Anna Langfus: SALZ UND SCHWEFEL

Anna Langfus (gestorben am 12. Mai 1966 in Paris) wurde als Hanka Regina Szternfinkiel am 2. Januar 1920 als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie in Lublin (Polen) geboren. Zusammen mit ihrem Ehemann Jakub Rais und ihren Eltern wurde sie im Frühjahr 1941 in das neu errichtete Ghetto von Lublin deportiert. Von dort flohen sie und lebten illegal in der Stadt. Der Vater kam in Lublin ums Leben, die Mutter im Warschauer Ghetto, wo sie sich mehr Sicherheit versprochen hatte. Auch das Ehepaar Rajs war 1942 nach Warschau geflohen. Sie blieben zunächst im Ghetto, versteckten sich dann auf der "arischen" Seite. Anna engagierte sich im polnischen Untergrund. Im November 1944 wird sie von der Gestapo verhaftet. Anna Rajs und ihr Mann werden als russische Spione verdächtigt und im Gefängnis von Nowy Dwór gefoltert. Jakub Rajs wird erschossen. Anna wird ins Gefängnis Płońsk überstellt, sie entgeht nur knapp einer Massenexekution und wird von der sowjetischen Besatzung freigelassen.

Anna Rajs-Szternfinkiel kehrt zunächst nach Lublin zurück, wo keine Verwandten mehr lebten. Sie beginnt dort ein Schauspielstudium. Etwa Mitte 1946 verläßt sie Polen und läßt sich in Frankreich nieder.
Als eine der ersten jüdischen Überlebenden der Shoah begann sie, literarisch ihre ihre Erfahrungen von Verfolgung, Verrat, Folter, Mord und Überleben zu veröffentlichen.In Frankreich entstanden bis zu ihrem Tod drei Romane sowie mehrere Theaterstücke, Erzählungen und Hörspiele.

Anna Langfus starb an einem Herzinfarkt im Alter von 46 Jahren. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Bagneux begraben.
Trotz Literaturpreisen und der Übersetzung ihrer Werke in fünfzehn Sprachen geriet sie ab den 1970er Jahren allmählich in Vergessenheit (heißt es in der französischen Wikipedia). In Deutschland wurde ihr Werk kaum zur Kenntnis genommen.

Die Autorin hat mehrfach betont, daß es sich bei SALZ UND SCHWEFEL nicht um eine Autobiografie handelt, sondern um einen "autobiografischen Roman". Der Roman zeigt unzählige Situationen, die nicht verarbeitet werden können mithilfe der Erfahrungen, der Empfindungen und Kriterien, der Moral, die wir für das mitmenschliche Leben gelernt und verinnerlicht haben: eine alltägliche Kette von Schmerzen und Demütigungen, die es jeweils zu überleben galt – irgendwie. Manchmal zeigt sich der innere Widerstreit zwischen Lebenswille und dem tiefen Wunsch, daß dieses schreckliche Leben endlich vorbei sein solle, egal auf welche Weise.
Literarische Gestaltung ist eine wichtige Verarbeitungsmöglichkeit traumatischer Erfahrungen. Empfindungen und Reflexionen können poetisch und in fiktiven Situationen distanzierter und dadurch oft nuancierter dargestellt und entfaltet werden als in einem in allen Einzelheiten an den tatsächlichen Abläufen orientierten Bericht.
Ein Wunder bleibt das sprachliche, literarische Niveau der Autorin, das tiefe Einblicke in menschliches Seelenleben ermöglicht: subtilste Beobachtung menschlicher Körpersprache, tiefe Einfühlung in zwischenmenschliche Situationen, die sie umsetzen kann in stimmige (theatermäßige bzw. filmische) Dramaturgie. Für existentielle Momente findet sie oft poetische Bilder.

Über die Realität der völkermörderischen Deutschen während der NS-Zeit enthält dieses Buch nichts, das nicht auch durch viele andere Zeugnisse bekannt wäre. Sein Wert liegt – wie jeder Bericht einer oder eines Überlebenden dieser Schrecklichkeiten – in dem Zeugnis eines Menschen, dieser jungen Frau, die – wie jeder Mensch, jedes Opfer – eine Welt für sich ist und als solche wert, bewahrt zu werden in ihrem Schicksal, ihren Empfindungen. Bewahrt zu werden auch im mitmenschlichen Protest gegen solche Taten. Deshalb müssen solche Zeugnisse weiterhin immer wieder neu veröffentlicht werden!

