Selbstwertgefühls. Diese Arbeitsbeziehung zwischen Bettine v. Arnim und Rudolf Baier zeigt deutlicher als jedes andere Zeugnis Bettines vitale Grenzen – und wie sie damit umging, wenn sie nicht ausweichen konnte in ihr gemäßere Formen der Kommunikation und der Aktivität.

Bettines Briefe an Rudolf Baier vermitteln beim aufmerksamen, nachvollziehenden und mitfühlenden Leser/der Leserin einen ansonsten in den letzten Lebensjahrzehnten nur in Momenten deutlichwerdenden Aspekt ihrer Persönlichkeit, eine Anmutung, die sich jedoch in ihren frühen Briefen häufig zeigt. Ich meine jene bereits angesprochene tiefgründige – und sprachlose! – Hilflosigkeit, die durch Eloquenz und verbale Überschwemmungen überspielt wird. Was in früheren Jahren noch geprägt war von der offensichtlichen Suche nach Möglichkeiten, ihr eigenes Leben zu verwirklichen in der mitmenschlichen Umwelt, hat jetzt (zumindest für mein Empfinden) etwas defensiv Beharrendes. Bettine bleibt bei sich, aber sie hat keine Kraft mehr, wirklich auf die Welt zuzugehen.

Durchgängig lese ich die hier vorliegenden Briefen bzw. Tagebuchaufzeichnungen als Zeugnisse für Bettines Bemühen, sich im durchaus angemessenen eigenen Interesse durchzusetzen in der von Warentausch und banal materiellen Interessen geprägten gesellschaftlichen Normalität. Diese Menschenwelt entsprach allerdings in keiner Weise Bettines Vorstellungen von menschlichem Miteinander! Daß sie selbst im Laufe dieser Lernprozesse situativ zu machttaktischen Verhaltensweisen griff (die teilweise ziemlich arrogant wirken), ist nachvollziehbar. –

Die vorliegende Dokumentation der Arbeitsbeziehung mit Rudolf Baier verstehe ich in mancher Hinsicht als Ergänzung der ebenfalls bei A+C veröffentlichten erweiterten Ausgabe einer Arbeit des Germanisten Werner Milch: DIE JUNGE BETTINE UND IHR SCHWERER WEG IN DIE MENSCHENWELT.

(aus der Einleitung)

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Christa Anita Brück: EIN MÄDCHEN MIT PROKURA

Thema des vorliegenden romans von christa anita brück (1899-1958) ist zunächst die allgemeine seelische zerstörung unter angestellten während der weltwirtschaftskrise ende der 20er jahre, mit besonderem blick auf die deutsche bankenkrise: überlebensängste (gerade bei denen, die noch in stellung sind), situation der arbeitslosen kleinen leute, feindseliges büroklima, fusionen und monopolisierung sowie die zunehmende bürokratisierung auch im bankgewerbe.

Neben hans falladas berühmtem KLEINER MANN – WAS NUN? (ebenfalls 1932 erschienen) ist er einer der wenigen deutschen romane aus dem angestelltenmilieu während der weltwirtschaftskrise.

Das augenmerk der autorin liegt vorrangig auf der situation weiblicher angestellter (minderbesoldung, mangelndes ansehen im geschäftlichen leben, schwierigkeit des aufstiegs in leitende stellungen, mobbing, anmache). Am schluß des romans steht die unmißverständliche einschätzung: "Der Weg der tüchtigen Frau ist immer der gleiche: er führt über Feindschaft, Befremden, Mißtrauen und Neid zu tragischer Isoliertheit."

Im hinblick auf die deutsche bankenkrise war EIN MÄDCHEN MIT PROKURA bei seinem erscheinen tagespolitisch hochaktuell. Vermutlich war die autorin (ab 1934 ehefrau eines höheren bankangestellten) bereits zu diesem zeitpunkt eng vertraut mit der thematik.

Taktische fusionen, monopolisierung und zunehmende bürokratisierung, wie sie im letzten teil des vorliegenden romans skizziert werden, gehörten zum beginn eines prozesses, der sich bis heute als progressive verkrebsung des bankgewerbes entfaltet hat.

Diesen roman wiederzuveröffentlichen in einer zeit, in der banken zu totengräbern demokratischer gesellschaften zu werden scheinen, lag für mich nahe. Wesentliche strukturelle, sozialpsychologische funktionen des kapitalistischen bankensystems werden in dieser überschaubaren, für laien nachvollziehbaren handlung plausibel.

Die protagonistin thea iken wird dargestellt als aufopernde, allzeit verantwortungsvolle und loyale mitarbeiterin, tragikumflort, mit heroischer attitüde, – eine überspannte antigone, in einer szene fast wie jesus auf dem ölberg. Solche überzeichnungen, die, wenngleich subtiler, auch in ihren anderen büchern zu finden sind, könnten mit der biografie der autorin zusammenzuhängen.

Projektive kompensationsversuche tiefgehender narzißtischer verletzungen (der autorin) sind in manchen szenen mit thea iken kaum zu übersehen. Auch werden in allen ihren romanen für die weiblichen hauptfiguren schlimme, ja traumatische lebenserfahrungen angedeutet, die eine unbedingte orientierung an einem selbstbestimmten leben nachvollziehbar machen. Dies aber erfordert eine gewisse finanzielle, zu jener zeit für eine frau wohl nur durch berufstätigkeit ermöglichte unabhängigkeit. Wenn thea iken mit unbedingter hingabe um ihren arbeitsplatz kämpft, empfindet sie dies zweifellos als kampf um ihr leben, in dem es andere inhalte – aus welchen gründen auch immer – nicht gibt.

Selbstwertgefühl als erwachsene frau scheint thea iken nur aus ihrer beruflichen position zu beziehen. Liebe kommt bei ihr offenbar vorrangig als fürsorgende liebe vor, als mythisch-loyale verbundenheit mit dem chef oder als pseudomütterliche zuwendung zu dessen sohn. Wobei in beiden konstellationen diffuse erotische momente mitschwingen.. – kaum verwunderlich. Gelegentlich verliert die autorin offenbar selbst die psychologische übersicht über die ineinander verstrickten "opferungs"-impulse ihrer protagonistin, dann wieder erwähnt sie immerhin die "erprobte Eigensüchtigkeit, mit der Mannsbilder Frauenopfer annehmen".

Die prokuristin thea iken steht nur am rande für "das lebensgefühl der 20er jahre", für "die neue frau", vielmehr geht es vorrangig um diese konkrete frau mit einigermaßen rätselhafter psychischer konstitution und ihr ringen um individuelle entfaltung und gesellschaftliche selbstbehauptung. – Unverkennbar ist dabei die soziale position der autorin als reflektiert und (zumeist) empathisch beobachtende außenseiterin. (Dies korrespondiert mit der außenseiterposition der protagonistinnen in allen ihren romanen.) Bis heute lesenswert sind ihre bücher durch das tiefe einfühlungsvermögen in lebensumstände und lebenshaltung gerade der kleinen leute – deren lebensziele, ihre sozialen ängste, nicht zuletzt auch die seelischen zerstörungen, zu denen ihre grundlegenden lebensumstände geführt haben. Deutlich wird gleichwohl ihre distanz gegenüber lebensregungen und reflexionsbemühungen der kleinbürger, werden ängste vor der "masse" und vor bedrohlichen untiefen hinter einer biederen "maske" bei angehörigen der unterschicht; dies sind zeittypische ideologeme des bürgertums.

