Anne-als-sie-selbst. Anne Franks Botschaft

Wir alle wissen, was Anne Frank ist: "Das Tagebuch der Anne Frank gilt als ein historisches Dokument aus der Zeit des Holocaust und die Autorin Anne Frank als Symbolfigur gegen die Unmenschlichkeit des Völkermordes in der Zeit des Nationalsozialismus", steht bei Wikipedia. Aber wer war Anne Frank? Überlebende Freunde und Bekannte betonten manchmal, sie sei "trotzdem ein ganz normales junges Mädchen" gewesen; auch Rezensenten des Tagebuchs und Biografen sprechen gern von "normalen Gemütsschwankungen der Jugend". Anne selbst hätte es wohl anders gesehen; auch das ist dem Tagebuch zu entnehmen – nur mögen Erwachsene derlei ungern ernstnehmen, wenn sie ihren eigenen Anspruch an Authentizität und Selbstidentität längst verloren haben.

Annes Vater schrieb über seine Begegnung mit dem Tagebuch seiner Tochter: "Eine ganz andere Anne enthüllte sich mir aus diesen beschriebenen Seiten als das Kind, das ich verloren hatte. Ich hatte keine Ahnung von der Tiefe ihrer Gedanken und Gefühle gehabt."

Anne Frank wollte bekanntlich Journalistin oder Schriftstellerin werden; ihre schriftstellerische Begabung ist offensichtlich. Als grundlegendere individuelle Kompetenz erlebe ich jedoch ihre tiefgründige psychologische und spirituelle Achtsamkeit, die in diesen Lebensjahren (ihren letzten) erblühte. Um diese Anne Frank ging es mir in dieser Zusammenstellung von Passagen aus ihren Tagebüchern.

Die im zweiten Teil dokumentierten Zeugnisse von Annes (überlebenden) Schicksalsgefährten aus den Monaten in Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen bezeugen die Integrität ihrer kompromißlosen Mitmenschlichkeit auch dort. "Das völlig belanglose Tagebuch eines jungen Mädchens, das von sich selbst so völlig eingenommen und von seiner Intelligenz so dermaßen überzeugt ist, dass man sie nicht mal sympathisch finden kann" (wie eine amazon-Kundin kommentierte), war eben nicht nur pubertärer Widerspruchsgeist oder literarische Ambition. Auch in den kritischen Aufwallungen gegen die Mutter hatte Anne Frank nicht eigentlich gegen diese gekämpft, sondern ist, innerhalb ihrer Möglichkeiten, für ein höheres Niveau an Mitmenschlichkeit eingetreten.

Nicht selten wird Anne Frank mehr oder weniger deutlich als Symbol für die Millionen Opfer der Shoah profiliert. Dies ist unangemessen; jeder dieser Menschen repräsentiert sein einmaliges, unverwechselbares Leben. – Anne stand ein für Möglichkeiten menschenwürdiger Integrität, menschlichen Potentials angesichts schrecklicher, menschenunwürdiger Lebensumstände. Dies ist ihre Flaschenpost, als Moment einer nunmehr in jeder Generation unabdingbaren Erziehung nach Auschwitz.

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Christa: ICH SUCHE WAHRHEIT, WEG UND LEBEN

Heidelberg, April 1981. Christa Stiehm ist meine Chefin im VERLAG LAMBERT SCHNEIDER / LOTHAR STIEHM VERLAG. Bald ergänzen nichtgeschäftliche Hinweise, Assoziationen, Kommentare unsere gemeinsame Arbeit, mündlich wie auf Zetteln. Was berührt mich so an dieser Frau, hab ich mich gefragt, mit der ich außerhalb der Stunden im Verlag nichts zu tun hatte, die mit meiner sonstigen Lebenswelt kaum etwas zu tun zu haben schien?! –
Später hörte ich für rund 20 Jahre nur noch sporadisch von Christa. Ihre Scheidung von L. und der Verkauf des Verlags. Eine neue Lebenspartnerschaft. Anthroposophische Studien. Gemeinsam mit HFW dessen Haus gebaut. Später ein kleines eigenes Haus daneben gekauft und instandgesetzt. – Als wir vor einigen Jahren wieder Kontakt zueinander aufnahmen, hab ich mich getraut, auf ihre damaligen Zettel anzuspielen … und ob es vielleicht mehr Aufgeschriebenes gibt? Und ob sie sich vorstellen könnte, ein Buch draus zu machen? –
"Das ist doch alles nichts Besonderes, sowas erlebt doch jeder! Und wer will denn sowas lesen?" war ihre spontane Reaktion. "Ja, aber es ist etwas Besonderes, wie Sie mit diesem Erleben umgegangen sind... was Sie draus gemacht haben!" konnte ich schon aufgrund meiner Erinnerung an die Zeit im Verlag sagen.
Seit Anfang 2017 schickte sie uns (meiner Freundin Petra Bern und mir) nach und nach ihre Aufzeichnungen aus 50 Jahren: Tagebücher, einzelne Blätter, Briefe, ein Karteikasten, durchnummerierte Zettel und etliche Fotos, auch Briefe anderer. Wir durften lesen – mit der Frage, ob eine Veröffentlichung daraus werden könnte.

"Wat is los: nehme ich mich zu wichtig, oder nehm ich mich nicht wichtig genug. Es ist zum Kotzen." – steht auf einem Zettel an uns (28.11.17). Wer weiß, was jemand ist? Ich empfinde Christa als Mystikerin, die in allen Augenblicken sinnlich-konkretes, alltägliches Leben verwebt mit der Frage nach dem Ganzen, nach Wahrheit.Ein Schwerpunkt ihrer Wahrheitssuche ist Gott und "der Christus Jesus", axiomatische Begriffe sind Geist, Ich, Wille und Idee. Der andere Schwerpunkt ist die Suche nach mitmenschlichem Leben: in Liebe und Bindung, in sozialer Verantwortung und Partnerschaft. Es gibt vielleicht nur wenige Menschen, die dieses Spannungsverhältnis ein Leben lang ausgehalten und immer neu mit Sinn erfüllt haben; Christa gehört zu ihnen.
Allgemeinmenschliche ("private", "alltägliche") Situationen und Konstellationen nimmt Christa vorbehaltlos für wahr; ihre äußeren und inneren Erfahrungen werden bedeutsam über den Anlaß hinaus.Schlimme Lebenserfahrungen mit uns selbst und anderen haben wir alle. Zum fragwürdigen Konsens der sozialen Normalität gehört, daß wir mit derlei weitgehend allein "fertigwerden" sollen. Oft hat das zur Folge, daß wir Ungelöstes (vielleicht Unlösbares) innerlich wegzuschieben versuchen oder es billig rationalisieren. Das Besondere an Christas Aufzeichnungen ist nicht nur, daß sie überfordernde soziale (und spirituelle) Erfahrungen und Empfindungen redlich, subtil und doch einfach in Worte kleidet, sondern: wie sie mit ihnen umgeht. Sie verharrt nicht in den Fronten von Schuld und Schuldzuschreibung, sondern stellt dieser menschlich-allzumenschlichen Methode der Konfliktlösung das Vor-Bild Jesu Christi gegenüber. Obwohl ihr ethischer Anspruch dabei gelegentlich schier übermenschliche Höhe erreicht, verliert sie das Menschenleben hier und jetzt nicht aus dem Auge, aus dem Herzen. Erst müssen wir einige Gewißheit haben über unser "Ich", um eventuell den Schritt darüber hinaus machen zu können. Zugleich betrachtet Christa die Materie der Welt nicht nur dinghaft, sondern auch als Erscheinungen, als Spuren, Zeichen und Bilder, die uns in das Mysterium der Schöpfung hineinführen. – In diesem tiefgründigen (also "radikalen") Hineinhorchen in das Geheimnis des Menschseins und der Menschenwelt liegt das Kostbare ihrer Aufzeichnungen auch für LeserInnen, die Christas christliche Haltung nicht teilen.

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Diotíma: SCHULE DER LIEBE

(Bearbeitete neuausgabe: Mondrian graf v. lüttichau)

Dieses buch ist ein wunder! Es ist gewiß das radikalste, tiefste, liebevollste und weiseste, das in deutscher sprache je zum thema leibliche liebe geschrieben wurde. Diotímas haltung ist radikal in jeder weise: Liebe sieht sie als schrankenlose, tabulose sexuelle leidenschaft und hingabe und zugleich unbedingte und kompromißlos innigste nähe zweier menschen in ihrer individualität.

Zum thema eros im zeitalter der sexuellen revolution schreibt der sexualwissenschaftler volkmar sigusch: "Doch wenn wir genauer hinsehen, entdecken wir überall, oft hinter buntscheckigen Masken versteckt, ungestillte Sehnsucht, aufgeputschte Nerven, abgespeistes Verlangen, enttäuschte Liebe, eingeredeten oder tatsächlichen Missbrauch, Versagen, Heuchelei, Geschlechtszweifel, Sexismus, Angst, Schuld, Einsamkeit und Selbstsucht. Offenbar gähnt in unserer Kultur ein Abgrund zwischen unseren Wünschen und ihrer Befriedigung. (...) Eine in sich harmonische Möglichkeit des Erotischen und des Sexuellen ist nicht einmal theoretisch zu erkennen." ('Neosexualitäten', frankfurt/m. 2005, seite 50, 52) - Genau um solche möglichkeiten aber ging es lenore frobenius-kühn, der autorin des hier wiederveröffentlichten buches.

'Schule der Liebe' erschien 1930im Verlag Eugen Diederichs (Jena). Die neuausgabe wurde um rund 70% gekürzt. Herausgenommen wurden vor allem inhaltliche redundanzen und weitschweifige erörterungen, die vielleicht damals die funktion hatten, zensur-instanzen abzulenken. Einige zeittypische begriffe wurden durch heutzutage verständlichere ersetzt. – Die ausgabe enthält ein ausführliches nachwort des herausgebers.

