Neu im November 2024
Isaak Babel wurde 1894 in eine Familie von jüdischen Händlern im Moldawanka-Quartier in Odessa geboren. Im Jahr 1920 wurde er auf dem Höhepunkt des russischen Bürgerkriegs als Reporter der Reiterarmee des Generals Budjonny zugeteilt. Aus diesen Erfahrungen entstand die Novellensammlung DIE REITERARMEE(1926).
Nachdem er nach Odessa zurückgekehrt war, begann Babel eine Serie von Kurzgeschichten über das Leben im Odessaer Viertel Moldawanka vor und nach der Oktoberrevolution zu schreiben. Diese wurden zunächst in verschiedenen Magazinen und Zeitschriften veröffentlicht, 1931 erschienen die gesammelten Erzählungen unter dem Titel GESCHICHTEN AUS ODESSA als Buch.
1930 reiste Babel durch die Ukraine und sah die Brutalität, mit der die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Als Stalin seinen Griff um die sowjetische Kultur festigte und besonders nach dem Entstehen des "Sozialistischen Realismus" begann Babel sich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen.
Seit 1932 war Antonina Piroshkowa seine Partnerin.
Nach 1935 arbeitete er mit dem Regisseur Sergei Eisenstein zusammen. 1935 erschien sein zweites Theaterstück Marija im Druck. Es spielt im revolutionären Petrograd nach 1917, in einer Stadt des Elends und des Todes. Die scharfen Reaktionen auf die Veröffentlichung führten zum Abbruch der Proben an verschiedenen Theatern. Es wurde an keiner sowjetischen Bühne aufgeführt.
Nach dem Tod Maxim Gorkis 1936 verbrachte Babel seine Zeit in der ständigen Angst, verhaftet zu werden. 1939 wurde er beschuldigt, für den Westen spioniert zu haben. Babel wurde während der Verhöre schwer gefoltert und gab schließlich zu, Mitglied einer trotzkistischen Gruppe gewesen zu sein, für die ihn Ehrenburg und der französische Schriftsteller André Malraux bei seinem Paris-Aufenthalt angeworben hätten. Am Tag der Gerichtsverhandlung widerrief er das erzwungene Geständnis. Dennoch wurde er am 26. Januar 1940 von einem Tribunal für schuldig befunden und am darauffolgenden Tag im Gefängnis Butyrka erschossen. Ein Teil seines unveröffentlichten Werks wurde vernichtet.
Am 23. Dezember 1954 wurde Babel öffentlich von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen freigesprochen.
Antonina Nikolajevna Piroshkova (1909–2010) wurde in Krasny Jar (Nariinsk, Sibirien) geboren. Sie wurde Bauingenieurin; nach 1934 war sie Chefdesignerin beim Moskauer Metroprojekt und Konstrukteurin einiger Metrostationen. Isaak Babel lernte sie 1932 kennen, zwei jahre später verbanden sie sich in einer nichtregistrierten Ehe. Von der Zeit mit Babel berichtet ihr vorliegendes Buch.
Beider Tochter, Lydia (Lidiya) Isaakovna Babel, wurde 1937 geboren. Sie wurde später Architektin.
Während des Deutsch-Sowjetischen Kriegs war Piroschkowa mit ihrer Tochter in Abchasien evakuiert. Sie leitete dort eine Ingenieursgruppe für den Bau von Eisenbahntunneln im Kaukasus. In den 1950er Jahren war sie an Bauprojekten in den Kurort-Bezirken im Kaukasus beteiligt.
1956 bekam sie eine Dozentur am Moskauer Verkehrsinstitut, wo sie bis zu ihrem Ruhestand den Lehrstuhl für Tunnel und Untergrundbahnen innehatte. Sie war Mitautorin des ersten russischen Lehrbuchs für Tunnel- und Untergrundbahnbau.