Der vorliegende roman enthält nicht zuletzt einen psychologisch vertrackten Who has done it? - krimi, ein gerichtsdrama, dessen kriminalistisch-juristische logik nicht immer überzeugt, was jedoch die spannung bis zum schluß nicht beeinträchtigt. Vor allem dieser aspekt stand im vordergrund des heute vergessenen films von arsen v. cserépy. Zumeist sehr achtsam gegenüber dem buch, wurden allerdings psychologisch komplexere inhalte nicht umgesetzt. Einige szenen wurden in filmisch angemessener weise (auch um des dramatischen effekts willen) variiert oder ergänzt, viele dialoge wurden fast wortgenau wiedergegeben. Trotz der vielen NS-nahen mitwirkenden ist dieser lebensfrische film unbedingt sehenswert – sowohl vom drehbuch, seiner schauspielerischen umsetzung als auch von der kameraführung und den regieeffekten her. Bis in nuancen gibt er alltagsethnografische momente seiner zeit wieder, durch die er das buch für heutige leserInnen gut ergänzt. Der neuausgabe wurden aus diesem grund etliche szenenbilder beigegeben.

(Aus dem nachwort des herausgebers)

Bereits bei A+C wiederveröffentlicht wurde brücks erstes buch, der seinerzeit berühmte roman SCHICKSALE HINTER SCHREIBMASCHINEN.

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DIE FOTOALBEN VON WALLY FLEISCHER AUS NEUKÖLLN

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Drei fotoalben, gefunden in einem westberliner trödel - unspektakuläre zeugnisse einer frau, die "gar nichts besonderes gemacht hat", aber sie hat ihr eigenes leben gelebt, schritt für schritt durch untiefen hindurch.. und ist ohne zweifel bis zuletzt sie selbst geblieben! Das ist keineswegs selbstverständlich, und es verdient achtung. Zeugnisse eines solchen lebens verdienen, bewahrt zu bleiben.Darum diese auszugsweise dokumentation der fotoalben von wally bahr, geborene fleischer.

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Erna Saenger: GEÖFFNETE TÜREN. Lebenserinnerungen 1876-1976

Erna Wehr, geboren im September 1876 in Kensau (Westpreußen) , gestorben im November 1978 in Berlin, stammte aus einer großbürgerlichen Gutsherrenfamilie. Bestimmend für ihr Leben war ihr alltäglich gelebtes Christentum sowie ihr Engagement für Kindererziehung und Sozialarbeit. So absolvierte sie ab 1896 eine Berufsausbildung im Pestalozzi-Fröbel-Haus (P.F.H.) Berlin, einer der ersten Ausbildungsstätten für das damals neue Berufsbild Sozialarbeit. Durch ihre Ehe mit dem preußischen Staatsbeamten Konrad Saenger lebte sie ab 1911 in Berlin in bildungsbürgerlichen Verhältnissen.
Kern ihrer Lebenserinnerungen waren Auszüge aus ihrem (lebenslang geführten) Tagebuch. Sie wurden von der Autorin organisch eingebunden in die direkt für das Erinnerungsbuch verfaßten Passagen. Das Buch ist ein Dokument der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit: zur Situation der Gutsherrschaft in Westpreußen (heute Polen) und zugleich zum Lebensgefühl preußischer Staatsbeamten und etablierter Akademiker in Berlin. Deutlich wird eine wie selbstverständliche Amalgamierung von preußischem Nationalismus (einschließlich des Glaubens an "das Urdeutsche") und christlichem Ethos mit Momenten der nazistischen Ideologie. So ist das Buch ideologiegeschichtlich möglicherweise repräsentativ für die entsprechende Schicht von Großbürgern, Beamten und Adligen in Deutschland (vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, im Nationalsozialismus sowie dann noch einmal aufflammend in den ersten Jahrzehnten der BRD).

Das Einzigartige liegt in der bis ins hundertste Lebensjahr ungebrochenen vitalen Reflexionsfähigkeit der Autorin, in die ihre lebenslang geführten Tagebücher einbezogen werden. Es entsteht ein seltenes Gleichgewicht der reflexiven Präsenz ihrer Lebenserfahrung, dies nicht als nostalgisch orientierte Rückschau, vielmehr nimmt die Autorin damalige Blickwinkel, Erfahrungen, Einschätzungen mit in die Gegenwart, konfrontiert heutige soziale, gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten mit ihnen und lädt ihre Leser*innen ausdrücklich zum Mitdenken ein. Dabei gelingt ihr ein "beidäugiges Sehen", aus dem wir viel lernen können. Dies wäre kaum möglich ohne eine ungebrochene Lebenszugewandtheit, die bei ihr viel mit ihrer Beheimatung im christlichen Glauben zu tun hat, aber auch in der Verbundenheit mit der Familie liegt. Kostbare Zeitzeugin ist sie auch, weil sie (subjektiv, mit Herz und Verstand) das politisch-soziale Leben spiegelt – einschließlich der Ideologeme und Verirrungen, denen auch sie unterworfen war. Erna Saenger hat lebenslang weitergelernt, jedoch ohne ihre Vergangenheit (wie sie in den Tagebüchern dokumentiert war) retrospektiv umzuinterpretieren.

Schwerpunkte der Lebenserinnerungen sind Kindheit und Jugend auf dem westpreußischen Gutshof – Aufenthalte in Berlin – Die Anfänge der Sozialarbeit – Erster Weltkrieg (nationalistisch-preußischer Taumel) – tätige Nächstenliebe in Kensau – Leben in Berlin (Dahlem) –Kirchenkampf im NS – lebendige Christlichkeit – Alltag im Zweiten Weltkrieg – Familienleben.

Saengers einfühlsame, genuin sozialarbeiterische Haltung zeigt sich nicht zuletzt in der nuancierten Darstellung des dörflichen Lebens in Kensau. Leid und Freude, Probleme, Begrenztheiten und persönliche Ressourcen der Kleinbauern und Landarbeiter werden in den skizzierten Dialogen vorstellbar.

Gespenstisch alltäglich liest sich der Bericht vom kollektiven Wahn zu Beginn des Ersten Weltkriegs, einem Wahn, mit dem die Autorin offenkundig noch 60 Jahre später identifiziert ist. Nachvollziehbar wird auch, wie die affektiv besetzte Deutschtümelei in den Kriegsjahren weiterging und, entsprechend pointiert, die Verinnerlichung der nazistischen Ideologie im Volk begünstigte und stabilisierte. Politik wird in Saengers Buch jedoch nicht problematisiert; sie schreibt: "Politik also nicht — historisches Geschehen umso mehr." Diese eigenartige Abgrenzung zieht sich durch Erna Saengers Buch. Politik ist das Parteiengerangel, menschliches Irren und Wirren, historisches Geschehen ist das Dauerhafte, womit "man" sich identifizieren möchte.