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Eugen Diesel: ZIVILISATORISCHER FIRLEFANZ - Verdinglichung mit Perspektiven 1926 & 1947

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Der nahezu vergessene technikphilosoph eugen diesel (1889-1970) hat lebenslang nachgedacht über perspektiven der zivilisation. Es ging ihm um die fatalen gesellschaftlichen auswirkungen von technik und organisation, von rationalisierung und bilanzierung, von werbung und konsum in unserer zeit. Kritik an der verwissenschaftlichung des denkens (des "geistes") und der bürokratisierung der sozialen prozesse. Die verdinglichung von organismen, begriffen, ideen/einfällen, von zeit/geschwindigkeit. Der "totale" staat. - Dies nicht im sinne maschinenstürmerischer rückwärtswendung zu "blut und boden" oder "goetheschem geist", sondern als techniker, als genuin systemischer, humanökologischer und rhizomatischer denker, ideologiekritisch, manchmal mit bitterer ironie, aber ehrlich auf der suche nach lebenswerten perspektiven, - und ohne momente von ratlosigkeit zu verschweigen.

Für diesel, dem kreatives verständnis für maschinen, regelungstechnik (als grundlage der kybernetik) und organisationzweifellos schon vom vater (dem motorenerfinder) nahegebracht wurde, ist die progressive verdinglichung der menschenwelt sinnlich (auch psychologisch) greifbarer als für viele politiker oder gesellschaftskritische intellektuelle, die sich mit "technischem" nicht befassen mögen. Seiner darstellung kommt das zugute. Eugen diesel verdeutlicht uns problematische grundmuster, die aktuell geblieben sind; - in mancher hinsicht sind sie heute, im "informationstechnischen" zeitalter von "postmoderne", "radikalem konstruktivismus", "beschleunigung" und "globalisierung", sogar besser zu erkennen als damals. Er nimmt uns mit auf seine suche nach möglichkeiten einer zu irreversiblen entwicklungen kompatiblen gegenbewegung, mit der zunehmend zerstörerisch werdende positive regelkreise möglicherweise ausgeglichen werden könnten.

Sinnlich greifbar wird uns in seiner darstellung die alltägliche, unmerklich und geradezu selbstverständlich fortschreitende verdinglichung, instrumentalisierung unserer welt - und unseres bewußtseins! - Derzeit erleben wir entsprechende prozesse hautnah mit im bereich der digitalen technik: google, social networks, e-bay, amazon, virtuelle welt, blogs, chat rooms, i-phone.. Fortschritte ohne zweifel - aber wohin? Nutzen wir ihre möglichkeiten selbstbestimmt oder passen wir uns ihren vorgaben "automatisch" an? Welche freiräume und erfahrungen werden verstellt durch das neue?

Es könnte nützlich sein, aus der zeitlichen distanz seines blickwinkels konkret und alltäglich über entfremdung, verdinglichung, mechanisierung des heutigen lebens nachzudenken - achtsam für unseren alltag - im bemühen, wahlmöglichkeiten zu erkennen, freiräume, in denen gegenbewegungen zur progressiven verdinglichung sich entfalten können - wenn auch "nur" für unseren individuellen einflußbereich. "In dem erstaunlich verwickelten Gewebe steht jeder von uns an einem Knotenpunkt, worin tausende der ungleichartigsten Fäden zusammenlaufen",schreibt eugen diesel; darin liegt auch ein potential!

Als erstmalige wiederveröffentlichung werden hier zwei texte eugen diesels nebeneinandergestellt: 'Die Krise der Lebendigkeit' (1926) und 'Das Schicksal der Menschheit im Zeitalter der Technik' (1947). - Mit vorwort des herausgebers.

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Gudrun Tuulia: DIE ERDE IST EIN BEFREMDLICHER ORT. AFRIKA 1

"Wie soll ich sanft sein, wenn rundherum Krieg ist. Sanftheit. Tiger. Pures Sein. Krieger. Schleicher. Unberechenbar. Skorpion. Man lebt allein, man stirbt allein. Vom Zehnmeterbrett in die Leere springen. Durchtauchen und ein goldener Schild aus Licht. Schützend, heilend. Darunter beginnt sich die Wunde zu schließen. Unter einer Pyramide aus Gold und Licht. Uralt. Mir scheint es ewig, dass ich von einer Welt zur anderen wandere, und das ganze ist wie ein einziger langer Tag. Von einem Leben zum nächsten. Nicht anders als die Schuhe zu wechseln. Die letzten paar hundert oder tausend Jahre als Beobachterin und Zeugin, eine Art Auslandskorrespondentin für das universelle Archiv." GUDRUN TUULIA

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Isaak Babel: DIE REITERARMEE

Neu im September 2024

Mit Dokumenten und Aufsätzen
herausgegeben von Fritz Mierau (1968)

Isaak Babelwurde 1894 in eine Familie von jüdischen Händlern in Odessa geboren. Kurz nach seiner Geburt übersiedelte die Familie nach Nikolajew, wo es Babels Vater zu Wohlstand brachte. Im Winter 1905 kehrte Babel nach Odessa zurück und besuchte die Wirtschaftsschule von Odessa, die er 1911 abschloß.
Da ein Studium an der Universität von Odessa wegen der Quote für Juden nicht in Frage kam, ging Babel nach Kiew an das Institut für Ökonomie und Finanzen. 1916 schloß Babel sein Studium ab und zog nach Petrograd (heute: Sankt Petersburg). In der Stadt lernte er den Schriftsteller Maxim Gorki kennen, der einige der Kurzgeschichten Babels in seinem Magazin Letopis (Летопись) veröffentlichte. Gorki gab dem angehenden Schriftsteller den Rat, sich mehr Lebenserfahrung zu verschaffen.

Der Erste Weltkrieg und die darauffolgende russische Revolution veränderten auch Babels Leben vollständig. In den nächsten sieben Jahren kämpfte er im Ersten Weltkrieg an der rumänischen Front und arbeitete für die Tscheka als Übersetzer bei der Spionageabwehr.
Im Jahr 1920 wurde er auf dem Höhepunkt des russischen Bürgerkriegs als Reporter der Reiterarmee des Generals Budjonny zugeteilt.
Verschiedene Geschichten, die später in dem Band DIE REITERARMEE zusammengefaßt wurden, wurden 1924 in Wladimir Majakowskis Magazin LEF ("ЛЕФ") publiziert. Babels ehrliche Beschreibung der Brutalität des Krieges und sein Verzicht auf Beschönigungen brachten ihm eine Reihe von mächtigen Feinden ein, darunter auch General Budjonny. Die Intervention Gorkis verhinderte jedoch eine Vernichtung des Buches, welches bald in verschiedene Sprachen übersetzt wurde.

1930 reiste Babel durch die Ukraine und sah die Brutalität, mit der die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Als Stalin seinen Griff um die sowjetische Kultur festigte und besonders nach dem Entstehen des "Sozialistischen Realismus" begann Babel sich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen Nach einigen vergeblichen Anfragen wurde es Babel schließlich gestattet, ins Ausland nach Paris zu reisen und dort seine Familie zu besuchen. 1935 hielt er eine Ansprache auf dem Kongress antifaschistischer Schriftsteller in Paris. Nach seiner Rückkehr arbeitete er mit Sergei Eisenstein an dem Film Beschinwiese und schrieb an Drehbüchern für weitere sowjetische Filme mit. 1935 erschien sein zweites Theaterstück Marija im Druck. Die scharfen Reaktionen auf die Veröffentlichung führten zum Abbruch der Proben an verschiedenen Theatern. Es wurde an keiner sowjetischen Bühne aufgeführt.

Man verhaftete Babel aufgrund einer Denunziation am 15. Mai 1939. Er wurde beschuldigt, für den Westen spioniert zu haben. Babel wurde während der Verhöre schwer gefoltert und gab schließlich zu, Mitglied einer trotzkistischen Gruppe gewesen zu sein. Am Tag der Gerichtsverhandlung widerrief er das erzwungene Geständnis. Dennoch wurde er am 26. Januar 1940 von einem Tribunal für schuldig befunden und am darauffolgenden Tag im Gefängnis Butyrka erschossen.Babels Witwe Antonina Nikolajewna erfuhr erst 15 Jahre später von seinem Tod – vorher wurde ihr immer wieder die falsche Information gegeben, dass ihr Mann noch am Leben sei – und die volle Wahrheit erst 1988. Seine Manuskripte wurden bei seiner Verhaftung vom NKWD beschlagnahmt und später verbrannt.
Am 23. Dezember 1954 wurde Babel öffentlich von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen freigesprochen. Dies ermöglichte seiner Witwe die erneute Veröffentlichung seiner erhalten gebliebenen Werke ab 1957.

Isaak Babel war ein radikaler Revolutionär: durch und durch ging es ihm um menschenwürdige Inhalte. Die Frage nach dem Sinn, der Notwendigkeit, der Vermeidbakeit oder Unvermeidbarkeit von Gewalt (auch gegen subjektiv Schuldlose) ließ ihn nicht los. Deutlich wird Babels seelische Zerrissenheit in diesem Kampf, mit dessen grundlegenden Intentionen er ganz und gar identifiziert ist – obwohl er sich zugleich unfähig fühlt, einen Menschen zu töten. Die überragende Bedeutung seiner REITERARMEE liegt auch darin, daß er ein zärtlicher, gewaltloser, nachdenklicher und unbedingt liebevoller Mensch war.In seinem Ringen um adäquaten sprachlichen Ausdruck manifestiert sich möglicherweise auch sein innerer Kampf gegen den Impuls, sich in die revolutionäre Gewalt fallenzulassen (wie es wohl viele gemacht haben): um dem apokalyptischen Schrecken, den er erlebte, doch winzige Momente Menschenwürdigkeit abzugewinnen.