SALZ UND SCHWEFEL erscheint hier auf Grundlage der deutschen Erstausgabe (1964) als einzige deutsche Neuausgabe.
 Die Veröffentlichung enthält im Anhang einen zusätzlichen Text der Autorin, Literaturhinweise zum Thema "Juden und Polen" sowie ein Nachwort des Herausgebers (MvL).

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Anne-als-sie-selbst. Anne Franks Botschaft

Wir alle wissen, was Anne Frank ist: "Das Tagebuch der Anne Frank gilt als ein historisches Dokument aus der Zeit des Holocaust und die Autorin Anne Frank als Symbolfigur gegen die Unmenschlichkeit des Völkermordes in der Zeit des Nationalsozialismus", steht bei Wikipedia. Aber wer war Anne Frank? Überlebende Freunde und Bekannte betonten manchmal, sie sei "trotzdem ein ganz normales junges Mädchen" gewesen; auch Rezensenten des Tagebuchs und Biografen sprechen gern von "normalen Gemütsschwankungen der Jugend". Anne selbst hätte es wohl anders gesehen; auch das ist dem Tagebuch zu entnehmen – nur mögen Erwachsene derlei ungern ernstnehmen, wenn sie ihren eigenen Anspruch an Authentizität und Selbstidentität längst verloren haben.

Annes Vater schrieb über seine Begegnung mit dem Tagebuch seiner Tochter: "Eine ganz andere Anne enthüllte sich mir aus diesen beschriebenen Seiten als das Kind, das ich verloren hatte. Ich hatte keine Ahnung von der Tiefe ihrer Gedanken und Gefühle gehabt."

Anne Frank wollte bekanntlich Journalistin oder Schriftstellerin werden; ihre schriftstellerische Begabung ist offensichtlich. Als grundlegendere individuelle Kompetenz erlebe ich jedoch ihre tiefgründige psychologische und spirituelle Achtsamkeit, die in diesen Lebensjahren (ihren letzten) erblühte. Um diese Anne Frank ging es mir in dieser Zusammenstellung von Passagen aus ihren Tagebüchern.

Die im zweiten Teil dokumentierten Zeugnisse von Annes (überlebenden) Schicksalsgefährten aus den Monaten in Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen bezeugen die Integrität ihrer kompromißlosen Mitmenschlichkeit auch dort. "Das völlig belanglose Tagebuch eines jungen Mädchens, das von sich selbst so völlig eingenommen und von seiner Intelligenz so dermaßen überzeugt ist, dass man sie nicht mal sympathisch finden kann" (wie eine amazon-Kundin kommentierte), war eben nicht nur pubertärer Widerspruchsgeist oder literarische Ambition. Auch in den kritischen Aufwallungen gegen die Mutter hatte Anne Frank nicht eigentlich gegen diese gekämpft, sondern ist, innerhalb ihrer Möglichkeiten, für ein höheres Niveau an Mitmenschlichkeit eingetreten.

Nicht selten wird Anne Frank mehr oder weniger deutlich als Symbol für die Millionen Opfer der Shoah profiliert. Dies ist unangemessen; jeder dieser Menschen repräsentiert sein einmaliges, unverwechselbares Leben. – Anne stand ein für Möglichkeiten menschenwürdiger Integrität, menschlichen Potentials angesichts schrecklicher, menschenunwürdiger Lebensumstände. Dies ist ihre Flaschenpost, als Moment einer nunmehr in jeder Generation unabdingbaren Erziehung nach Auschwitz.

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Antonina Piroshkova: AN SEINER SEITE. ISAAK BABELS LETZTE JAHRE