Während der NS-Zeit war Erna Saenger eingebunden in den Dahlemer Kreis der "Bekennenden Kirche" (um Martin Niemöller). Nicht nur in diesem Zusammenhang dokumentiert sie christliche Diskussionsprozesse und Kontroversen, so zwischen deutsch-völkischen ("heidnischen"), deutsch-christlichen und traditionellen christlichen Haltungen und den Positionen des "Kirchenkampfs".Die Bedeutung dieses Zeugnisses liegt nicht zuletzt darin, daß Erna Saenger sich auch hier ihr Selbstdenken erhalten hat und sich offenbar keiner der Gruppierungen pauschal angeschlossen hat. Selbst die "einseitige, prinzipielle Verurteilung der DC" (NS-nahe, antisemische Gruppierung Deutsche Christen) wollte sie "nicht mitmachen".

Nachvollziehbar wird für mich, wieviel Kraft (Ressourcen) es Menschen gegeben haben kann, für die der christliche Glaube, die Orientierung an christlichen Texten, Sprüchen und Liedern tatsächlich das alltägliche Leben mitbestimmt hat.
Sinnlich nachvollziehbar wird allerdings auch die Kehrseite dieser Christlichkeit. Mit den Ideologemen des christlichen Weltbild läßt sich alles menschlich Verwerfliche integrieren – nämlich als das zu Überwindende, wofür die christliche Religion die Werkzeuge selbstverständlich zur Verfügung stellt; das Böse, das sind Aufgaben Gottes. Auch das christliche Weltbild ist ein geschlossenes System, in dem alles seinen Platz findet, sobald es einmal geschehen ist: auch der Nazismus, der Stalinismus, jedes Verbrechen. Für jede Lebenssituation gibt es ein Bibelzitat, wodurch das entsprechende Phänomen in den Gesamtzusammenhang des christlichen Weltbilds gestellt werden kann; es liegt dann nur noch am Einzelnen, eine biblisch legitimierte Umgangsweise dafür zu finden; die Autorin macht es uns vor.

In Erna Saengers Buch entsteht der Eindruck, daß die Ablehnung der Nationalsozialisten in ihrem Kreis (auch innerhalb des sogenannten "Kirchenkampfes") zunächst vorrangig damit begründet wurde, daß die Nazis die beiden Amtskirchen nicht anerkannten. "Dem Nationalsozialismus stand Saenger ablehnend gegenüber. Insbesondere missfiel ihm, dass der Staat die evangelische Kirche immer mehr beeinflusste", heißt es in einer ausführlichen Würdigung Konrad Saengers. War das nun wirklich das Schlimmste, was den Nazis vorzuwerfen wäre?
Hitlers Buch MEIN KAMPF (1925/27) wurde offenbar weder von dem professoralen Philosophen Eduard Spranger noch im Umkreis der hochgebildeten Familie Saenger rezipiert.
Im Anhang des Nachworts werden beispielhaft einige Passagen aus Hitlers programmatischer Schrift dokumentiert. Ihre gnadenlose, wahnsinnige, in der Konsequenz mörderische Rationalität war die Kehrseite einer an christlicher Nächstenliebe und unbedingter Lebenszugewandtheit orientierten Gutbürgerlichkeit, von der Erna Saenger glaubwürdig und sympathisch erzählt.

(Aus dem Nachwort)

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Ernst Kaeber: BERLIN 1848

Ernst Kaeber wurde am 2. Mai 1882 in Charlottenburg (heute Berlin) geboren. Er promovierte 1906 an der Berliner Universität. 1908 bestand er die Prüfung für den höheren Archivdienst. 1913 wurde Kaeber zum Stadtarchivar in Berlin ernannt. Er bezeichnete sich selbst 1923 als parteipolitisch auf dem linken Flügel der bürgerlichen Parteien stehend, war Anhänger der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). 1937 wurde er (ohne Zahlung einer Rente) zwangspensioniert, weil er sich nicht von seiner jüdischen Ehefrau trennte. Ab Juni 1945 wurde ihm die Leitung des berliner Stadtarchivs wieder anvertraut. Kaeber, der 1935-54 in Moabit wohnte (Dortmunder Straße 6), begründete im Zusammenhang mit der administrativen Spaltung Berlins das Stadtarchiv Berlin im Westteil neu. Diesem Institut (ab 1951 Landesarchiv Berlin) stand er bis 1955 vor. Er starb am 5. Juli 1961. Seine Urne befindet sich seit 1988 auf dem jüdischen Friedhof Heerstraße.

Ernst Kaebers hier erstmalig wiederveröffentlichte Monographie "Berlin 1848" entstand zur Hundertjahrfeier der Märzrevolution, im Auftrag des Magistrats von Groß-Berlin; sie erschien 1948 in dem seit 1945 bestehenden Aufbau-Verlag Berlin.

Der Autor vermittelt nachvollziehbar die Vielfalt einzelner, unterschiedlicher und divergenter Impulse, Intentionen, Ereignisse, die zu einer eigentlich erst im Rückblick "Revolution" genannten Entwicklung führen können. Die Fülle der auch an das breitere Publikum gerichteten politischen Flugblätter, Einzeltexte und Periodika sowie auch die von Kaeber hingebungsvoll referierten Versammlungen in diesen Jahren zeigen, daß hier nicht nur mehr oder weniger etablierte Vereinigungen und einzelne Intellektuelle politisch engagiert waren, sondern daß die Suche nach menschenfreundlicheren Normen der politisch-gesellschaftlichen Struktur offenbar ein öffentliches Anliegen war, getragen von Bürgern wie Arbeitern, Studenten wie Handwerkern, Beamten und Publizisten, Großgrundbesitzern und (einigen wenigen) Adligen; dazu gehörten auch basisdemokratische Willenskundgebungen.

In der berliner Märzrevolution wurden durch ein breites Spektrum engagierter Einzelner aus allen Bevölkerungsschichten (einschließlich der Arbeiter!) Grundstrukturen einer sozialen demokratischen Gesellschaftsordnung in Deutschland erarbeitet. Kaebers deutliche Sympathie mit dem revolutionären Impuls 1848 hindert ihn jedoch nicht daran, die damals bestehenden Bewußtseins- und Machtverhältnisse angemessen darzustellen, unter denen Demokratisierung und soziale Interessen der Arbeiter den adligen und bürokratischen Interessengruppen unterlagen.

Auch die Veröffentlichung von 1948 selbst ist ein geschichtliches Dokument für die kurze Zeit des politischen Innehaltens nach 1945, bevor im Kalten Krieg das politische Nachdenken über Deutschland für Jahrzehnte ideologisch eingefärbt wurde – im Osten wie im Westen. Kaeber zeigt, daß in der revolutionären Situation 1848 (auch) für Deutschland die historische Chance einer zeitgemäßen demokratischen Ordnung gelegen hat … – eine Chance, die dann in der Kaiserzeit verspielt wurde, die 1918 neu bestand und wiederum verspielt wurde, – eine Chance, die wohl auch nach 1945 bestanden hat. Darin vermute ich eine Intention des Groß-Berliner Magistrats zu dieser Veröffentlichung. Ernst Kaeber zeigt sich in ihr als früher Vertreter eines demokratischen, eines humanen Sozialismus.