"Mein trübes Poetenhirn verdaute eben den Klassenkampf", schreibt Babel in einer der Novellen – und es kann kaum Zweifel geben, daß der Klassenkampf im konzeptionell definierten Sinn nicht sein Thema war. Auch wenn er auf die russische Revolution hoffte und sie auf seine Weise, mit seinen Möglichkeiten unterstützen wollte. Isaak Babel geht es immer vorrangig um die konkreten Menschen in ihrer kreatürlichen Authentizität, ihrem Leid und ihren Hoffnungen und Sehnsüchten.Selbst gewalttätiges Verhalten, das wir spontan empört ablehnen, wird uns in Babels Darstellung unfreiwillig ein wenig nachfühlbar … Uns wird wieder ein bißchen bewußter, daß alles, was Menschen machen, menschlich ist. Nichts, wovon wir bei Babel lesen, ist uns ganz und gar fremd; aber wie hätten wir uns verhalten in dieser geschichtlichen Situation .. wo wären wir gestanden? Diese Frage ist ein zartes Pflänzchen und geht im allgemeinen unter in dem genauso natürlichen Impuls, eigene Interessen, Empfindungen und Überzeugungen für ein bißchen legitimer zu halten als die Interessen, Empfindungen und Überzeugungen anderer. – Aber ohne mehr Aufmerksamkeit für das uns allen gemeinsame Spektrum menschlicher Impulse wird dieses Hauen und Stechen, dieses "Wie du mir, so ich dir" unablässig weitergehen in der Geschichte der Menschheit.

Die Situation der russisch-ukrainischen Juden in dieser Zeit, in diesem ukrainisch-polnischen Land, zieht sich als Subtext durch die meisten Episoden dieses Zyklus: da sind jüdische Angehörige und Sympathisanten der Revolution, ist die politisch indifferente, oft chassidisch orientierte jüdische Landbevölkerung, da ist der offenbar verbreitete Antijudaismus (Antisemitismus?) in der nichtjüdischen Bevölkerung und da sind die Hinweise auf Judenpogrome als selbstverständlicher Aspekt des sozialen Lebens.

Es gibt auf deutsch etliche Ausgaben der REITERARMEE. Die Relevanz einer Wiederveröffentlichung der Ausgabe in der Reclam Bibliothek Leipzig (1968) lag allein in dem von dem bedeutenden Slawisten Fritz Mierau zusammengestellten Material des Anhangs (einschließlich seiner eigenen subtilen Darstellung der Welt des Isaak Babel). Dieser zweite Teil des Buches ist in seiner Dichte und Vielschichtigkeit ein dokumentarisches Abenteuer für sich! Es vermittelt etwas von Isaak Babels Lebens- und Schaffensernst und der Bedeutung des Babelschen Textes in der Zeit, in der er und für die er geschrieben wurde. Isaak Babels REITERARMEE ist mehr als eine Sammlung mitreißender Novellen in einem ungewöhnlichen Stil: es ist ein geschichtliches Dokument für die Situation in Rußland am Beginn der Sowjetischen Revolution. Als solches gehört es zur europäischen und damit auch zu unserer Geschichte.

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Johanna Dürck: DIE PSYCHOLOGIE HEGELS

Faksimile der Dissertation von 1927.

"Fragt die naturwissenschaftliche Psychologie: Wie sind die höchsten und komplexesten Gebilde des Seelenlebens in einfache Elemente aufzulösen, so stellt der Idealismus die gerade entgegengesetzte Frage: Wie ist auch das primäre Seelische, dasjenige, in dem die schöpferische Freiheit, die das Wesen des Seelischen bildet, nicht ersichtlich ist, – wie ist auch dies aus der Einheit dieser schöpferischen Freiheit zu verstehen?"

Bereits in Johanna (Herzog-)Dürcks Dissertation von 1927 zeigt sich unmißverständlich ihr Bemühen um eine "wertverwirklichende, sinngebende" Psychologie. Grundkategorien hierfür fand sie in Hegels Anthropologie , wobei sie – nach eigenem Bekunden – wesentlich unterstützt wurde von ihrer philosophischen Lehrerin Anna Tumarkin. Ab 1933 nahm sie ihr Psychologiestudium auf; zweifellos konnte sie ihre psychologische und psychotherapeutische Konzeption gerade durch die alltäglichen Erfahrungen im NS praktisch und theoretisch ausdifferenzieren. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entwickelte die Psychotherapeutin Johanna Herzog-Dürck (1902–1991) ihre PERSONALE PSYCHOTHERAPIE. Sie wird zu den anthropologischen Psychotherapien gezählt, die den Kranken in seinem individuellen ganzheitlichen Gefüge in den Mittelpunkt der psychotherapeutischen Arbeit stellen.

Die Schlußsätze der Dissertation lauten: "Das Problem ist noch nicht gelöst, wie das Individuelle nicht bloß negativ, gleichsam in seinem Abweichungswinkel vom Allgemeinen gesehen, sondern positiv, in seiner eigentümlichen Notwendigkeit, als eigener Ursprung von individuellen Werten, ohne welche die allgemeinen Werte niemals in Realität umgesetzt würden, erkannt werden könnte. Wie der Punkt einen Kreis von unendlicher Peripherie bestimmt, so ist das Einmalige ein Absolutes und das Nicht Wiederkehrende Unendlichkeit."

Jedoch gingen psychotherapeutische Theorie und Praxis in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts andere Wege, nicht nur in Deutschland. Nach Herzog-Dürcks Tod geriet die Personale Psychotherapie weitgehend in Vergessenheit. Zu Unrecht, wie ich meine. Eine umfassende kommentierte Textsammlung ist bei A+C als online-Veröffentlichung erschienen. Aber auch Johanna Dürcks Dissertation erscheint mir bewahrenswert, um auf eine nicht unproblematische Einseitigkeit des Erkenntnisforschritts hinzuweisen. – Wie soll es, wie wird es weitergehen mit der Psychotherapie?

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Johanna Herzog-Dürck: PERSONALE PSYCHOTHERAPIE ALS ELEMENT INTEGATIVER TRAUMATHERAPIE

Eine kommentierte Textsammlung. Herausgeber: Mondrian Graf v. Lüttichau

Der hier vorgestellte psychotherapeutische Ansatz wurde entwickelt von der Psychotherapeutin Johanna Herzog-Dürck (1902–1991). Er wird zu den anthropologischen Psychotherapien gezählt, die den Kranken in seinem individuellen ganzheitlichen Gefüge in den Mittelpunkt der psychotherapeutischen Arbeit stellen.

Personale Psychotherapie kann die therapeutische Praxis ergänzen um ihre hermeneutische und imaginative Achtsamkeit für bestimmte Aspekte menschlichen Erlebens, Erleidens und Bewußtseins, nicht zuletzt um die anthropologisch orientierte Aufmerksamkeit für die spirituelle Dimension menschlichen Bewußtseins, die sich in individuell sehr unterschiedlicher Weise äußern kann: philosophisch, ökosophisch-ganzheitlich, buddhistisch, orientiert an Tao oder anderer fernöstlicher Spiritualität, pantheistisch oder monotheistisch.

Liebe, ein Zentralbegriff ihres Menschenbildes, versteht Johanna Herzog Dürck als "reziproke Reifung von Du zu Du" , jedoch nicht in der Engführung einer Partnerschaft, vielmehr als anthropologische Grundlage, die sich in allen Formen mitmenschlicher Begegnung oder Beziehung äußern kann.

Herzog-Dürck beschreibt Satz für Satz seelische (psychische) Erfahrungen und Befindlichkeiten, die wir alle kennen – wenngleich manche von ihnen oft weit abgedrängt sind aus dem alltäglichen Bewußtsein und seinen sozial konsensuellen Momenten. Trotz ihrer Orientierung an der überragenden Bedeutung der psychischen Entwicklung in der Kindheit geht dieser Ansatz aus von einer lebenslang möglichen Weiterentwicklung der Persönlichkeit; therapeutisches Ziel ist also nicht nur die Kompensation psychischer (Entwicklungs-) Defizite. Herzog-Dürcks Personale Psychotherapie ist radikal und vorbehaltslos orientiert am Möglichkeitsraum oder Möglichkeitssinn (Robert Musil) des Menschen. Dazu gehört auch die Orientierung an der Wahrheit jeder Neurose als Ausgangspunkt des therapeutischen Weges.

Besonderes Gewicht liegt bei Herzog-Dürck auf der Traumdeutung, – die sich allerdings erheblich unterscheidet von dem öffentlich bekannteren Umgang mit Träumen, wie er von Sigmund Freud geprägt wurde. Ihre grundlegende Haltung zu diesem Thema formuliert sie folgendermaßen: "Nun ist bekanntlich die Interpretation von Träumen eine umstrittene Sache in der Tiefenpsychologie, bei der es wesentlich auf den Verstehenshorizont, auf das Menschenbild ankommt, von dem der Therapeut ausgeht. Gehört es doch gerade zum Wesen des Symbols, in verschiedene Dimensionen der menschlichen Existenz einzustrahlen, um sie im Bild zusammenzufassen. So zeigt sich bei den wissenschaftlichen Kontroversen über die Deutung eines Traums oft, daß die Auffassungen sich nur scheinbar widersprechen, in Wirklichkeit sich aber ergänzen, um eine gemeinsame Achse kreisen. Wesentlich aber scheint es uns, daß der Traum nicht benutzt wird, um eine Theorie zu beweisen, sondern daß diejenigen Züge des Traumgeschehens herausgearbeitet werden, die für das Suchen des Leidenden nach Selbsterkenntnis und Selbstfindung fruchtbar sind."

Wir Menschen haben durchaus subjektive Kriterien für unsere seelische Gesundheit und unseren Lebensweg, wir haben individuelle seelische Ressourcen – das entspricht der Natur des Menschen als einem sich seelisch lebenslang nach Maßgabe individueller Erfahrungen verändernden (bzw. veränderungsfähigen) System. Dies ist zumindest das Menschenbild der anthropologischen Psychotherapien und also auch der Personalen Psychotherapie Johanna Herzog-Dürcks.