Piroshkova ging 1965 in den Ruhestand und sammelte nun Materialien zu Leben und Werk Babels. 1996 emigrierte Piroschkowa in die USA. 1989 erschienen die hier wiederveröffentlichten Erinnerungen in Moskau, 1993 in der deutschen Ausgabe.
In Antonina Piroshkovas Erinnerungen wird uns Isaak Babel in seiner vielschichtigen Persönlichkeit vorstellbar… und auch seine Hoffnung auf die Perspektive einer menschenwürdigen Gesellschaft in der frühen Sowjetunion. Piroshkova berichtet von der unversiegbaren Achtsamkeit, mit der Babel Einblick nahm in politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge überall in der Sowjetunion, immer auf Grundlage von persönlichen Kontakten mit den Menschen vor Ort und im Bemühen, seine Erfahrungen mit der komplexen und widersprüchlichen Realität der damaligen Sowjetunion zu erweitern.
Dieses schmale Buch läßt eine Wahrheit der zweiten russischen (der sowjetischen) Revolution ahnen, die nichts von dem sich aus ihr entfaltenden stalinistischen Terror relativiert, aber einen grundlegend anderen Aspekt zeigt. Die hier deutlich werdende, tiefgründig an Menschenwürdigkeit orientierte Haltung Isaak Babels (und anderer damaliger Aktivist*innen, mit denen er befreundet war) hatte möglicherweise die Neigung verstärkt, sich einer "Partei", einem System unterzuordnen: in der Vorstellung, daß allenfalls auf Grundlage einer derartigen hierarchisch strukturierten Kollektivität "das Gute" obsiegen kann. Zeugnisse wie dasjenige von Antonina Piroshkova sind unersetzlich für das sozialpsychologische Nachdenken über diese Fragen (sofern sich überhaupt noch jemand für derlei interessiert, was ich manchmal bezweifle).
Dieser ganz und gar unprätentiöse Bericht steht geradezu kontrapunktisch zu Babels REITERARMEE; es zeigt Babels revolutionären Alltag, für den die Oktoberrevolution gekämpft hatte. Jetzt schien dieser Alltag endlich lebbar zu werden – jedoch lauerte im Hintergrund längst die Zerstörung durch den paranoid terroristischen Stalinismus. Piroshkovas knapper Bericht liest sich wie eine Novelle von Babel über den Schriftsteller Babel – aber es ist mehr: eine Anklage des Stalinismus, die gerade durch das in Piroshkovas Sätzen zu spürende verhaltene Lebensleid nicht weniger eindringlich ist als manche umgangreichen Zeugnisse.
Ähnlich wie Maxim Gorki, wurde auch Isaak Babel als Aktivist der bolschewistischen Revolution, der frühen Sowjetunion, in der BRD vor 1990 kaum rezipiert. Neue Veröffentlichungen deuten darauf hin, daß sich hier seit der Jahrtausendwende etwas zu ändern scheint. Am Anfang dieser Wiederentdeckung Babels standen Antonina Piroshkovas Erinnerungen.
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Leben für einen humanen Sozialismus … – Heinz Brandt (1909–1986) war kommunistischer Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. 1934 wurde er zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, 1940 in das KZ Sachsenhausen überstellt. Von dort wurde er 1942 ins KZ Auschwitz deportiert. Nach der Evakuierung des KZ im Januar 1945 wurde Brandt in das KZ Buchenwald verbracht und erlebte dort die Befreiung. Nach 1945 wurde er SED-Funktionär, ab 1952 als Sekretär der Berliner SED -Bezirksleitung für Agitation und Propaganda.
Im Zusammenhang mit dem Aufstand vom 17. Juni 1951 kam er in Konflikt mit der stalinistischen Machtclique um Walter Ulbricht. (Diese Erfahrungen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Buches.) 1958 floh Brandt in den Westen; 1961 wurde er während eines Kongresses in West Berlin in die DDR entführt, dort wurde er wegen "schwerer Spionage in Tateinheit mit staatsgefährdender Propaganda und Hetze im schweren Fall" zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt. Es folgten zwei Jahre Haft in der Sonderhaftanstalt Bautzen II. Eine weltweite Kampagne der IG Metall, von Linkssozialisten, Amnesty International und Bertrand Russell führte 1964 zu seiner Freilassung. Nach der Rückkehr in die Bundesrepublik stritt Brandt für einen humanen Sozialismus.