"Welche Barrieren eine demokratische Erinnerungskultur an die Berliner Revolution weiterhin zu überwinden hat, zeigt der Blick auf das aktuelle Straßenverzeichnis Berlins: vier Wilhelm-, drei Manteuffel-, zwei Wrangel- sowie nicht zu vergessen: vier Bismarckstraßen, zwei Bismarckplätze und eine Bismarckallee, ferner weitere, nach prominenten Gegenrevolutionären benannte Straßen springen dem Berlin-Touristen beim ersten flüchtigen Blick auf den Stadtplan entgegen. Demokraten des Revolutionsjahres wurden demgegenüber nur ausnahmsweise geehrt. Mit ähnlicher Vehemenz und noch größerem Erfolg sperrt sich die Obrigkeit seit mehr als 150 Jahren gegen Pläne zur Errichtung eines Denkmals für die am 18. März 1848 getöteten Barrikadenkämpfer." – So der Historiker Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann. Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Friedrich v. Raumer: MARIE, SPREU UND FRIEDRICH II. IM BERLINER VORMÄRZ

(Hrsg. Mondrian v.Lüttichau)

Den berliner historiker und politiker friedrich v. raumer (1781-1873)gilt es wiederzuentdecken als achtsamen und tiefgründig kritischer humanisten, der manche problematischen momente heutigen bewußtseins erspürt hat: ideologisierung, verdinglichung, überwindung der geist/körper-, denken/fühlen-dichotomie und relativierung der christlichen dogmatik.

Besonders deutlich wird raumers ansatzweise durchaus dialektische verbindung von 'preußischen sekundärtugenden' und romantischer idealisierung, gelassenem gottvertrauen und aufklärerischem, demokratischem engagement in seiner hier neu herausgegebenen aphorismensammlung 'Spreu', die der autor ursprünglich im jahr 1848 veröffentlichte - wenn auch anonym!  In ihr wird der schritt für schritt ambivalente übergang in die "entzauberte welt" (max weber) im 19. jahrhundert als individueller bewußtseinsprozeß sinnlich nachvollziehbar.Selten läßt sich historischer bedeutungswandel von begriffen und phänomenen ähnlich konkret beobachten. Und schon bei raumer wird deutlich, wie der idealistisch-humanistische impuls eines aufklärerischen fortschritts die verdinglichende abgrenzung von allem "nichtidentischen" (adorno) impliziert.

Durch etliche initiativen setzte raumer sich dafür ein, breiteren bevölkerungskreisen (auch frauen!) zugang zu fachlicher bildung zu ermöglichen. Seine kritischen meinungsäußerungen brachten ihn häufig in konflikt mit dem monarchistischen establishment; auch während der berliner märzrevolution stand er (als nationalliberaler) auf seiten der fortschrittlichen kräfte.

Friedrich v. raumer war ein enger freund ida v.lüttichaus; ihre briefe an ihn wurden im ergänzungsband zu 'Wahrheit der Seele - Ida v. Lüttichau'(bei A+C) erstmalig veröffentlicht.

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Jeannette Lander: AUS MEINEM LEBEN

Jeannette Lander (1931-2017) war Tochter eines in die USA ausgewanderten polnisch-jüdischen Ehepaars. Sie wuchs mit Englisch und Jiddisch als Muttersprachen auf. Ab 1934 lebte die Familie in einem vorwiegend von Afroamerikanern bewohnten Viertel von Atlanta (Georgia).
1960 übersiedelte Jeannette Lander nach BERLIN und studierte Anglistik und Germanistik an der Freien Universität. 1966 promovierte sie dort mit einer Arbeit über William Butler Yeats. Sie veröffentlichte von nun an als freie Schriftstellerin ausschließlich in deutscher Sprache.
Von 1984 bis 1985 hielt sie sich in Sri Lanka auf. Ab 1995 lebte Jeannette Lander im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg; ab 2007 war sie  im brandenburgischen Landkreis Havelland ansässig.

2017 erschien in Kooperation mit der Autorin eine Neuausgabe ihres ersten Romans (EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.) bei A+C online.

In den Jahren 2011-2014 arbeitete Jeannette Lander an Lebenserinnerungen, die jedoch nur in einem Privatdruck (ohne ISBN) veröffentlicht wurden. AUS MEINEM LEBEN erscheint hier erstmalig als Ausgabe mit ISBN, online und zum kostenfreien Download.

Für Jeannette Lander war Kreativität ganzheitlich und alltäglich, sie ließ sich ein auf Möglichkeiten, Phantasie und Wagnisse. Ihre Bereitschaft zu spontanen Entscheidungen führte zu einem von Umschwüngen und Wechselduschen geprägten Leben, das in ihren Erinnerungen deutlich wird.
Lander schreibt diese Erinnerungen al fresco: als hätte sich alles vor kürzester Zeit zugetragen, als säße sie neben uns und erzählte, wie es in ihr aufsteigt. Manche Einzelheiten wären an sich belanglos – hier aber tragen sie bei zur Färbung, zur Atmosphäre, zur mitmenschlichen Nähe, die sich einstellt bei Lesen. Aber auch Momente der Persönlichkeit, der Lebenshaltung Jeannette Landers lassen sich ahnen. Oft liegt der Sinn (die Botschaft) einer Anekdote ganz in Zwischentönen, die leicht überlesen werden können in ihrem locker-anekdotischen Erzählen. Noch beim mehrfachen Lesen zeigen sich in diesen redlichen, genauen, aber zugleich locker skizzierten Erinnerungen Momente, die zu Motiven ihres Werks geworden sind.

Die Unverblümtheit, mit der Jeannette Lander in diesen Erinnerungen, mit über 80 Jahren, von ihrem Lebensweg auch anhand deprimierender Alltagserfahrungen und persönlichster, ja intimer Empfindungen und angreifbarer eigener Verhaltensweisen berichtet, lese ich nicht zuletzt als Manifest ihrer letztlichen Befreiung aus dem Prokrustesbett der gesellschaftlichen Konventionen darüber, was "man" (d.h. vielmehr: "frau"!) zu tun hat, um anerkannt zu sein. – "Das Private ist politisch!" war ein Blickwinkel, der vor allem durch die Frauenbewegung ab 1970 profiliert wurde und zweifellos auch Jeannette Landers politische Bewußtheit bestimmte.