Psychoanalytisch orientierte Therapien fokussieren bekanntlich auf psychodynamische Strukturzusammenhänge, die nicht zuletzt durch Entwicklungstraumata (Kindheitstrauma) beeinflußt werden. Durch die therapeutisch bewirkte Nachreifung und Neuordnung solcher Strukturen (auch im Erwachsenenalter) sollen die seelisch verletzenden Erfahrungen weitgehend neutralisiert werden. – Die teils neurobiologisch, teils erfahrungsbasierte Psychotraumatologie geht darüberhinaus davon aus, daß bestimmte schlimme Erfahrungen den Rahmen des bisherigen Selbstbilds/Weltbilds sprengen und dadurch psychisch nicht verarbeitet werden können; nur für sie verwendet die Psychotraumatologie den Begriff "Psychotrauma" bzw. "Traumatisierung". Aus diesem Grund müssen solche bösen Erfahrungen neurophysiologisch auf besondere Weise (unverarbeitet) gespeichert werden (traumabedingte Dissoziation). Durch die nachträgliche Verarbeitung und Integration solcher Inhalte (durch spezielle psychotraumatologische Methoden) kann der symptomatische Leidensdruck der Betroffenen gemindert werden oder verschwinden. Psychotraumatologisch orientierte Therapie fokussiert also auf die weitgehend nicht integrierten (vielmehr abgespaltenen/dissoziierten) traumatischen Inhalte selbst.

Eine Neigung zu technizistisch-mechanistischen Lösungen haben sowohl die (medizinisch-somatisch begründete) Psychoanalyse als auch die (weitgehend neurophysiologisch begründete) Psychotraumatologie. Dies wirkt sich im traumatherapeutischen Arbeitsfeld mittlerweile aus in der Konzeption immer neuer traumatherapeutischer Methoden (und "Instrumente"), die dazuhin gerne ins Korsett von Therapiemanualen geschnürt werden. Insbesondere Überlebende schwerwiegender Entwicklungstraumata (d.h. Beziehungstraumatisierungen in der Kindheit) mit ihrer Verletzung, Verwirrung und teilweisen Unentwickeltheit psychischer Strukturen brauchen jedoch therapeutische Unterstützung im gesamten Feld ihres Menschseins; – statt nur zu "überleben", müssen sie leben erst lernen.

Es gibt regelhafte Folgen von Psychotraumatisierungen, die bei beiden "Schulen" nur peripher beachtet werden und der indiviellen Kompetenz von TherapeutInnen/HelferInnen anheim gestellt sind. Stichworte für solche Folgen sind:  Scham – Schuld(gefühl) – Wozu bin ich auf der Welt? – Wer bin ich? – Wieso geschah es gerade mir? – Bin ich wert, daß mir geholfen wird? – Suche nach inneren Ressourcen, Intentionen, eigenem Wollen, eigenen Bedürfnissen – Schicksal als unauflösbare Verfügung? – Was ist "ein Mensch"? – Was ist gut? Was ist böse? – Kann ich auch anders sein? – Zukunft, Hoffnung – Was ist Liebe (für mich)? Sexualität? – Ambivalenz: Zuneigung zum Täter (primäre Bezugspersonen) – Abgrenzungen – Nein sagen …Das alles ist jedem Therapeuten/jeder Therapeutin bekannt, am Rande der "eigentlichen" therapeutischen Themen gehört es irgendwie dazu.

Meiner praktischen Erfahrung nach müssen diese Probleme bei solchen in der Kindheit einsetzenden Traumatisierungen den höchsten Stellenwert in traumapädagogischer/-therapeutischer Arbeit haben. Das mit diesen Stichworten angedeutete Leid ist meist schwerwiegender als die konkreten bösartigen Handlungen, denen die Betroffenen ausgesetzt waren. (Mit Akuttraumatisierungen habe ich keine eigenen Erfahrungen, jedoch lese ich aus entsprechenden Berichten oft eine vergleichbare Gewichtung.)

In der längerfristigen Begegnung mit Überlebenden schwerster Psychotraumatisierungen seit der Kindheit (allermeist sexualisierte Gewalt durch Bezugspersonen, Organisierte Rituelle Gewalt mit Zwangsprostitution) zeigt sich oft ein so hohes Maß an humaner Gesinnung, daß sich die Frage aufdrängt: wie kann das sein bei Menschen, die vor allem in Kindheit und Jugend fast nur unbeschreiblich grausame, sadistische Gewalt erfahren haben? Und woher kommt die Kraft zum Heilungsweg? Was haben diese Menschen für Ressourcen? Meine grundlegende Verbindung mit solchen Überlebenden war immer der Kontakt mit einer Lebenszugewandtheit jenseits aller (schlimmer) Erfahrungen, einer Lebenszugewandtheit, die durchaus auch in täterorientierten, therapieaversiven Persönlichkeitsanteilen zu spüren ist. Es war und ist im Grunde das pure Leben, das ich mit meinem puren Leben ansprechen konnte, das sich angesprochen und bestätigt, gestärkt fühlte; dies war mein "Therapiepartner". Es geht hier also auch um eine Beziehungsebene jenseits der traumatherapeutischen Methoden, der trauma-pädagogischen Interventionen. Genau diesen Blickwinkel, diese Haltung habe ich jetzt, nach bald 20 Jahre Erfahrung mit diesem Klientel, bei Johanna Herzog-Dürck wiedergefunden. Sie schreibt dazu: "Es ist die Intentionalität der Person, die zwar abgedrängt und aufgespeichert im Unbewußten, dennoch gerichtet bleibt auf die Einstimmung des Menschen in die Welt."

Nicht (nur) Symptome, Syndrome, Krankheitsbilder und theoretisch fundierte (gleichwohl hypothetische) psychische Strukturen zu behandeln, sondern Menschen auf Grundlage ihres individuellen Gewordenseins, ist in der psychotherapeutischen Praxis keineswegs selbstverständlich. Bei Johanna Herzog-Dürcks Ansatz steht genau dies im Mittelpunkt. "Alle Formen der Neurose haben das gemeinsam, daß der Mensch am Prozeß der Selbstwerdung von früh an gehindert worden ist, um sich bald in späteren Stadien selbst daran zu hindern." – Dies gilt natürlich in extremer Form für Überlebende schwerer Entwicklungstraumatisierungen!

Bereits die gedankliche, meditierende Beschäftigung mit Herzog Dürcks Ausführungen und die daraus erwachsene Selbst-Sensibilisierung kann das Spektrum der Achtsamkeit im professionellen wie ehrenamtlichen oder privaten Umgang mit seelisch oder/und körperlich leidenden Menschen erweitern. Johanna Herzog-Dürck macht Mut.Die Personale Psychotherapie hat ihre Grenzen, wie alles Menschenwerk sie hat, aber abgesehen davon ist sie radikal, das heißt: sie reicht an Wurzeln des Menschseins, soweit Psychologie das überhaupt kann. Darüberhinaus mögen manche spirituelle Wege gehen.

Diese Neuveröffentlichung versteht sich nur am Rande als Beitrag zur Psychotherapiegeschichte. Herzog-Dürcks Angebot ist offen in die Zukunft, offen für Weiterentwicklungen; es könnte hilfreich werden in unterschiedlichen therapeutischen Settings, in psychoanalytisch-entwicklungspsychologisch orientierten und psychotraumatologischen, in Seelsorge (d.h. auch christlich orientierter Hilfe) und Beziehungstherapie, Drogentherapie, Erziehungsberatung und Kinderpsychotherapie, Trauer- und Sterbebegleitung, Lebensberatung, möglicherweise in der Psychosenpsychotherapie und sogar im Zusammenhang mit spirituellen Retreats.

(Aus der Einleitung des Herausgebers)

Zugleich mit dieser Textsammlung wurde Johanna Dürcks Dissertation von 1927 als Faksimile (pdf) wiederveröffentlicht. Sie trägt den Titel: DIE PSYCHOLOGIE HEGELS.

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Martha Wertheimer: ENTSCHEIDUNG UND UMKEHR

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Der hier erstmalig wiederveröffentlichte roman erschien 1937 (unter dem titel 'Dienst auf den Höhen'). Die autorin wurde 1942 ermordet, wahrscheinlich im vernichtungslager sobibor.

Martha wertheimer studierte in frankfurt/m., arbeitete als redakteurin, war fechterin, engagierte sich für das frauenwahlrecht. Sie verstand sich als zionistin und übernahm nach 1933 vielfältige aufgaben in entsprechenden institutionen, organisierte und begleitete transporte jüdischer kinder ins rettende ausland. Nachdem ihrer schwester (mit der sie dauerhaft zusammenlebte) der paß entzogen worden war, entschied sich auch martha, in deutschland zu bleiben. Sie engagierte sich stärker im religiösen leben, übernahm funktionen, die sonst rabbinern vorbehalten waren. Dabei orientierte sie sich an jüdischen gelehrten und (reform–) rabbinern, die brücken schlagen wollten zwischen dem 20. jahrhundert und dem spirituellen und ethischen gehalt der jüdischen tradition: leo baeck, martin buber, franz rosenzweig, max dienemannund anderen.

'Entscheidung und Umkehr' interpretiert das biblisch überlieferte geschehen um die könige david und salomo sowie salomos schwester tamar. Das unmittelbare bündnis gottes mit den juden als gemeinschaft legt das gewicht der religio (als rückbindung an eine übergeordnete grundlage menschlichen seins) auf die diesseitige menschliche gemeinschaft: Gottes wahrheit läßt sich nur im menschlichen miteinander verwirklichen!Die befreiung des judentums aus angemaßter macht oder totem ritual erwächst aus individuellen entscheidungen in der sozialen gegenwart; - diese grundlage der jüdischen religiosität gilt für martha wertheimer (in orientierung vor allem an dem religionsphilosophen martin buber) auch für ihre eigene zeit - und sie ist heute mehr denn je eine relevante alternative zum christlichen verständnis göttlicher gnade.