Die skandalöse, verbrecherische und spektakuläre Entführung Heinz Brandts durch Agenten des MfS war seinerzeit zweifellos der publikumswirksamste Aspekt des Buches; heute erkennen wir seinen Wert vorrangig in Brandts Insider-Zeugnissen zur frühen DDR-Geschichte. Aber auch die Erinnerungen an seine Kindheit in der jüdischen Familie (in Posen), vor und im ersten Weltkrieg, und als Kämpfer gegen die NS Diktatur (bereits lang vor 1933), die Gefangenschaft in den Zuchthäusern Luckau und Brandenburg sowie den KZ Sachsenhausen, Auschwitz und Buchenwald sowie zum politischen Antisemitismus in der Sowjetunion wie in der DDR, auch der beeindruckende Einblick in Machtkämpfe innerhalb der damaligen politischen Führung von Sowjetunion und DDR sowie Brandts Beteiligung an den Ereignissen um den 17. Juni 1953 gehören zu den bedeutenden Zeugnissen in diesem Buch. Brandts luzide Kritik der politischen Entwicklung Rußlands (vom Zarenreich über die Oktoberrevolution bis zum Stalinismus) zeigt sich heute, spätestens mit Wladimir Putins großrussischen Halluzinationen und seinem verbrecherischer Krieg gegen die Ukraine, als weiterhin relevant, wenn auch der Versuch einer Revolution von oben durch Michail Gorbatschow die gesellschaftlichen Ressourcen für eine menschengemäßere Entwicklung der russischen Gesellschaft deutlich gemacht hatte.
Die polit-strategischen und -taktischen Abläufe, die Heinz Brandt aus der Frühzeit der DDR nuanciert nachvollziehbar macht, gab es nicht nur dort und in der Sowjetunion: sie sind wesentlicher Aspekt des machttaktischen Normalität immer und überall, natürlich auch heutzutage. Deswegen können wir aus dieser Darstellung historischer Vorgänge lernen, können Sensibilität entwickeln für derartige machtorientierte Rhetorik: in den Verlautbarungen der heutigen Politiker, in den Medien, im Arbeitsleben und gelegentlich auch im privaten Alltag.
Dieser autobiographischer Bericht erschien ursprünglich 1967 im Paul List Verlag München, dann 1977 in Andreas Mytzes verlag europäische ideen. Die bisher letzte Buchhandelsausgabe erschien 1985 im Fischer Taschenbuch Verlag. Diese erweiterte Taschenbuchausgabe (1985) wird jetzt (2022) als online-Ausgabe (zum kostenfreien Download) neu herausgegeben. Dazugekommen sind Literaturempfehlungen des Herausgebers.
(Aus dem Nachwort 2022)
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Neu im September 2024
Mit Dokumenten und Aufsätzen
herausgegeben von Fritz Mierau (1968)
Isaak Babelwurde 1894 in eine Familie von jüdischen Händlern in Odessa geboren. Kurz nach seiner Geburt übersiedelte die Familie nach Nikolajew, wo es Babels Vater zu Wohlstand brachte. Im Winter 1905 kehrte Babel nach Odessa zurück und besuchte die Wirtschaftsschule von Odessa, die er 1911 abschloß.
Da ein Studium an der Universität von Odessa wegen der Quote für Juden nicht in Frage kam, ging Babel nach Kiew an das Institut für Ökonomie und Finanzen. 1916 schloß Babel sein Studium ab und zog nach Petrograd (heute: Sankt Petersburg). In der Stadt lernte er den Schriftsteller Maxim Gorki kennen, der einige der Kurzgeschichten Babels in seinem Magazin Letopis (Летопись) veröffentlichte. Gorki gab dem angehenden Schriftsteller den Rat, sich mehr Lebenserfahrung zu verschaffen.