Ein Lebensthema Jeannette Landers ist das Bemühen, das von Verdrängung und Vorurteil geprägte Verhältnis von "Opferjuden" und "Täterdeutschen" zu durchdenken. Vorschnelles Zuordnen von Schuldigen und Unschuldigen verweigert sie auch bei partnerschaftlichen Konflikten oder im Hinblick auf die bürgerkriegsähnlichen Umstände auf Sri Lanka.
Eine "Ethik der Analogie" wird Landers Arbeiten in dem hier im Anhang dokumentierten Aufsatz der Germanistin Katja Schubert zugeschrieben: gewaltförmiges Denken und Verhalten gehört zu uns Menschen, ist nicht beschränkt auf einzelne Gruppen oder Personen. Davon sollten wir ausgehen, um die Arroganz der Macht vielleicht zunehmend als solche ethisch zu diskreditieren, jenseits der Ideologien, mit denen sie sich jeweils verbrämt. Die Chancen menschenwürdigeren Verhaltens innerhalb oder am Rande solcher Gewaltzusammenhänge sind jeweils zu gewichten, zu stärken.

Neben allem anderen vermitteln Landers Erinnerungen nachdrückliche Einblicke in das Funktionieren der "Kulturindustrie" nach 1945, in das anscheinend selbstverständliche Zusammenspiel von Autor*innen, Institutionen, Verlagen, Finanzierungsmöglichkeiten, Medien und Leser*/Käufer*innen.

Die Lebenserinnerungen werden ergänzt durch zwei tiefgründige Veröffentlichungen zu Jeannette Lander: ein Interview mit der Autorin (Marjanne Goozé/Martin Kagel 1999) sowie einen Aufsatz von Katja Schubert (2012). Daneben wird eine Rezension Landers zu Doris Lessings Romanzylus KINDER DER GEWALT (in EMMA 1984) dokumentiert.

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Konrad Telmann: BOHÉMIENS (Berlin 1895)

Die neunzehnjährige helene aus thüringen entdeckt das weltstädtische berlin um 1890; sie selbst wird natürlich bald von den männern entdeckt. Eine anmutige biedermeiergeschichte scheint sich zu entfalten. Bald aber stolpert der leser über dissonanzen und untiefen. Konsequent bürstet telmann die ganz normalen umgangsformen jener zeit gegen den strich, indem er sie ernst nimmt (fast wie ein ethnografischer feldforscher) und dadurch das sexistische und entfremdete in ihnen sich entfalten läßt – unaufdringlich, innerhalb der zunächst noch unterhaltsamen handlung. Situation für situation wird die altbekannte kolportagefabel demontiert (denn auch klischees tragen ja eine wahrheit in sich). So liefert der kleine roman aus dem jahr 1895 eine subtile studie zum stand von geschlechtsrollen, zur anatomie der doppelmoral in jener zeit. Der buchtitel aber ist bitterste ironie; denn die angebliche "Bohème" ist nur schimäre, – projektionsmodell für gelangweilte gute bürger, wohlfeile ausrede für unterprivilegierte spießbürger, regressive oder narzißtische inszenierung.

Egoistisch-offensive männer und hilflos-hingebende frauen werden nicht klischeehaft gegeneinandergestellt. Telmann führt uns vielmehr erlernte und zueinander kompatible rollenmuster vor. Das gespinst der sozialisationsbedingten normalität, in das seine figuren hineingewachsen sind, in dem sie weitgehend bewußtlos feststecken, wird ebenso achtsam beleuchtet wie situative möglichkeiten authentischer mitmenschlichkeit und liebe, die allzuoft aus bequemlichkeit, selbstbetrug oder trägheit des herzens nicht oder nur für momente genutzt werden.

Bei männern wie frauen zeigt sich hinter den (unterschiedlichen) mustern von selbstentfremdung, verlogener rhetorik, ersatzbefriedigung und rollenspezifischer deformation, jenseits der wie geschmiert laufenden geschlechtsrollenmechanik deutlich die mehr oder weniger resignierte, unterdrückte, korrumpierte sehnsucht nach authentischer lebendigkeit und sozialer geborgenheit. Verhaltensweisen und empfindungen kommen teilweise aus einem Falschen Selbst, andererseits aber auch aus authentischen impulsen. – Situationen, dialoge und innere monologe laufen ab in gnadenloser deutlichkeit, fast lehrbuchhaft zeigen sich sozialpsychologische bedingtheiten und tiefenschichten der "normalen" verfaulten (doppel)moral im nebel der szenischen unmittelbarkeit. Dazu gehört die traditionelle frauenfeindliche doppelmoral, die auch von frauen verinnerlicht wird.

Die männlichen hauptfiguren, erfolglose schriftsteller, wirken zeitweise geradezu molluskenhaft; seelische deformationen finden sich bei ihnen in unterschiedlichen varianten einer regressiven, narzißtischen, hypochondrischen indolenz. Beide suchen sie im grunde eine mutter, keine partnerin. Die für männer angeblich typische chauvinistische selbstherrlichkeit zeigt sich eher als hilfloses (wenn auch wenig ehrenwertes) ringen um struktur und persönlichkeit angesichts gesellschaftlich vorgegaukelter, geld- und statusorientierter entfaltungs- und rollenvorgaben, durch die individuelle bedürfnisse und empfindungen verdrängt, eingelullt und zugeschüttet werden. Unverwüstlich scheint bei ihnen nurmehr ein inzwischen geradezu reflexhafter egoismus.

Der seinerzeit sehr erfolgreiche naturalistische schriftsteller konrad telmann (1854-1897) diskutiert in seinem umfangreichen werk soziale, politische, ethische und religiöse streitfragen seiner zeit, zeigt ihre exemplarische relevanz in konkreten sozialen, mitmenschlichen konstellationen und nimmt dabei durchgängig einen fortschrittlichen, aufklärerischen standpunkt ein. Im zusammenhang mit seinem gesellschaftlichen engagement wurde er mehrfach in gesellschaftliche, kirchliche und gerichtliche konflikte gezogen. - 'Bohémiens' wird hier erstmalig wiederveröffentlicht.

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Kurt Münzer: DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN

EIN ENTWICKLUNGSROMAN

DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN ist ein Buch über die Liebe… dieses ewige Menschheitsthema. Aber was ist "Liebe"? Es gibt in diesem Entwicklungsroman die Mutterliebe (als Liebe der Mutter wie der Liebe zur Mutter), die Liebe als Suche nach Bindung, Geborgenheit, sozialer Versorgung, die Liebe als Synonym für Sexualität, es gibt homosexuelle Liebe und Liebe als Sehnsucht, Traum und Utopie, als Moment von Selbsterfahrung bis hin zu (weiblicher) Emanzipation und poetischer Tiefe, es gibt die rigide Trennung zwischen "reiner Liebe" und "Kampf der Geschlechter" oder spirituell anmutende Inszenierungen und es gibt eine (mehr oder weniger ehrliche) kameradschaftliche Liebe in Erkenntnis der eigenen begrenzte Liebes- und Beziehungsfähigkeit. Die konventionell-ideologischen Geschlechtsrollen geistern durch die Begegnungen und Beziehungen – jedoch nicht als starre Stereotype, sondern amalgamiert mit individuellen Bedürfnissen und Lebenserfahrungen. – Kolportage (was Münzers Werk oft vorgeworfen wurde) ist eher die Flut heutiger Romane und Spielfilme, bei denen in immer neuen Varianten die immergleiche dichotomische Konzeption von (romantischer) "Liebe" versus "Sex" exerziert wird.