'Entscheidung und Umkehr' ist darüber hinaus eine der ersten (angemessenen) literarischen darstellungen der folgen einer vergewaltigung im kindesalter aus dem blickwinkel der betroffenen frau.Herzzerreißend deutlich wird das persönliche leid des mädchens tamar als opfer männlicher arroganz der macht vermittelt - tamars versuche, die vergewaltigung durch den halbbruder seelisch zu überleben. Im ganzen buch wird martha wertheimers besondere aufmerksamkeit deutlich für das empfinden der beteiligten frauen, ein blickwinkel, der in der biblischen überlieferung keine rolle spielt. - 'Entscheidung und Umkehr' wird getragen von wertheimers sehnsucht nach einer menschenwürdigen welt jenseits von patriarchalischer machtgier – und ihrer hoffnung darauf. Hier hat martha wertheimer ihre liebe zum leben bewahrt, ihre tiefe menschenkenntnis und ihre trauer über das leid, das wir menschen einander zufügen ungewollt oder willentlich, zu allen zeiten. Das buch ist eine der bedeutenden botschaften des vernichteten deutschen judentums, ist teil des zeitlosen widerstands gegen zerstörung des lebens durch vom ganzen der welt abgespaltene menschenmacht.

Mit einem anhang: Martha wertheimer über hanna rovina und das zionistische theater HABIMA.

(Achtung: Martha wertheimer wurde 1890 geboren, nicht 1880, wie im buch behauptet. Der fehler wird in einer späteren auflage korrigiert werden!)

Ebenfalls bei A+C wiederveröffentlicht wurde martha wertheimers 1933 erschienener antimilitaristischer krimi "Maschine F 136".

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Martin Buber: DANIEL. Gespräche von der Verwirklichung

Diese erste größere veröffentlichung des jüdischen religionsphilosophen martin buber (1878-1965) entstand während seiner berliner jahre; die erstausgabe erschien 1913.

Vorrangig geht es im 'Daniel' um das konkrete und existenzielle leid von entfremdung und verdinglichung und um das bewußtsein einer gegenbewegung hierzu: "Diese Menschen sind verkürzt, Ulrich, verkürzt in dem Recht der Rechte, dem gnadenreichen Recht auf Wirklichkeit."- Es ist das problembewußtsein von intellektuellen und künstlern zu beginn des 20. jahrhunderts, das allerdings bald zersplitterte in unterschiedliche blickwinkel und ideologische fronten (proletarischer kampf, lebensreformbewegung, spiritualität, expressionismus, frauenbewegung, nationalismus, rassismus).

In den folgenden Jahrzehnten wurde buber zum wiedererwecker der chassidischen religiosität und bibelübersetzer, zum kritischen zionisten und (mit-)begründer des dialogischen prinzips, zum anarchisten und religiösen sozialisten, zum mittler zwischen deutschland und israel, zwischen juden und arabern. "Ich habe keine 'Lehre'. Ich habe nur die Funktion, auf solche Wirklichkeiten hinzuweisen. Wer eine Lehre von mir erwartet, die etwas anderes ist als eine Hinzeigung dieser Art, wird stets enttäuscht werden", betont buber. - Dabei bleiben sämtliche aspekte und blickwinkel des vielschichtigen lebenswerks untrennbar aufeinander bezogen. Möglicherweise sind gewisse lebenslange untergründige intentionen buber in  den frühen 'Gesprächen von der Verwirklichung' für heutige leserInnen leichter auffindbar als in den sogenannten hauptwerken.

Kontemplative rückbezogenheit (religio) steht wohl lebenslang im hintergrund von bubers kreativität; im 'Daniel', einem fast intimen mehrstimmigen selbstgespräch des 35jährigen, bestimmt sie noch die darstellung. Von daher zeigen diese 'Gespräche von der Verwirklichung' die entfaltung des dialogischen prinzips aus mystischem einheitsempfinden, bei buber nicht zuletzt auf grundlage seiner beschäftigung mit chassidischen überlieferungen, als plausible und organische entwicklung.

Mit seiner lebenslangen, tiefgründigen achtsamkeit für möglichkeiten von begegnung steht auch buber in der gegenbewegung zur gesellschaftlichen verdinglichung des lebens.In vielen facetten ausdifferenziert, finden sich in seinem werk hinweise auf die dem menschen mitgegebene fähigkeit, zu antworten auf alles, was ihm von der welt entgegenkommt, - eine autonomie, von der auch theodor w. adorno spricht, wenngleich aus anderem blickwinkel.

Kennengelernt hatte ich martin bubers werk 1981, als mitarbeiter im Verlag Lambert Schneider. Bald empfand ich den 'Daniel' als verborgenes herz seiner arbeit. Noch immer möchte ich nicht hinnehmen, daß das büchlein verloren sein soll für die öffentliche aufmerksamkeit, abgetan als jugendwerk! Wäre von buber nichts anderes überliefert, so würde der 'Daniel' möglicherweise in jeder generation neu entdeckt..

Nachwort: Mondrian v. lüttichau

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Michael Brink: DON QUICHOTTE. Bild und Wirklichkeit

Zunächst engagierte sich der 1914 geborene emil piepke (später michael brink) in katholischen jugendorganisationen; dann kam der NS-arbeitsdienst und übergangslos das militär. Bald hatte er kontakt aufgenommen zu dem münchner Kreis der Weißen Rose, zum Kreisauer Kreis, aber auch zu aufrührerischen militärs. Er selbst bezeichnete sich manchmal als "ordonnanz" dieser gruppen. Er gehörte zu einem kreis kirchenkritischer katholiken um johannes maaßen und war eng befreundet mit dem später hingerichteten widerstandskämpfer alfred delp SJ.

Im winter 41/42 kam er schwerverwundet aus rußland zurück. Im frühjahr 1942 erschien das hier neu aufgelegte buch Don Quichotte. Bild und Wirklichkeit. Schon wenige wochen nach erscheinen war es ausverkauft, auch eine zweite auflage war bereits vergriffen, als (angeblich) stalingradkämpfer sich darüber empörten, daß so etwas erscheinen könne, während sie ihr leben einsetzten. Das Buch wurde verboten. Abschriften davon kursierten unter jungen menschen, nicht zuletzt im umkreis der Weißen Rose.

Michael Brink wurde im Frühjahr 1944 verhaftet und ins KZ sachsenhausen überstellt. Auf dem todesmarsch der KZ–häftlinge konnte er fliehen. Inzwischen war er schwer an lungentuberkulose erkrankt.
1945 heiratete michael brink die junge malerin roswitha bitterlich. 1946 kommt beider tochter zur welt. Michael brink kämpft in einem sanatorium um sein leben. Im selben jahr erscheint sein vermächtnis, das buch 'Revolutio humana', eine bedeutende theologische veröffentlichung jener jahre, – geschrieben in prophetischer radikalität und noch aus der erschütterung durch leichenberge in den KZ, zerrissene soldaten, das leid der bevölkerung, zerstörte städte, das geschrei von hitler und goebbels. Das ist der mensch? Was ist der mensch? (Auch diese arbeit wurde bei A+C wiederveröffentlicht.)

Michael brink kämpfte als soldat "für sein volk", erkannte aber zunehmend das eindeutig verbrecherische des von der deutschen wehrmacht betriebenen vernichtungskrieges. Angesichts dieser aporie, dieser sozialen zerrissenheit war orientierung und perspektive nur in anderen sphären menschlicher lebendigkeit zu finden; so dürfte der 'Don Quichotte' entstanden sein. Michael brinks kaleidoskopische, zwischen romantik und theologie, politischem widerstand und spiritualität sprühende predigten (denn das sind es nicht zuletzt!) sollten wir auch als ausdruck poetischer wahrheit verstehen, – einer poesie allerdings, in der bislang unvorstellbares grauen antezipiert ist. Die figur des Don Quichotte stellt er vor uns hin als archetypus, der wohl erst in unserem zeitalter einer progressiven verdinglichung der menschenwelt seine tiefste bedeutung erhält.

Individuell und konkret zu klären, wozu wir auf der welt sind, ohne außerhalb unserer selbst liegende evidenz, in der wir uns (wie auch immer imaginativ oder projektiv, religiös oder philosophisch) spiegeln können, fällt schwer in einer welt von relativität, verdinglichung und ideologie. - In brinks arbeiten fand ich analysen der menschheitlichen situation und perspektiven eines lebenswerten weiterexistierens der menschheit (trotz der kriege und völkermorde aller zeiten und weiterhin!) aus christlicher, katholischer perspektive. Für mich war klar, diese texte müssen eine zweite chance bekommen!

(Mondrian v. lüttichau, aus dem nachwort)

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Michael Brink: REVOLUTIO HUMANA

'Revolutio humana',michael brinks 1946 erschienenes vermächtnis, ist kein buch nur für christen. Es meint menschheitliche bindung an die schöpfung und korrespondiert in mancher hinsicht mit gedanken martin bubers und dietrich bonhoeffers, mit nikolai berdjajew und meister eckhart. Auf dem hintergrund der unfaßlichen nazibarbarei reflektiert michael brink zwischen verzweiflung und hoffnung über die wahrheit katholischer, christlicher spiritualität – in der reinheit, schlüssigkeit und radikalität eines künders (propheten) und kämpfers – gerichtet an eine zukünftige gesellschaft: für uns.

Im august 1947 stirbt der katholische denker und widerstandskämpfer michael brink. – Wer in deutschland hätte ein buch wie 'Revolutio humana'lesen wollen in den folgenden jahren? Alltagsnot und wiederaufbau standen im vordergrund, traumatisches nichtbegreifen, leugnen und vertuschen, besatzungsmächte und Kalter Krieg.
Fünfzig jahre später sind auch in deutschland viele menschen wieder auf der suche nach religio, spiritueller verbundenheit mit dem sinn der welt. Zunehmend wird anerkannt, daß wir alle dabei unseren eigenen weg finden müssen. Michael brink geht es um "Religion verstanden als Verwirklichung und dauernde Instandsetzung der Bindung vom konkreten einzelnen Menschen zum konkreten persönlichen Gott." Auch christen sind wir nicht, weil wir als kind getauft wurden oder weil wir CDU/CSU wählen. – Jetzt könnte brinks flaschenpost von "Armut, Ganzheit und Freiheit" endlich entdeckt werden als moment der vielfältigen gegenbewegung zur progressiven entfremdung und verdinglichung, zum "Prozeß einer allgemeinen Entmenschlichung".