Der Erste Weltkrieg und die darauffolgende russische Revolution veränderten auch Babels Leben vollständig. In den nächsten sieben Jahren kämpfte er im Ersten Weltkrieg an der rumänischen Front und arbeitete für die Tscheka als Übersetzer bei der Spionageabwehr.
Im Jahr 1920 wurde er auf dem Höhepunkt des russischen Bürgerkriegs als Reporter der Reiterarmee des Generals Budjonny zugeteilt.
Verschiedene Geschichten, die später in dem Band DIE REITERARMEE zusammengefaßt wurden, wurden 1924 in Wladimir Majakowskis Magazin LEF ("ЛЕФ") publiziert. Babels ehrliche Beschreibung der Brutalität des Krieges und sein Verzicht auf Beschönigungen brachten ihm eine Reihe von mächtigen Feinden ein, darunter auch General Budjonny. Die Intervention Gorkis verhinderte jedoch eine Vernichtung des Buches, welches bald in verschiedene Sprachen übersetzt wurde.
1930 reiste Babel durch die Ukraine und sah die Brutalität, mit der die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Als Stalin seinen Griff um die sowjetische Kultur festigte und besonders nach dem Entstehen des "Sozialistischen Realismus" begann Babel sich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen Nach einigen vergeblichen Anfragen wurde es Babel schließlich gestattet, ins Ausland nach Paris zu reisen und dort seine Familie zu besuchen. 1935 hielt er eine Ansprache auf dem Kongress antifaschistischer Schriftsteller in Paris. Nach seiner Rückkehr arbeitete er mit Sergei Eisenstein an dem Film Beschinwiese und schrieb an Drehbüchern für weitere sowjetische Filme mit. 1935 erschien sein zweites Theaterstück Marija im Druck. Die scharfen Reaktionen auf die Veröffentlichung führten zum Abbruch der Proben an verschiedenen Theatern. Es wurde an keiner sowjetischen Bühne aufgeführt.
Man verhaftete Babel aufgrund einer Denunziation am 15. Mai 1939. Er wurde beschuldigt, für den Westen spioniert zu haben. Babel wurde während der Verhöre schwer gefoltert und gab schließlich zu, Mitglied einer trotzkistischen Gruppe gewesen zu sein. Am Tag der Gerichtsverhandlung widerrief er das erzwungene Geständnis. Dennoch wurde er am 26. Januar 1940 von einem Tribunal für schuldig befunden und am darauffolgenden Tag im Gefängnis Butyrka erschossen.Babels Witwe Antonina Nikolajewna erfuhr erst 15 Jahre später von seinem Tod – vorher wurde ihr immer wieder die falsche Information gegeben, dass ihr Mann noch am Leben sei – und die volle Wahrheit erst 1988. Seine Manuskripte wurden bei seiner Verhaftung vom NKWD beschlagnahmt und später verbrannt.
Am 23. Dezember 1954 wurde Babel öffentlich von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen freigesprochen. Dies ermöglichte seiner Witwe die erneute Veröffentlichung seiner erhalten gebliebenen Werke ab 1957.
Isaak Babel war ein radikaler Revolutionär: durch und durch ging es ihm um menschenwürdige Inhalte. Die Frage nach dem Sinn, der Notwendigkeit, der Vermeidbakeit oder Unvermeidbarkeit von Gewalt (auch gegen subjektiv Schuldlose) ließ ihn nicht los. Deutlich wird Babels seelische Zerrissenheit in diesem Kampf, mit dessen grundlegenden Intentionen er ganz und gar identifiziert ist – obwohl er sich zugleich unfähig fühlt, einen Menschen zu töten. Die überragende Bedeutung seiner REITERARMEE liegt auch darin, daß er ein zärtlicher, gewaltloser, nachdenklicher und unbedingt liebevoller Mensch war.In seinem Ringen um adäquaten sprachlichen Ausdruck manifestiert sich möglicherweise auch sein innerer Kampf gegen den Impuls, sich in die revolutionäre Gewalt fallenzulassen (wie es wohl viele gemacht haben): um dem apokalyptischen Schrecken, den er erlebte, doch winzige Momente Menschenwürdigkeit abzugewinnen.