Nicht zuletzt stellt der Autor in diesem 1914 veröffentlichten Roman für seinen männlichen Protagonisten eine Form sozialen Leids dar, das üblicherweise einseitig Frauen zugeordnet wird: "Für sie[die Frauen] war er nichts als schön: Gegenstand ihrer Sehnsucht und Befriedigung. Seine Existenz bedeutete, daß man Forderungen an ihn stellte, und verpflichtete ihn, sie zu erfüllen. All das empfand Lucian wohl und empfand es als Schimpf, allen nur als Symbol von Mannesschönheit und Mannestum zu gelten." – Daß auch Männer darunter leiden können, ist – unter richtigen Männern – bis heute Tabuthema.

Kurt Münzers Texte erzählen meist von Menschen, die durch ihre individuellen seelischen Verwundungen hindurch ein ihnen selbst einigermaßen angemessenes Leben suchen, manchmal finden. Dabei werden auch seelische Verkrüppelungen, Einseitígkeiten, neurotische Verhärtungen zum Material dieser individuellen Lebensweisen. – So ist es auch in dem Märchen, der Parabel vom Ladenprinzen. Dies gilt nicht nur für den Protagonisten Lucian Flamm, sondern auch für die meisten anderen relevanten Figuren; daß dies alles Frauen sind, ist kaum Zufall. Auch bei ihnen (deren Lebensdynamik jeweils nur angedeutet wird) geht es um problematische Konstellationen, die für sie jedoch Wahrheit sind, in der ihr subjektiver Lebenssinn sich ausspricht. Solche ganz und gar subjektiven Wahrheiten stellt Kurt Münzer uns vor; darin liegt meines Erachtens das Kostbare vieler seiner Werke.

DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN (erschienen 1914) haben vermutlich viele Menschen nicht gemocht – weil sie die Handlung nicht verstehen (oder nur mißverstehen) konnten in seiner subtilen Darstellung seelischer Haltungen und Empfindungen, für die es zu jener Zeit noch keine Alltagssprache gab. Allenfalls tiefenpsychologisch orientiertes Problembewußtsein hätte hierfür Ansätze geboten; aber selbst die damalige Psychoanalyse verstand z.B. Homosexualität als krankheitswertige Störung. – Heutzutage, im Zeichen der Genderdiskussionen und nachdem "divers" zur amtlichen Kategorie geworden ist, dürften schrittweise neue Momente beziehungsmäßiger Realität Thema von Reflexion und künstlerischer Darstellung werden; und vielleicht wird einmal auch Kurt Münzer als einer der Vorläufer dieser Regenbogen-Menschlichkeit erkannt werden!

Lucian Flamms Interesse an (hetero-)sexuellen Kontakten scheint eher Moment gesellschaftlicher Sozialisation zu sein: um "seine Schuldigkeit als Mann zu tun"; woanders: "(…) nicht aus Lust am Ende, sondern um sich und anderen sein Mannestum zu beweisen."Diese Leistung vollzieht er in zunehmend virtuoser Weise, begünstigt durch seine leibliche "Schönheit", die ihm das Begehren der Frauen einträgt. Seine anhaltende Entfremdung (?) – Empfindungslosigkeit (?) –Blockiertheit (?) im Bereich der Sexualität wird zum Spiegel etlicher Varianten des Umgangs mit "Liebe"/Sexualität bei den jeweiligen Partnerinnen. – Jedoch steht im Mittelpunkt des Romans Lucian Flamms Leid an seiner eigenen Isolation vom Leben.

Diese siebte Kurt Münzer-Wiederveröffentlichung bei A+C enthält ein ausführliches biobibliographischen Nachwort: "Mutmaßungen über Kurt Münzer und Lucian Flamm".

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Kurt Münzer: DELA GARD oder KUNST UND LEBEN IN BERLIN

Aus dem milieu einer assimilierten jüdischen familie (wie kurt münzers elternhaus es war) erwächst adelaide (dela), die erste hauptfigur des berliner geschehens: "Was geht es einen weiter an, was Fremde denken! Mutter und Tanten und Kaufleute! Das kleine Mädchen fühlt, daß gar kein Zusammenhang da ist zwischen ihr und irgendwelchen anderen. Mutter und Tanten, das sind wohl auch nur Namen und Titel wie Kaufmann oder Doktor oder Müller und Lehmann. Oder Mutter ist eben ein Beruf, zu pflegen und zu unterrichten und zu behüten. Jedes Kind hat so eine Frau, die es ernährt, oft haben auch mehrere zusammen eine, was aber für beide Teile weniger hübsch sein muß. (…) Eltern – das kleine Mädchen kennt dieses Wort nur als einen Begriff. Sie ist neun Jahre und weiß, daß jeder allein ist."

Bäume und blumen, wind, sonne und regen: natur bildet ihre brücke zur großstadt berlin. An vertrautes anknüpfende eindrücke – regenfeuchte straßen, lichter aus den fenstern, klavierübungen aus einer fremden wohnung, schwere schritte auf dem hof, lachende kinder, der geruch aus einem geschäft – geleiten zu unvertrauten, nicht zuletzt zur vielfalt der menschen – ihrer mimik und körpersprache, ihren empfindungen und ihrer lebensweise, zur choreografie ihrer kommunikation. Aber noch lange zeit steht dela gard diesem mitmenschlichen leben fremd gegenüber … allein ihre augen sind offen für das leben der stadt.

Münzers romane (und schon dieser) sind voller tragischer konstellationen – also kaum etwas für heutige lese-, denk- und empfindungskoventionen. Andererseits führen seine geschichten über die tragik hinaus: wenn die protagonistInnen nur ihre individualität annehmen würden: "Da zerbrechen sie sich den Kopf um allgemein gültige Lebensformen. Gönnt doch jedem sein besonderes Schicksal!" Darin gehört er zur avantgarde. Münzers tiefes verständnis für die gesellschaftliche situation von frauen, ihre gefangenheit in den vorgaben der frauenrolle, ihre erfahrung von männlicher selbstherrlichkeit und vergewaltigung (auch in der ehe) macht ihn zum feministischen autor.

In einigen romanen kurt münzers ist BERLIN die eigentliche hauptfigur, verabscheut und geliebt, aber immer im bemühen, sie zu fassen, zu begreifen, sie in der künstlerischen formung zu bewältigen. – Hier ist es berlin als stadt der bauinvestoren und -spekulanten, die zeit der ausdehnung in den westen: tiergarten, kurfürstendamm, charlottenburg, kantstaße, wilmersdorfer straße, grunewald. Das berlin der wende zum 20 jahrhundert, ein "Exerzierfeld der Moderne" , wurde zum nährboden kritischer, kreativer individualisten – nicht sehr anders als jetzt, an der wende zum 21. jahrhundert, nach dem ende von westberlin & hauptstadt der DDR!