Neu im November 2024

Isaak Babel wurde 1894 in eine Familie von jüdischen Händlern im Moldawanka-Quartier in Odessa geboren. Im Jahr 1920 wurde er auf dem Höhepunkt des russischen Bürgerkriegs als Reporter der Reiterarmee des Generals Budjonny zugeteilt. Aus diesen Erfahrungen entstand die Novellensammlung DIE REITERARMEE(1926).
Nachdem er nach Odessa zurückgekehrt war, begann Babel eine Serie von Kurzgeschichten über das Leben im Odessaer Viertel Moldawanka vor und nach der Oktoberrevolution zu schreiben. Diese wurden zunächst in verschiedenen Magazinen und Zeitschriften veröffentlicht, 1931 erschienen die gesammelten Erzählungen unter dem Titel GESCHICHTEN AUS ODESSA als Buch.
1930 reiste Babel durch die Ukraine und sah die Brutalität, mit der die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Als Stalin seinen Griff um die sowjetische Kultur festigte und besonders nach dem Entstehen des "Sozialistischen Realismus" begann Babel sich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen.
Seit 1932 war Antonina Piroshkowa seine Partnerin.
Nach 1935 arbeitete er mit dem Regisseur Sergei Eisenstein zusammen. 1935 erschien sein zweites Theaterstück Marija im Druck. Es spielt im revolutionären Petrograd nach 1917, in einer Stadt des Elends und des Todes. Die scharfen Reaktionen auf die Veröffentlichung führten zum Abbruch der Proben an verschiedenen Theatern. Es wurde an keiner sowjetischen Bühne aufgeführt.
Nach dem Tod Maxim Gorkis 1936 verbrachte Babel seine Zeit in der ständigen Angst, verhaftet zu werden. 1939 wurde er beschuldigt, für den Westen spioniert zu haben. Babel wurde während der Verhöre schwer gefoltert und gab schließlich zu, Mitglied einer trotzkistischen Gruppe gewesen zu sein, für die ihn Ehrenburg und der französische Schriftsteller André Malraux bei seinem Paris-Aufenthalt angeworben hätten. Am Tag der Gerichtsverhandlung widerrief er das erzwungene Geständnis. Dennoch wurde er am 26. Januar 1940 von einem Tribunal für schuldig befunden und am darauffolgenden Tag im Gefängnis Butyrka erschossen. Ein Teil seines unveröffentlichten Werks wurde vernichtet.
Am 23. Dezember 1954 wurde Babel öffentlich von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen freigesprochen.

Antonina Nikolajevna Piroshkova (1909–2010) wurde in Krasny Jar (Nariinsk, Sibirien) geboren. Sie wurde Bauingenieurin; nach 1934 war sie Chefdesignerin beim Moskauer Metroprojekt und Konstrukteurin einiger Metrostationen. Isaak Babel lernte sie 1932 kennen, zwei jahre später verbanden sie sich in einer nichtregistrierten Ehe. Von der Zeit mit Babel berichtet ihr vorliegendes Buch.
Beider Tochter, Lydia (Lidiya) Isaakovna Babel, wurde 1937 geboren. Sie wurde später Architektin.
Während des Deutsch-Sowjetischen Kriegs war Piroschkowa mit ihrer Tochter in Abchasien evakuiert. Sie leitete dort eine Ingenieursgruppe für den Bau von Eisenbahntunneln im Kaukasus. In den 1950er Jahren war sie an Bauprojekten in den Kurort-Bezirken im Kaukasus beteiligt.
1956 bekam sie eine Dozentur am Moskauer Verkehrsinstitut, wo sie bis zu ihrem Ruhestand den Lehrstuhl für Tunnel und Untergrundbahnen innehatte. Sie war Mitautorin des ersten russischen Lehrbuchs für Tunnel- und Untergrundbahnbau.
Piroshkova ging 1965 in den Ruhestand und sammelte nun Materialien zu Leben und Werk Babels. 1996 emigrierte Piroschkowa in die USA. 1989 erschienen die hier wiederveröffentlichten Erinnerungen in Moskau, 1993 in der deutschen Ausgabe.

In Antonina Piroshkovas Erinnerungen wird uns Isaak Babel in seiner vielschichtigen Persönlichkeit vorstellbar… und auch seine Hoffnung auf die Perspektive einer menschenwürdigen Gesellschaft in der frühen Sowjetunion. Piroshkova berichtet von der unversiegbaren Achtsamkeit, mit der Babel Einblick nahm in politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge überall in der Sowjetunion, immer auf Grundlage von persönlichen Kontakten mit den Menschen vor Ort und im Bemühen, seine Erfahrungen mit der komplexen und widersprüchlichen Realität der damaligen Sowjetunion zu erweitern.
Dieses schmale Buch läßt eine Wahrheit der zweiten russischen (der sowjetischen) Revolution ahnen, die nichts von dem sich aus ihr entfaltenden stalinistischen Terror relativiert, aber einen grundlegend anderen Aspekt zeigt. Die hier deutlich werdende, tiefgründig an Menschenwürdigkeit orientierte Haltung Isaak Babels (und anderer damaliger Aktivist*innen, mit denen er befreundet war) hatte möglicherweise die Neigung verstärkt, sich einer "Partei", einem System unterzuordnen: in der Vorstellung, daß allenfalls auf Grundlage einer derartigen hierarchisch strukturierten Kollektivität "das Gute" obsiegen kann. Zeugnisse wie dasjenige von Antonina Piroshkova sind unersetzlich für das sozialpsychologische Nachdenken über diese Fragen (sofern sich überhaupt noch jemand für derlei interessiert, was ich manchmal bezweifle).