"Mein trübes Poetenhirn verdaute eben den Klassenkampf", schreibt Babel in einer der Novellen – und es kann kaum Zweifel geben, daß der Klassenkampf im konzeptionell definierten Sinn nicht sein Thema war. Auch wenn er auf die russische Revolution hoffte und sie auf seine Weise, mit seinen Möglichkeiten unterstützen wollte. Isaak Babel geht es immer vorrangig um die konkreten Menschen in ihrer kreatürlichen Authentizität, ihrem Leid und ihren Hoffnungen und Sehnsüchten.Selbst gewalttätiges Verhalten, das wir spontan empört ablehnen, wird uns in Babels Darstellung unfreiwillig ein wenig nachfühlbar … Uns wird wieder ein bißchen bewußter, daß alles, was Menschen machen, menschlich ist. Nichts, wovon wir bei Babel lesen, ist uns ganz und gar fremd; aber wie hätten wir uns verhalten in dieser geschichtlichen Situation .. wo wären wir gestanden? Diese Frage ist ein zartes Pflänzchen und geht im allgemeinen unter in dem genauso natürlichen Impuls, eigene Interessen, Empfindungen und Überzeugungen für ein bißchen legitimer zu halten als die Interessen, Empfindungen und Überzeugungen anderer. – Aber ohne mehr Aufmerksamkeit für das uns allen gemeinsame Spektrum menschlicher Impulse wird dieses Hauen und Stechen, dieses "Wie du mir, so ich dir" unablässig weitergehen in der Geschichte der Menschheit.
Die Situation der russisch-ukrainischen Juden in dieser Zeit, in diesem ukrainisch-polnischen Land, zieht sich als Subtext durch die meisten Episoden dieses Zyklus: da sind jüdische Angehörige und Sympathisanten der Revolution, ist die politisch indifferente, oft chassidisch orientierte jüdische Landbevölkerung, da ist der offenbar verbreitete Antijudaismus (Antisemitismus?) in der nichtjüdischen Bevölkerung und da sind die Hinweise auf Judenpogrome als selbstverständlicher Aspekt des sozialen Lebens.
Es gibt auf deutsch etliche Ausgaben der REITERARMEE. Die Relevanz einer Wiederveröffentlichung der Ausgabe in der Reclam Bibliothek Leipzig (1968) lag allein in dem von dem bedeutenden Slawisten Fritz Mierau zusammengestellten Material des Anhangs (einschließlich seiner eigenen subtilen Darstellung der Welt des Isaak Babel). Dieser zweite Teil des Buches ist in seiner Dichte und Vielschichtigkeit ein dokumentarisches Abenteuer für sich! Es vermittelt etwas von Isaak Babels Lebens- und Schaffensernst und der Bedeutung des Babelschen Textes in der Zeit, in der er und für die er geschrieben wurde. Isaak Babels REITERARMEE ist mehr als eine Sammlung mitreißender Novellen in einem ungewöhnlichen Stil: es ist ein geschichtliches Dokument für die Situation in Rußland am Beginn der Sowjetischen Revolution. Als solches gehört es zur europäischen und damit auch zu unserer Geschichte.
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Jüdischkeit in Europa – damit verbinden sich uns meist Lebensberichte, Zeugnisse und Erzählungen mehr oder weniger "assimilierter" Juden und Jüdinnen in Westeuropa. "Ostjuden" tauchen eher als undifferenzierte Kategorie mit für uns seltsamem Habitus auf. Bis heute sehr verbreitet sind die Stereotypien des Händlers und des traditionell religiösen Juden, schwarzgekleidet, mit Kippa und Stirnlocken. Moshe Zalcmans Bericht zeigt uns eine völlig andere Welt osteuropäischer Jüdischkeit!