DELA GARD ODER KUNST & LEBEN IN BERLIN ist der roman des neuen berliner westens mit seinen neureichen und den selbsternannten künstlerischen und intellektuellen avantgardisten, – wie alfred döblins BERLIN ALEXANDERPLATZ (19 jahre später) zum roman der berliner mitte wurde. Es ist ein roman der nach der wahrheit der welt, nach kreativem ausdruck, nach selbstbestimmung suchenden minderheit der jungen generation um 1900. Im rückblick gesehen, steht kurt münzers früher roman in mancher hinsicht am auftakt des 20. jahrhunderts in deutschland. Nicht zuletzt dokumentiert es den einstieg in die sogenannten wilden 20er jahre, den kulturellen generationswandels, der gewöhnlich erst mit dem ende des ersten weltkriegs, der revolution 1919 verbunden wird! – Was ist leben, was ist kunst, was daran ist wahr, was unwahr? Oder allgemeiner: "Was haben denn Leben und Kunst miteinander zu tun?" Zweifellos eine lebensfrage des autors, die noch in anderen werken zum ausdruck kommt.

Jede arbeit dieses autors weckt neu bei mir die frage, was war kurt münzer wohl für ein mensch? Im vorliegenden roman steht der nicht weiter erklärte satz: "Die anderen alle waren jeder ein einzelner Mensch, er allein war ein vielfacher." Und findet sich, ebenso isoliert, eine erfahrung des michael munk: "An kühlen Nachmittagen stieg er zum Weißenstein hinauf. In der Nacht erreichte er den Gipfel. Lichter über, Lichter unter ihm. Weit hinein ins Land verstreut, einzeln, in glänzenden Haufen, in langen Zügen, schienen sie ein Spiegelbild des Himmels. Zwischen zwei Himmeln stand er so im finstern Raum. Er war das schlagende Herz der grenzenlosen Nacht, die fühlende Seele des Universums. Alles Menschliche löste sich von ihm, und er empfand ganz die Gottheit, deren Symbol er war. Die Welt zog sich in ihm zusammen, in ihm verdichtete sich zu einem Einzigen das tausendfach gespaltene Leben. Er war das große Bewußtsein, und um ihn war das totale Nichts, der leer dunkle Raum, der wartete, von ihm belebt zu werden."

Der roman DELA GARD ODER KUNST & LEBEN IN BERLIN erschien 1910 unter dem originaltitel KINDER DER STADT. Dies hier ist, nach bald 100 jahren, die erste wiederveröffentlichung. Hinzugefügt wurden einige abbildungen aus dem damaligen berlin.

Von kurt münzer sind bei A+C bereits mehrere bücher wiederveröffentlicht worden! Siehe auch hier bei wikipedia.

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Kurt Münzer: JUDE ANS KREUZ !

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Kurt münzer (1879-1944) war ein origineller expressionistischer schriftsteller, dessen werke uns soziales und seelisches leben in deutschland zwischen 1910 und 1933 in besonderer weise nahebringen. Seine romane und novellen erschienen seinerzeit in hohen auflagen; sie provozierten jedoch leserschaft wie literaturkritiker durch ihre themen, die zutagetretende haltung wie durch die emotional überhöhte darstellung. Der autor galt vielen als "skandaldichter", seine bücher wurden nicht selten abgetan als "unterhaltungsliteratur".

Von unterschiedlichen blickwinkeln nähert sich der autor in romanen und erzählungen seinen lebensthemen: der unvereinbarkeit von kunst und leben, dem wesen des judentums angesichts des zunehmenden antisemitismus, dem leid der entfremdeten menschen unserer zeit, der realität pathologischer mutter-kind-bindungen und seiner eigenen sehnsucht nach authentischen begegnungen und beziehungen, der ambivalenten lebendigkeit der großen städte. (Auch als porträtist der stadt BERLIN ist er wiederzuentdecken!)

Der roman 'JUDE ANS KREUZ' erschien 1928. Er enthält eine tiefgründige poetisch-literarische auseinandersetzung dieses jüdischen autors mit dem sinn des jüdischseins - angesichts der zunehmenden antisemitischen pogromstimmung im deutschland der 20er jahre. Dabei erinnert die darstellung an jesus christus, den juden, und daran, daß die botschaft der liebe zwischen den menschen zur jüdischen spiritualität gehört.

'JUDE ANS KREUZ' wird hier erstmals wiederveröffentlicht, mit einem ausführlichen biobibliografischen nachwort des herausgebers sowie einem anhang (kurt münzer zum wesen des judentums; bibliografie).

Als originalausgabe ist bei A+C eine auswahl von novellen und feuilletons von kurt münzer erschienen: 'Bruder Bär', als wiederveröffentlichungen der berlln-roman 'Menschen am Schlesischen Bahnhof' sowie die romane 'Phantom' und 'Esther Berg'.

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Kurt Münzer: MENSCHEN AM SCHLESISCHEN BAHNHOF

Berlin 1929. - Der idealistische bürgersohn peter hat sich ins zille-milieu am schlesischen bahnhof verlaufen; schwärmerisch verliebt er sich in anna, ein mädchen von dort. Das kann nicht gutgehn. Er lernt elli kennen, die bei aller seelischen und körperlichen zerstörung hilflos-naive alte hure, annas mutter. Mit dem jungen ganoven paul entsteht zaghafte, mißtrauische nähe. Eine lebenskluge großmutter taucht auf und toni, ihr verkrüppelter, heimlich gedichte schreibender 13jähriger enkel. Jede begegnung, jedes gespräch läßt peter andere wahrheiten ahnen. Öffnet ihm die augen für verdrängte momente der sozialen realität wie der eigenen lebensgeschichte. In einer tragikomischen dreiecksgeschichte zwischen peter, anna und paul führen unterschiedliche traumatische kindheitserfahrungen zur katastrophe.Dann ein gnadenlos wahrhaftiger abschied - in st. pauli, am hamburger hafen. Was bleibt, ist sinnlich-sinnhaftes leben: das meer, die möwen, die städte. Wenn wir unser existenzielles alleinsein annehmen, wird alles (die welt) zum gegenüber, - vielleicht eine reminiszenz münzers an martin bubers dialogische mystik.

Zerrissene, zutiefst ambivalente sehnsucht nach kindlicher mutterbindung und/oder erotischer liebe (zwischen hetero- und homosexualität, zwischen abgestumpftem egoismus und idealistischer sublimierung) - kurt münzers lebensthema! - wird hier fast allgemeingültig, in poetischer verdichtung dargestellt.

Die erstausgabe des romans erschien 1930 in dem avantgardistischen verlag bruno cassirer. In manchem eine antwort auf 'Berlin Alexanderplatz'(1929), fehlen dieser geschichte döblins artifizielle literarische techniken und seine langatmigkeit.Dafür ist der fast vergessene jüdisch-deutsche expressionist kurt münzer wohl näher dran an alltag, leid und lebensgefühl von proleten, kindern, huren und gangstern rund um den friedrichshain und am schlesischen bahnhof (heute ostbahnhof), im wedding (dem andern zille-kiez), im scheunenviertel und am alex.