Michael brink verweist deutlich auf die weiterhin bestehende "Verheißung des Alten Bundes"(zwischen YHWH und israel). Sie impliziert nicht zuletzt die forderung, die gesetze gottes innerhalb der sozialen gemeinschaft zu verwirklichen. Von daher hat der jüdische glaube einen genuin politischen (nicht jedoch machtpolitischen!) anspruch. Das widerspricht für ihn offenbar keineswegs dem zeugnis jesu christi von der bindung (religio) an ein jenseits: "Der Christ ist nicht Bürger dieser Welt" – aber er "sieht vom Kreuz her die Zeichenhaftigkeit auch der größten Not."

Im letzten kapitel der 'Revolutio humana' geht es dem katholiken brink um eine "Vollendung der Reformation", wobei er kritisch anknüpft an den"lutherischen Aufruhr". Er nimmt in diesem zusammenhang nicht nur intentionen der heutigen ökumenischen bewegung vorweg, seine gedanken korrelieren auch eng mit martin bubers dialogischem verständnis und romano guardinis personaler pädagogik.

Emil piepke, der spätere autor michael brink, ist mir wichtig und herzensnah in seiner kämpferischen tiefgründigkeit, seiner der menschenwelt zugewandten christlichen religiosität; wie gerne hätte ich mich mit ihm austauschen wollen! – selbst wenn ich auch durch ihn kein christ geworden bin.

(Mondrian v. lüttichau, aus dem nachwort)

Auch michael brinks 1942 erschienenes (und umgehend verbotenes) buch "Don Quichotte. Bild und Wirklichkeit" wurde bei A+C wiederveröffentlicht.

Siehe auch mondrian v. lüttichau: ''Armut, Ganzheit, Freiheit - Mensch werden nach Auschwitz? Michael Brink (1914-1947)'', in friedhelm köhler, friederike migneco, benedikt maria trappen (hg): ''Freiheit Bewusstheit Verantwortlichkeit: Festschrift für Volker Zotz zum 60. Geburtstag''(münchen 2016, S.311-334)

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Mondrian graf v. lüttichau: DIE SINNSPRÜCHE DES LI BOYANG, GENANNT LAOTSE (2019)

Um die erste version meines versuchs einer annäherung an das 2400 jahre alte weisheitsbuch Dàodéjīng (Tao Te King) zu veröffentlichen, hatte ich 1981 den Verlag Autonomie + Chaos Heidelberg ins leben gerufen.

Mehr und mehr haben sich im laufe der jahrhunderte die bewußtseinsebenen ausdifferenziert, auf denen wirklichkeit (jenseits begrifflicher festlegungen) erfahrbar wird. In unserer zeit kann nur noch jeder einzelne an seinem platz zu machen versuchen, was er oder sie für angemessen hält. Wirklichkeitsgemäßes handeln auf eine bestimmte praxis festzulegen, ist nicht mehr möglich, denn jedes definieren trägt den keim der seit damals fortgeschrittenen verdinglichung (instrumentalisierung). Menschliche wahrnehmung und erfahrung ist ein vielfach verzweigter baum geworden; zur zeit des li boyang hatte der noch weit weniger äste, zweige, blüten und früchte. Verdinglichung und selbstentfremdung haben sich aufgebläht in einer weise, deren grundmuster li boyang 2300 jahre vor theodor w. adorno und max horkheimer beschrieben hat.

Dennoch können heutige soziale und politische konflikte zurückgeführt werden auf prozesse oder strukturen des menschlichen bewußtseins, wie sie in diesen 81 aphorismen kristallklar beschrieben werden. Alltägliche konflikte lassen sich begreifen durch DAO; von daher sind lösungen zu finden – noch heute. Diese uralten sinnsprüche sind das früheste plädoyer für herrschaftslose achtsamkeit und gegen entfremdung von der ganzheit des lebens. Allerdings müssen wir die hinweise des Dàodéjīng hinüberdenken in unsere sozialpsychologischen umstände.

Die tiefenökologische, sozialpsychologische weisheit des li boyang zeigt sich als konkrete orientierung an authentischem sein und handeln, – als gegenbewegung zu seelischer und bürokratischer verdinglichung.

Ab 2006 besann ich mich auf meine alte übertragung des Dàodéjīng, dachte nach über eine neuausgabe – da kam völlig überraschend das angebot einer veröffentlichung beim verlag Das klassische China. Jetzt entstand in schöner zusammenarbeit mit matthias claus seine bibliophile buchhandelsausgabe. Sie unterscheidet sich in wesentlichen nuancen von meiner ausgabe 1981. (Restexemplare sind über mich noch erhältlich.)

Die hier vorliegende ausgabe – wieder bei Autonomie und Chaos (online und kostenfrei) – ist nahezu textgleich mit der von matthias claus herausgegebenen version; es gibt nur einige wenige veränderungen. Enthalten sind wiederum die beiden briefe hermann schäfers (1978), hinzugekommen sind (sehr subjektive) literaturhinweise.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: GEGEN ENTFREMDUNG. Pfadfindereien um menschengemäße wahrheit

Störende oder überfordernde momente des lebens auszugrenzen aus dem eigenen bewußtsein, ist wohl teil unserer natürlichen kognitiven ausstattung. Seit beginn der überlieferten menschheitsgeschichte gibt es GEGENBEWEGUNGEN zu dieser gefahr für das soziale miteinander, nennen wir es nun entfremdungoder verdinglichung, materialismusoder traumatische dissoziation, falsches selbstoder instrumentelle vernunft, rassismusoder vorurteil.

Sozialarbeit/sozialpädagogikist eine der komplexesten schnittstellen zwischen theorie und alltag, zwischen strukturen und individuen. Sie sollte zur avantgarde gesellschaftlichen bewußtseins gehören. – In meiner diplomarbeit von 1993 ('Alice Salomon-Fachhochschule Berlin')hatte ich versucht, material anzubieten zu einer solchen 'neuen sozialarbeit', ausgehend von drei bezugsebenen:

  • Der progressiven (selbst-)entfremdung (verdinglichung) in unserer zivilisation,
  • einer induktiven, vom individuum und seiner subjektivität ausgehenden erkenntnis- und erfahrungshaltung,
  • der grundsätzlichen offenheit gegenüber nichtmateriellen ("geistigen", "übersinnlichen", "spirituellen") aspekten menschlicher erfahrung.

Viele der herangezogenen quellen liegen (leider) weit abseits vom mainstream des gesellschaftlichen diskurses. Deshalb habe ich umfassend aus den quellen zitiert – um vielleicht neugierig zu machen..

Kommentar eines prüfers beim diplom-kolloquium:"Ist ihnen klar, daß sie damit im grunde versuchen, die sozialarbeit neu zu erfinden?!"
Der privatgelehrte hans imhoffin einem brief:"Ich blättere, lese, wälze, stöhne und lerne, ich spreche von meiner Beschäftigung mit Deinem Buch. (...) Jegliche Erziehung und Heilung geschieht um des Konformismus willen, der gerade als der Garant des Untergangs erkannt ist und dessentwegen Erziehung und Heilung geschehen soll. Schließt Du aber jeden Konformismus aus und schaffst damit die erste Bedingung zum Gelingen Deines Unternehmens, benimmst Du ihm den Zweck, die menschliche Gesellschaft. (...) Über die Voraussetzungen 'authentischen Lebens' zu reflektieren war Deine Aufgabe, die Du wohl einzigartig umfangreich, sorgfältig, beseelt und gescheit gelöst hast. Das Dumme nur, man hat den Eindruck: So wird es doch nicht, denn die Kette der erheischten Bedingungen reißt nie ab." (in: Hans Imhoff: 'ich für Dich bei mir. Briefe'; Frankfurt/M. 1997: Euphorion Verlag)
Lothar stiehm(ehemals leiter des Verlag Lambert Schneider) schrieb: "Lieber Mondrian, soll ich Ihnen etwas sagen?: in der vorigen Woche kam Ihre Sendung; ich nahm Ihre Manuskript-Kopie heraus - und ca. 4 Stunden später saß ich immer noch am Tisch und las und las! Natürlich nicht brav und systematisch. Sondern: hier ein Stück und da ein Stück und so querdurch. Ich wollte doch erst einmal die Luft schnuppern, und ich muß sagen: das war erfrischend, und ich kann fast überall Ja sagen. DANKE! Nun wird, sobald ich Ruhe dazu habe, die richtige Lektüre folgen. (Eines muß ich jetzt schon sagen: sollten Sie einmal wieder ein neues Exemplar 'herstellen': bittemachen Sie eines für mich mit! Einige Partien, die ich gelesen habe, sind mir so wichtig, daß ich sie ständig zur Hand haben möchte.)" (Brief vom 21.1.1998)

Die diplomarbeit wurde gründlich durchgesehen, etliche hinweise wurden ergänzt.

Die kapitel können unabhängig voneinander gelesen werden. Beim segmentierten download separate seitenzählung.