Das Buch verbindet Zalcmans mitreißend erzählte Lebensgeschichte zunächst mit einer unglaublichen Fülle an Informationen zur Situation der jüdischen Bevölkerung in Polen vor 1933. Ein roter Faden des gesamten Buches sind detaillierte Hinweise auf Aktivist*innen der damaligen jüdischen Arbeiterbewegung in Polen und Sowjetrußland. Zalcman erinnert an unzählige jüdische Opfer der stalinistischen Terrors, nennt ihre Namen, skizziert ihr Leben und ihr Leid. Sein Buch ist ein wichtiges und zumindest deutschsprachig durch nichts zu ersetzendes Zeugnis zu diesem sonst wohl wenig beachteten Kapitel in der Geschichte des europäischen, speziell osteuropäischen Judentums, das trotz seiner Orientierung an den religiösen Formen integriert war ins soziale Leben der nichtjüdischen Umgebung (wobei Zalcman hier vorrangig von seiner Heimatstadt Zamość berichtet), in verschiedensten Berufen und eben auch im politischen Engagement. Eine Kehrseite ist jedoch der in Polen und Rußland damals immer wieder aufflammende Antisemitismus, manchmal geschürt aus politischen Gründen, immer mit bösen, tödlichen Folgen.
Nicht weniger detailgenau und zugleich ergreifend nachfühlbar erzählt geht es im zweiten Teil um Zalcmans Schicksal ab 1933, in Sowjetrußland, wo er mitarbeiten wollte am Aufbau einer menschenwürdigen "neuen" Gesellschaft. Dieses Engagement führte für Zalcman in Stalins paranoidem Staatssystem zu Verhaftung, Gefangenschaft, Folterung, Zwangsarbeit(1937-47) und Verbannung(1948-56).
Zalman berichtet von ökonomischen und alltäglichen Lebensumständen der Bevölkerung in Rußland, in Sibirien und (für die Zeit nach 1948) in Georgien. Wir erfahren nuancierte (auch strukturelle, sozialpsychologische) Einzelheiten zu Leid, Tod und zum Überleben unter menschenunwürdigen, von bürokratischer Indolenz, Machtmißbrauch, menschlicher Abstumpfung und Sadismus geprägten Umständen. Zalcman berichtet von entsetzlichen, kaum glaublichen bürokratisch-terroristischen Gewalttaten gegen einzelne Menschen. Insbesondere in Zalcmans Bericht aus seiner Zeit in Georgien (1948-56) wird sinnlich nachvollziehbar, wie der Alltag einer durch Korruption, Seilschaften, Bürokratenwillkür, Staatskapitalismus und organisiertes Banditentum der Funktionäre verkrebsten Gesellschaft abläuft.
Moshe Zalman (geboren 1909) hat seinen Lebensbericht auf Jiddisch geschrieben; im Jahr 1977 wurde er in französischer Übersetzung veröffentlicht. Eine deutsche Ausgabe erschien 1982 im Verlag Darmstädter Blätter. Während der Autor und sein Bericht in Frankreich bis heute medial präsent ist, wurde das Buch in der Bundesrepublik offenbar kaum zur Kenntnis genommen. Hier erscheint es in seiner ersten Neuausgabe.
Zum Thema Stalinismus siehe auch das bei A+C wiederveröffentlichte Buch von Victor A. Kravchenko: Als Funktionär im sowjetischen Stalinismus.
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("I Chose Freedom", 1946)
Victor A. Kravchenko wurde geboren am 11. Oktober 1905 in Jekaterinoslaw (heute Dnipro/Ukraine); er starb am 25. Februar 1966 in Manhattan. Er war ein sowjetischer Ingenieur und späterer Handelsdiplomat in Washington, D.C., der dort 1944 um politisches Asyl gebeten hatte. Sein 1946 veröffentlichtes Buch I CHOSE FREEDOM war das erste umfassende Zeugnis zur terroristischen Bürokratie des sowjetischen Stalinismus jener Zeit. Es erregte weltweites Aufsehen und wurde in viele Sprachen übersetzt.