'Menschen am Schlesischen Bahnhof'  ist eine letzte bittere liebeserklärung münzers an die berlinerInnen im schmuddligen untergrund der glamourösen zwanziger jahre. Auf der straße marschieren bereits die nazis.. 1933 brennt auch dieses buch. Der autor emigriert in die schweiz, wo er 1944 stirbt.

Von kurt münzer wurden  bei A+C außerdem wiederveröffentlicht die romane 'Jude ans Kreuz!', 'Phantom'  und 'Esther.

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Mondrian Graf v. Lüttichau: ARCHITEKTUR IM ALTEN BERLIN

…und was davon übrig ist!

Gestaltung, Umgestaltung, / Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung (Goethe: Faust II) – gilt unbedingt für die Doppelstadt Berlin und Cölln, von Anfang an bis heute und auf morgen zu. Aufbau, Umbau, Zerstörung, Neubau, Brache, Wiederaufbau, Ganz-anders-Bau… – so war es hier zu jeder Zeit. Diese Sammlung von über 400 Abbildungen aus 300 Jahren(Federzeichnungen, Stiche, Gemälde, Fotografien) soll es dokumentieren – ohne wissenschaftlichen oder sonstwie systematischen Anspruch. Denn "systematisch" hat sich Berlin niemals entwickelt – und nur wer das Berliner Chaos mag, wird sich hier wohlfühlen (nicht nur sich in einem Kiez verkriechen).

Immerhin versuchen die Begleittexte, auf gesellschaftliche und städtebauliche Zusammenhänge hinzuweisen. Das Chaos ist ja durchaus relativ: jeder Hausbau, jede Straßenanlage hatte ihren historischen Grund. – Graues Kloster, Gerichtslaube, das Stadtschloß (in seinen geschichtlichen Verwandlungen), der unglückselige Münzturm, die Schloßfreiheit, Lustgarten, Leipziger Straße (einst die Berliner Weltstadtstraße), der Wintergarten, Spittelmarkt und Molkenmarkt, Mühlendamm, Hausvogtei, Parochialkirche, Georgenstraße, Kronprinzenpalais und Altes Palais, Unter den Linden, die Hedwigskirche, die Kommode, Singakademie und Kastanienwäldchen, Café Bauer und Kranzler-Eck, Leipziger und Potsdamer Platz, Brandenburger Tor und Pariser Platz, Krolloper, Gendarmenmarkt, Spuren der jüdischen Bevölkerung, Alexanderplatz, Anhalter Bahnhof, das Trauerspiel der Friedrichswerderschen Kirche,  Bauakademie und Museumsinsel, Jungfernbrücke und abgerissene Friedrichsgracht, die Schwebebahn an der Jannowitzbrücke (fast!), Krögel und alter Hafen, Oberbaumbrücke und Görlitzer Bahnhof, der Unterschied zwischen SO 36 und Kreuzberg 61, ein Trudelturm in Adlershof, Bettine v. Arnims Haus, der Gesundbrunnen mit  Millionenbrücke und Wiesenburg, eine überraschende Skulptur im Schloßpark Charlottenburg – – noch manches andere lädt ein, der Berliner Geschichte nachzuspüren. Ich jedenfalls habe Berlin als historisch gewordene Lebenswelt während der Arbeit an dieser Dokumentation nochmal ganz neu kennengelernt.

Natürlich gibt es eine unüberschaubare Fülle von Bildbänden und anderer Literatur zum Thema Berlin (Hinweise sind enthalten). Diese Veröffentlichung ist eine subjektive Auswahl, die auch ihre Geschichte hat … und mit der letztlich nur mein Bedürfnis verwirklicht wird, einmal ein Buch zu machen, das ganz und gar der Stadt Berlin gewidmet ist, die seit 1984 zu meiner Heimat geworden ist.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: ELSTERN IN BERLIN

2., erweiterte auflage im oktober 2014.

Teil 1 + 2:

Aus dem tagebuch meiner ersten beiden jahre in westberlin (1984-86). Deutlich wird das ganz eigene lebensgefühl in dem von der mauer umschlossenen 'politischen gebilde', das - von innen gefühlt - kaum mehr mit der BRD zu tun hatte als mit frankreich oder holland. Dafür wurde ostberlin, die hauptstadt der DDR, bald zum untrennbaren teil meiner neuen heimat BERLIN. (Teil 2: "Anne F. nicht vergessen" kam in der 2. auflage hinzu.)

Teil 3:

Tagebuch der aufwühlenden zeit zwischen september und dezember 1989. Da saß ich in westberlin und habe atemlos, erschüttert und voller enthusiastischer spannung DDR-medien verfolgt und dann, vor allem nach dem 9.11., die täglichen veränderungen in ganz berlin miterlebt.

Teil 4:

Rund 500 bücher aus der DDR (und etliche filme) werden (mit bibliografischen angaben) aufgelistet, die zum großen teil schon jetzt vergessen sind. In ihnen ist viel vom lebensgefühl und vom alltag in der DDR bewahrt, - vielleicht mehr als in den wenigen allseits bekannten ('anerkannten') werken der DDR-belletristik. (Wurde für die 2. auflage ergänzt.)

Teil 5:

Textur des übergangs - fotos aus ost-berlin (1998-2000). (Neu in der 2. auflage.)

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Mondrian w. graf v. lüttichau: PFADE NACH UTOPIA. Berliner tagebücher 1986-92

Die jahre 1986-92 stehen für den weitgehenden rückzug von meinen bisherigen sozialen kontakten und aktivitäten. Grundlegender als bisher mußte ich klären, was ich eigentlich machen will in meinem leben, mit welchen menschen ich mich verbinden möchte. – Die zeit in westdeutschland wurde endgültig vergangenheit; berlin wurde zu meiner heimat (und ist es geblieben). Weitgehend vergessene bücher, die ich auf den westberliner flohmärkten fand, wurden zu wichtigen pfadfindern beim nachdenken über die menschen, über gesellschaft und politik.

Die welt zu verstehen und selber ganz zu bleiben, diesen "kinderwunsch" hatte ich nie hinter mir gelassen, und schrittweise konnte ich dran gehen, ihn zu  verwirklichen. Achtsamkeit für die vielschichtigen nuancen menschlicher entwicklung muß zum selbstverständlichen aspekt der sozialen lebendigkeit werden, denn die zunehmende ausdifferenzierung der individualitäten (und damit der anstieg von problematischen kombinationen) wird für jahrhunderte normalzustand in der entwickelten zivilisation bleiben. - Ich begann ein politikwissenschaftliches studium und brach es nach ein paar semestern frustriert ab. Am ende dieser umbruchzeit stand die entscheidung, als behindertenpädagoge zu arbeiten.

Im mittelpunkt des zweiten buches (Berliner tagebücher 1989-92)  stehen außerdem erfahrungen und reflexionen im zusammenhang mit der verwandlung von berlin nach dem fall der mauer sowie hoffnungen, erwartungen, illusionen und neue perspektiven für die DDR, für deutschland und vielleicht auch für europa.

Siehe auch das buch 'ELSTERN IN BERLIN' sowie meine berlin-fotos bei flickr.

Band I: Berliner tagebücher 1986-89
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Band II: Berliner tagebücher 1989-92
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