1. Abschnitt
Titel und Einleitung
Entzauberung der welt

2. Abschnitt
a) Bewußtsein: Zwischen ich und außenwelt
b) Das ich als objekt des bewußtseins
c) Entfremdung zwischen göttlichem und irdischem
d) Der mensch als teil der natur
e) Entfremdung von körper und geist
f) Nur ein hinweis
g) Gewalt der vernunft

3. Abschnitt
h) Freiheit & notwendigkeit, idee & erfahrung 

4.Abschnitt
i) Karl marx
k) Dialektik der aufklärung
Rudolf steiner und die Anthroposophie

  5.Abschnitt
1) Lebensweg & Menschenerkenntnis

6.Abschnitt
m) Erziehungskunst

7.Abschnitt
n) Anthroposophische Heilpädagogik
o) CAMPHILL
Pfade in die wirklichkeit

8.Abschnitt
Vorbemerkung
p) Das recht des kindes auf achtung
Ellen key/philippe aries/lloyd de mause 
Janusz korczak
Jean liedloff/joseph chilton pearce
Otto rühle/antipädagogik/kinderbewegung
Theodor w. adorno

9.Abschnitt  (q – 1)
q) Das leben lebt!
Neue wissenschaft
Systemtheorie & kybernetik
Selbstorganisation

10.Abschnitt  (q – 2)
Humanökologie
Soziale systeme

11.Abschnitt  (r – 1)
r) Erkenne dich selbst!
Leib & seele

12.Abschnitt  (r – 2)
Irren ist menschlich

13.Abschnitt (r – 3)
Wahnsinn der normalität

14.Abschnitt (s – 1)
s) Erziehung nach auschwitz
Theodor w. adorno 
Martin buber

15.Abschnitt (s – 2)
Selbstbestimmung und integration (Soziale induktion)

16.Abschnitt (s – 3)
Ökosophie/Tiefenökologie
Die poesie ist eine politische methode
Auswege?

17.Abschnitt
t) Anthroposophie im 21. jahrhundert?
u) 'Neue sozialarbeit'?
Anhang

18.Abschnitt
Methodische skizze zur humanökologischen sozialarbeit
mit vor allem körperlich beeinträchtigten menschen

gesamt:

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segmentiert:

Paul la Cour (1902-1956): FRAGMENTE EINES TAGEBUCHS

Der Verleger und Schriftsteller Michael Krüger schrieb in einem Essay zu dänischer Literatur:
"Am Anfang der deutschen Wahrnehmung der dänischen Poesie der Nachkriegszeit steht ein Buch, das in seiner Schönheit, Klarheit und Tiefe bis heute lesenswert geblieben ist – oder anders gesagt: gibt es eine vehemente, beflügelte und beflügelnde dänische Verteidigungsschrift der Poesie, die, wenn es noch mit richtigen Dingen zuginge (…), von allen gelesen werden sollte, denen die Zukunft vielleicht nicht mehr der Poesie, aber doch des Poetischen von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung zu sein scheint. (…) Wenn man über die großen poetologischen Versuche von Dichtern in der Nachkriegszeit redet, dann sollte neben Namen wie Auden, Octavio Paz oder Joseph Brodsky auch der Name des Dänen Paul la Cour stehen."


FRAGMENTER AF EN DAGBOG erschien in Dänemark im Jahr 1946, die deutsche Übersetzung kam 1953. In Dänemark erschienen 1993 und 2020 Neuausgaben;  die Ausgabe bei A+C ist die erste deutsche Wiederveröffentlichung. Sie wurde ergänzt durch einige Gedichte Paul la Cours im dänischen Original mit deutscher Übertragung von Ase Hera Tåp. Eine Impression von ihr leitet den Band ein.
In einem Anhang hinzugefügt wurden Texte zu Paul la Cours Leben und Werk sowie zur Geschichte dieser ursprünglich französischen Familie. Aufgenommen werden konnte auch ein englischer Aufsatz des Skandinavisten Gherardo Giannarelli: "Paul la Cour as a translator".

auc-143-paul-la-cour (pdf 1,8 MB)

Paula Judith Buber: AM LEBENDIGEN WASSER

Paula Winkler (1877–1958) stammte aus eine gutbürgerlichen katholischen Beamtenfamilie in München. 1899 lernte sie beim Germanistikstudium in Zürich den Kommilitonen Martin Buber kennen (später ein bedeutender jüdischer Religionsphilosoph und Mitbegründer einer dialogischen Pädagogik und Psychologie). 1901 trat sie aus der katholischen Kirche aus. 1906 zogen Paula und Martin  nach Berlin. Dort konvertierte Paula im Januar 1907 zum Judentum, was die Heirat mit Martin Buber ermöglichte. (In diesem Zusammenhang nahm sie den zusätzlichen Vornamen Judith an.) Seit 1912 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Georg Munk Erzählungen sowie Romane. (Zwei ihrer drei Romane wurden 2008/9 in Buchhandelsausgaben wiederveröffentlicht.) 1916 zog die Familie (mit Sohn und Tochter) von Berlin nach Heppenheim (unweit von Heidelberg).
1935 wurde Paula Buber wegen "jüdischer Versippung" aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Im März 1938 emigrierte die Familie Buber nach Palästina, wo Martin Buber einen Lehrstuhl an der Hebräischen Universität Jerusalem übernahm. In den folgenden Jahren wurde ihr dritter Roman AM LEBENDIGEN WASSERabgeschlossen, an dem die Autorin seit etwa 1925 gearbeitet hatte.

AM LEBENDIGEN WASSERerschien erst 1952 in einer einzigen Auflage von 5000 Exemplaren im Insel-Verlag (Wiesbaden).
Der Roman ist die Utopie einer menschengemäßen familiären Gemeinschaft über die Generationen, in der seelische (und soziale) Entfremdung einen sehr geringen Stellenwert hat. Aber ist das überhaupt vorstellbar? Sind wir doch alle eingesponnen in vielfältige Selbstverständlichkeiten von Entfremdung (Verdinglichung). Zugrunde gelegt wird von Paula Buber dieser Utopie die Annahme einer wesentlich durch Frauen getragenen zivilisatorischen Wirkmächtigkeit, wie sie heutzutage im Rahmen von Anthropologie und Gendertheorie eher infrage gestellt wird.
In jedemfall erinnert uns die Autorin an Schätze, die Menschen einander schenken können: immaterielle (Achtsamkeit, Liebe, Geduld, Rücksichtnahme) – aber auch materielle, die wiederum immaterielle Werte bewahren können (Erinnerungen, Dankbarkeit, Schönheit, Bindung, Trost). Aber materielle Schätze werden zerstört durch Kriege und das Gewinnstreben von Erben, die die entsprechenden Dinge verkaufen. Immaterielle Werte werden zerstört durch seelische Entfremdung, Schicksalsschläge, Trägheit des Herzens...
Der Roman beginnt etwa 1875 und endet mit der Revolution 1919. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln einzelner Familienmitglieder werden im Verlauf des Buchs Lebensverläufe skizziert, wodurch das vitale Geflecht der "Sippe" vorstellbar wird. Nachfühlbar wird das Mitleben, Fortleben und Weiterleben zwischen Familienmitgliedern aufeinander folgender Generationen. Dabei gibt es auch in dieser exzeptionell humanisierten Großfamilie erhebliche zwischenmenschliche Unvereinbarkeiten, ideologische Fremdheiten, seelische Verletzungen, Konflikte, auch Kindheits-Traumatisierungen. Innerhalb der Großfamilie werden etwa ebensoviele uneheliche Verbindungen (einschließlich "Ehebruch" und Dreiecksbeziehungen) wie eheliche dargestellt. – Jedoch wird mit all dem anders umgegangen, als wir es wohl zumeist erleben! Schicksalsschläge werden in der von Buber imaginierten familiären Gemeinschaftlichkeit offenbar generell nicht explizit, gemeinschaftlich verarbeitet – vielmehr tragen alle ihre persönliche Last inklusive ihrer Trauer in einsamer Größe allein für sich. Selbst bei zumindest damals noch sozial extrem anstößigen Lebensumständen (Ehebruch, uneheliche Kinder, ihre Kinder verlassende Mütter, die Familie verlassende Männer) wird kein Moralisieren im bürgerlichen Sinn dargestellt. Im Vordergrund steht immer die konkrete Aufgabe, mit der gegebenen Situation in möglichst menschenwürdiger Weise umzugehen.Das selbstverständliche Annehmen schwieriger, auch tragischer Lebensumstände einschließlich aller damit verbundener Entsagungen zugunsten von als übergeordnet verstandener ethischer (moralischer) Werte, darunter auch die familiäre Gemeinschaft im erweiterten Sinn, hat einen hohen Stellenwert im Leben der Personen. Diese Werte werden niemals explizit proklamiert, um sie wird nicht rhetorisch gerungen: sie sind, was sie sind.

Die Orientierung der Autorin an der traditionellen Geschlechtsrollendichotomie ist nicht einfach konservativ, vielmehr versucht sie, die traditionelle Erstarrung dieser Rollenvorgaben aus sich heraus zu überwinden: sie so sehr mit individuellem Leben zu füllen, daß sie sich wandeln zu neuer zwischenmenschlicher Authentizität! Ihre Darstellung von sozialen Verhaltensweisen und Haltungen bei Frauen innerhalb der neuen Normalität in den 20er Jahren (Orientierung an sozialer Ungebundenheit und Freiheitlichkeit im äußeren Sinn, frauenrechtliche Intentionen, Frauenstudium u.dgl.) macht deutlich, daß sie diese Tendenzen eher als Flucht vor den Anstrengungen eines erfüllten Lebens deutet. – Darin allerdings steht Paula Bubers Buch diametral zur gesellschaftlichen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
In vielen Facetten zeigt sich bei einzelnen Personen das Beharren auf individuellen Eigenheiten, Ideologemen, Idiosynkrasien, die von anderen Familienmitgliedern abgelehnt werden, wobei diese wiederum in anderen Aspekten ungewöhnlich sind. So ist es zwar auch bei uns, aber es zeigt sich meist weniger deutlich, weil heutzutage das allermeiste Abweichende reflexhaft kaschiert wird mit konsensuellen Meinungen oder Verhaltensweisen bzw. mit Rückzug. Bei Paula Buber zeigt sich das soziale Leben innerhalb des Familienverbandes als Geflecht von "Abweichungen" voneinander, die immer neu geklärt, harmonisiert oder bewußt ausgehalten werden.Trotz des Beharrens auf konventionellen Geschlechtsrollen sehe ich so, wie die Familie dies praktiziert, ein geringeres Maß an Entfremdung, als sich in unserer gesellschaftlichen Zwangsnormalität zeigt.