Für Menschen in westlichen Ländern, die damals oft in gläubiger Unbedingtheit an ihrem Ideal einer fortschrittlich menschenwürdigen Sowjetgesellschaft hingen, bedeutete Kravchenkos Zeugnis Skandal und Tabubruch – wogegen eine Vielzahl auch prominenter Intellektueller und Künstler mit allen Mitteln der medialen Öffentlichkeit Einspruch erhob. In einer kommunistisch orientierten französischen Zeitung erschien ein diffamierender Artikel, in dem nicht nur die Aussagen des Kravchenkobuches insgesamt bestritten, sondern auch der Autor in jeder nur möglichen Weise persönlich diffamiert wurde. Deshalb verklagte Kravchenko die Zeitung wegen Verleumdung. In einem ebenfalls aufsehenerregenden Prozeß (1949) wurde monatelang gestritten – nicht eigentlich um ein Buch oder Kravchenkos Persönlichkeit, sondern um die Situation im sowjetischen Staat!
Victor Kavchenkos Zeugnis in Verbindung mit dem von ihm angestrengten Prozeß (den er gewann) lenkte erstmals die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die menschenverachtenden, die mörderischen Zustände in der stalinistischen Sowjetunion.
Auf Grundlage des Prozesses konzipierte Kravchenko sein zweites buch: I CHOSE JUSTICE (New York 1950). Es bleibt wohl die gewichtigste Veröffentlichung zum Prozeß und ist zugleich eine bedeutende Ergänzung zum ersten Buch.
I CHOSE JUSTICE stellt den Pariser Prozeß, Kravchenkos Recherchearbeiten im Vorfeld und den grundsätzlichen Ablauf übersichtlich dar. Jedoch liegt der Schwerpunkt in Kravchenkos zweitem Buch deutlich auf den Zeugnissen der überlebenden Stalinismus-Opfer (sei es im Zusammenhang mit der Zwangskollektivierung oder der Verschleppung in Zwangsarbeitslager). Hier stand Gerechtigkeit für die schuldlosen Opfer dieses Regimes im Mittelpunkt – die vielleicht allenfalls durch das öffentliche Zeugnis, das Urteil der Geschichte möglich ist! Hier konnten Menschen einfach von dem Leid berichten, dem sie ausgesetzt waren und das sie vielleicht für den Rest des Lebens begleiten sollte – ohne kritische Befragungen und diskriminierende Zweifel. (Der Anhang der vorliegenden Veröffentlichung enthält eine kurzgefaßte Übersicht der ausführlicheren Zeugenaussagen sowie Namen vieler Opfer, die in jenem Buch genannt wurden.)
Spätestens nach dem russischen Überfall auf die Ukraine läßt sich die Frage nicht verdrängen, inwieweit es innere Verwandtschaften geben könnte zwischen dem sowjetischen Stalinismus (auch der Zeit nach Stalin) und dem von Wladimir Putin bestimmten aktuellen politischen System in Rußland. Ich meine, wir (im Westen) sollten uns bemühen, mehr zu verstehen von unserem Nachbarn Rußland, von der Entwicklung der russischen Gesellschaft, vom Lebensgefühl und Lebenssituation auch der dörflichen und kleinstädtischen Bevölkerung dieses größten Flächenstaates der Welt, um von daher den an der Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft in Rußland Interessierten solidarisch die Hand reichen zu können.
Victor Kravchenko lebte in den 50er Jahren meistens in Südamerika, wo er einen Großteil seines (durch die unzähligen Auflagen seines ersten Buches verdienten) Vermögens nutzte, um Silber- und Kupferminen zu finanzieren. Auch Projekte zur Organisation der armen Bauern in Genossenschaften scheint er dort unterstützt zu haben. Angeblich hatte er zunächst beträchtlichen Erfolg als Prospektor und Bergwerksunternehmer. Zeitweise hielt er sich in New York und auf der Ranch seiner Gefährtin Cynthia Earle in Arizona auf, bei seinen Söhnen Anthony und Andrew. Die Unternehmungen in Südamerika waren auf lange Sicht erfolglos, Kravchenko scheint deshalb viel Geld verloren zu haben.
In dieser Zeit erreichten ihn Gerüchte, daß seine Verwandten in den Lagern umgekommen seien.
Kravchenko hatte offenbar auf das mit Chruschtschow verbundene "Tauwetter" in der Sowjetunion gehofft. Dessen Sturz (1964) deprimierte ihn tief.
Am 25. Februar 1966 wurde Kravchenko mit einer Schußwunde in seiner Wohnung in Manhattan gefunden.
Kravchenkos Buch I CHOSE FREEDOM erschien auf Deutsch 1947 in Zürich, zwei Jahre später kam eine Ausgabe in Hamburg heraus, dann war Schweigen in der ja keineswegs kommunistenfreundlichen jungen BRD. Auf dem Hintergrund der kollektiv verdrängten NS-Vergangenheit tat sich die westdeutsche Öffentlichkeit möglicherweise besonders schwer damit, über eine menschenverachtende, terroristische Diktatur nuancierter nachzudenken.
Die hier vorliegende Ausgabe beim Verlag Autonomie und Chaos (2023) ist die einzige deutschsprachige Wiederveröffentlichung des Buches. (Demgegenüber gibt es zwei englische und eine französische Wiederveröffentlichungen.)
Der Anhang der vorliegenden Veröffentlichung enthält neben einer ausführlichen inhaltlichen Übersicht zu Kravchenkos zweitem Buch einen Aufsatz des Historikers Sebastian Voigt (zur Bedeutung des Kravchenkoprozesses für die Dissidentin und GULAG- wie KZ-Überlebende Margarete Buber-Neumann), Exzerpte aus Veröffentlichungen von Swetlana Alexijewitsch (zur Situation im nach-sowjetischen Rußland) sowie von Arthur Koestler (einem seinerzeit prominenten Dissidenten). Von einer russischen Website stammt Alex Klevitskys Bericht zu Victor Kravchenkos nachgelassenem Archiv. Die Literaturliste enthält vor allem Hinweise zu autobiographischen und belletristischen Werken russischer und sowjetischer Autor*innen; auch auf Dokumentationen zu Kravchenkos Prozeß sowie andere Arbeiten zum Thema Stalinismus wird im Anhang hingewiesen. Die Neuveröffentlichung enthält außerdem Fotos aus dem Prozeß sowie ein Nachwort des Herausgebers (MvL), in dem mögliche Kontinuitäten der russischen Gesellschaft (von der Zarenzeit bis zum Putin-Regime) zur Diskussion gestellt werden.
Zum Thema "Stalinismus" siehe auch das bei A+C wiederveröffentlichte Buch von Moshe Zalcman: Als jüdischer Arbeiter in Polen und im stalinistischen GULAG.
!- Grundlegender Widerspruch der "Söldnergruppe Wagner" zu den taktischen Begründungen des Putin-Regimes für den Krieg gegen die Ukraine! (23./24.6.23) ! - Der Anführer der Gruppe (Jewgeni Prigoschin) kam bei einem ungeklärten Frlugzeugabsturz ums Leben (August 2023).
! - Der oppositionelle Politiker Alexei Anatoljewitsch Nawalny ist seit 2021 inhaftiert und muß eine mehrjährige Gefängnisstrafe absitzen. Im August 2023 wurde ein weiteres Urteil gegen Nawalny bekannt gegeben und die Zeit im Straflager auf 19 Jahre Haft erhöht.- ! Kam im Februar 2024 im Gefängnis ums Leben.
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