Die meisten innerhalb des Romans bedeutsamen Männer sind das, was die Autorin gerne "Sonderlinge" nennt: Menschen, die nach ihrem ganz eigenen und jeweils unterschiedlichen Lebensgesetz empfinden und handeln, weitgehend unabhängig von Verständnis oder Zustimmung der Außenwelt. Dabei orientiert sich ihr Leben durchaus an der traditionellen männlichen Rolle (Beruf und sonstige Aktivität in der Außenwelt, traditionelle und juristische Entscheidungsbefugnis in bestimmten Fragen), die aber nicht als schematisches Reproduzieren von gesellschaftlichen Vorgaben praktiziert wird. – Auch die bedeutsamen Frauen zeigen höchst individuelle Nuancen des Empfindens und sozialen Verhaltens innerhalb der traditionellen Frauenrolle (lieben, bewahren, sorgen, beheimaten, mitfühlen, weinen).

Paula Buber hat (zweifellos) lebenslang nach Möglichkeiten gesucht, authentische Mitmenschlichkeit anzunähern (in ihrem Leben und in der Literatur) auf Grundlage zivilisatorischer, kultureller Traditionen, jedoch in Abgrenzung zu statischen (d.h. strukturkonservativen) Aspekten dieser Zivilisation einerseits und andererseits zu den für sie unbegreiflichen, erschreckenden neuen Formen sozialen Lebens, die sie offenbar nur in ihren menschenunwürdigen Momenten erfahren hat. In diesem Ringen um etwas, das es kaum mehr gibt (oder das es vielleicht so nie gegeben hat), für dessen Wert sie aber einsteht mit ihrer ganzen Integrität, konnte ich ihr Buch immer wieder mit Adalbert Stifters Werk assoziieren. Durch seine monomane Stringenz wird AM LEBENDIGEN WASSER allerdings ein Buch für Wenige bleiben.
Alles in allem ein großartiges Buch, das in der Vielschichtigkeit seiner Bezüge und in seiner kompromißlosen Einseitigkeit fast einzigartig ist in der deutschen Literatur.

AM LEBENDIGEN WASSER wird hier erstmalig seit 1952 wiederveröffentlicht.

auc-182-paula-buber (pdf 2,7 MB)

WAHRHEIT DER SEELE – Ida v. Lüttichau (1798-1856)

ERSTER BAND + ERGÄNZUNGSBAND

Herausgegeben von mondrian v. lüttichau & petra bern

Dresden im vormärz. - Hoftheater mit verfeindeten künstlerischen koryphäen und stars, unter dem einfluß von kirche, hof und bürgertum. Zerstörte menschenleben und komplizierte ideologische fronten der revolutionszeit. - Ida v. lüttichau ist die frau des dresdner hoftheater-intendanten, vertraute des dichters ludwig tieck und dessen tochter dorothea, des universalgelehrten carl gustav carus und des historikers friedrich v. raumer. Früh tritt sie für richard wagners musik ein. Tod dreier kinder, lebenslang chronische schmerzen, ein zwiespältig-bürokratischer ehemann, von vielen verehrt wie eine heilige: Wer war diese frau? - Erst im überschauen des verstreuten schriftlichen nachlasses sowie von zeugnissen der zeitgenossInnen wird ihr stetes bemühen um achtsamkeit für feinste lebensregungen in sich und anderen deutlich. Idas grundlegende haltung dem leben gegenüber war ein horchen nach innen, um dort existenzielle antworten zu finden. Diese orientierung an der eigenen mitte entfaltete sich angesichts der vom leben an sie herangetragenen aufgaben in dresden zu umfassender tiefgründigkeit auch gegenüber der sozialen außenwelt.

Hinter dem bemühen, ida v. lüttichaus vermächtnis jetzt, 150 jahre nach ihrem tod, ans tageslicht zu bringen, steht die überzeugung, daß wir menschen wie sie unbedingt brauchen: als anstoß, als orientierung und vorbild zu menschenwürdigem leben - gegen verdinglichung unseres seelenlebens und instrumentalisierung der natur um uns.

Erster Band:
In dieser dokumentation sind nahezu alle zu verschiedenen zeiten verstreut veröffentlichten texte und zitate ida v. lüttichaus gesammelt, außerdem alle relevanten zeitgenössischen erinnerungen an sie. Dazu kommen einige hier erstmals veröffentlichten tagebuchaufzeichnungen und briefe sowie ein vorwort des herausgebers MvL. (Korrigierte und ergänzte neuauflage im januar 2017)

Ergänzungsband:
In seinem mittelpunkt stehen erstveröffentlichungen von handschriften (transkribiert für diese ausgabe von petra bern). Das sind tagebuchaufzeichnungen idas, sämtliche erhaltenen briefe an idas engen freund, den historiker friedrich v. raumer sowie auszüge aus tagebüchern einer jugendfreundin (johanne friederike v. friesen) sowie von briefen dorothea tiecks (an friedrich v. uechtritz). Aber es gibt dort noch anderes zu entdecken..

Übrigens: Die denkmalgerechte restaurierung der gräber ida v. lüttichaus und ihrer familie auf dem dresdner trinitatis-friedhof ist abgeschlossen! -Inzwischen wurde auch die direkt danebenliegende grabstätte von carl gustav carus restauriert.

William Quindt: GERECHTIGKEIT oder APOKALYPSE DER TIERE

William Quindt (1898 – 1969) kommt aus einer bäuerlichen Familie; er verlor früh seine Eltern und schlug sich ab dem 15. Lebensjahr in verschiedenen Berufen durchs Leben. Schließlich wurde er Journalist, später Pressechef bei großen Zirkusunternehmen wie Sarrasani und Busch, mit denen er Europa bereiste. Weitere Reisen brachten ihn nach Afrika und Indien.
Ab 1932 veröffentlichte er eine Vielzahl von Romanen, die (unter der Kategorie Tiergeschichten und Abenteuerromane) fast ausnahmslos zu Bestsellern wurden . Einige Bücher blieben bis heute dauerhaft lieferbar, vor allem STRASSE DER ELEFANTEN (1939), in dem sich Quindt kritisch mit der Elfenbein-Wilderei auseinandersetzte und eindringlich für den Schutz der Elefanten eintrat.
Die meisten seiner Romane sind nicht zuletzt Allegorien – begründet in verbitterter, resignierter Sehnsucht nach der Möglichkeit authentischen, menschenwürdigen Lebens, wobei im Mittelpunkt fast immer Tiere stehen. Das hier wiederveröffentlichte späte Hauptwerk GERECHTIGKEIT legt den Schwerpunkt ganz und gar auf das Leid der Tiere in einer Welt der Menschen und die Notwendigkeit, sich dieser Zerstörungsnormalität zu widersetzen.
Quindts lebenslange Annäherung an die Welt der Tiere, seine lebenslange Auseinandersetzung mit der Realität der Menschen auf diesem blauen Planeten wird in GERECHTIGKEIT nicht zusammengefaßt (sprich: verallgemeinert), vielmehr entfaltet in all seinen Nuancen.

Der Tiermaler Hans Froment lebt für seine Kunst, Tiere in der Schönheit ihrer Lebenswirklichkeit zu porträtieren. Er erhält den Auftrag, für einen großen Verlag über sechs Jahre in Afrika, Asien und Nordamerika zu reisen, um die dortige Tierwelt für großangelegte Buchveröffentlichungen zu zeichnen und zu malen. Während dieser Reise nähert er sich dem Leben wilder Tiere auf ihrem heimatlichen Kontinent in einer für ihn umwälzenden und irritierenden Weise. Nach der Rückkehr nach Europa wird ihm schrittweise, in unzähligen Situationen, Begegnungen, Konfrontationen (mit Tieren und Menschen) erschreckend deutlich, in welchem Maße Tiere in der Menschenwelt (zumal in der zivilisierten Gesellschaft) mißachtet, versklavt, gefoltert, entwürdigt und zerstört werden. Sacht erkennt er, daß auch in der von einer (scheinbaren) Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier bestimmten Welt des Zirkus, auch in der Realität von Zoos, selbst im Umkreis des organisierten "Tierschutzes" die Tiere zumeist als Objekte der Menschen benutzt werden. – Diese Zusammenhänge werden von Quindt nicht als Streitschrift publiziert, sondern verwoben in eine romanhafte und zugleich essayistische Erzählung von im Original 732 enggedruckten Seiten.

Verwoben wie in einem rhizomatischen Wurzelwerk sind in diesem wortgewaltigen Buch alle Themen, Assoziationen, Erinnerungen, Reflexionen, und durch alles flutet der Blick auf die legitime Wahrheit der Tiere: nicht abgeleitet von der Wirklichkeit der Menschen. Im Lesen – Satz für Satz, Passage für Passage – entfaltet sich uns ein eigener Blick auf diesen blauen Planeten. Wir erkennen, daß das biblische "Paradies" ja diese Erde gewesen ist! – Die Welt der Tiere ist uns offensichtlich fremder als alle außerirdischen Lebenswelten, die SF-Autoren erfinden: das wird deutlich an Quindts Roman GERECHTIGKEIT, einem Buch, das sich selbst naturwüchsig zu entfalten scheint; dabei ist es Szene für Szene, Gedankengang für Gedankengang folgerichtig aufgebaut bis zur letzten Seite.

Das Buch erschien 1958 , im Jahr 1982 wurde eine stark gekürzte Taschenbuchausausgabe veröffentlicht. Der vorliegenden einzigen Wiederveröffentlichung (2024) unter dem neuen Titel GERECHTIGKEIT oder APOKALYPSE DER TIERE liegt die Originalausgabe zugrunde. Hinzugefügt wurde ein Nachwort , Hinweise auf andere Arbeit Quindts, ein Werkverzeichnis sowie Literaturempfehlungen, außerdem einige Abbildungen.

auc177-quindt-gerechtigkeit (pdf 4,7 MB)