Dieser ganz und gar unprätentiöse Bericht steht geradezu kontrapunktisch zu Babels REITERARMEE; es zeigt Babels revolutionären Alltag, für den die Oktoberrevolution gekämpft hatte. Jetzt schien dieser Alltag endlich lebbar zu werden – jedoch lauerte im Hintergrund längst die Zerstörung durch den paranoid terroristischen Stalinismus. Piroshkovas knapper Bericht liest sich wie eine Novelle von Babel über den Schriftsteller Babel – aber es ist mehr: eine Anklage des Stalinismus, die gerade durch das in Piroshkovas Sätzen zu spürende verhaltene Lebensleid nicht weniger eindringlich ist als manche umgangreichen Zeugnisse.

Ähnlich wie Maxim Gorki, wurde auch Isaak Babel als Aktivist der bolschewistischen Revolution, der frühen Sowjetunion, in der BRD vor 1990 kaum rezipiert. Neue Veröffentlichungen deuten darauf hin, daß sich hier seit der Jahrtausendwende etwas zu ändern scheint. Am Anfang dieser Wiederentdeckung Babels standen Antonina Piroshkovas Erinnerungen.

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DIE BUCHENWALD-BAHN

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Im frühjahr 1943 mußten gefangene des Konzentrationslagers Buchenwald innerhalb von nur drei monaten eine 10 km lange eisenbahnlinie zwischen weimar und Buchenwald bauen. Zunächst diente sie der versorgung des rüstungswerks. Seit anfang 1944 wurden etwa hunderttausend häftlinge in zum teil offenen güterwaggons auf diesen gleisen transportiert. Aus ganz europa wurden jungen und männer ins KZ Buchenwald und von dort aus zur zwangsarbeit in eines der außenlager gebracht. Vernichtungstransporte mit kindern und kranken häftlingen fuhren von hier nach Auschwitz, wo sie ermordet wurden. Als die nationalsozialisten im januar und februar 1945 die lager im osten räumten, gingen massentransporte nach Buchenwald. Viele der häftlinge waren bei der ankunft bereits tot oder starben kurz darauf.

2007 wurde auf den letzten 3,5 km der trasse ein gedenkweg angelegt, auf den vor ort bislang noch kaum hingewiesen wird. Im mai 2011 habe ich ihn bei einem besuch in weimar zufällig entdeckt und fotos gemacht.

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Ferenc Körmendi: Die ungarische Jugend des Paul Hegedüs

Der ungarische Schriftsteller Ferenc Körmendi stammt aus einer assimilierten jüdisch-ungarischen Beamtenfamilie; er wurde geboren in Budapest am 12. Februar 1900 und starb in Maryland (USA) am 20. Juli 1972. Er studierte Jura, Geschichte und Musiktheorie, arbeitete als Beamter und Journalist, zwischen 1919 und 1922 veröffentlichte er Musikrezensionen. Von seinem Roman BUDAPESTI KALAND (1932) wurden in Ungarn innerhalb weniger Monate 15.000 Exemplare verkauft; zu diesem Zeitpunkt waren bereits die englischen, amerikanischen, deutschen, niederländischen, schwedischen, italienischen, französischen, spanischen, dänischen und norwegischen Ausgaben vorbereitet, weitere Übersetzungen folgten. 1934 veröffentlichte er den hier vorliegenden Roman A BOLDOG EMBERÖLTŐ, auf Deutsch 1935 unter dem Titel "Abschied vom Gestern". Die hier vorliegende vollständige Neuausgabe 2024 trägt den Titel DIE UNGARISCHE JUGEND DES PAUL HEGEDÜS.

1939, nach der Umsetzung des ersten und zweiten antijüdischen Gesetzes in Ungarn, das die Zahl der Juden einschränkte und sie dann gänzlich aus Regierungsbüros und Zeitungen verbannte, emigrierte Körmendi nach London, 1946 zog er nach Nordamerika. Als liberaler Demokrat konnte er auch nach 1945 nicht in Ungarn leben; er war ebenso Antikommunist wie Antifaschist. Bekannt wurde Körmendi in der Folge durch englisch geschriebene oder ins Englische, ins Deutsche und in andere Sprachen übersetzte Werke. In Ungarn hatte er kein Publikum mehr; dies hat sich offenbar noch kaum geändert. Ferenc Körmendi starb 1972 in Bethesda, Maryland.

DIE UNGARISCHE JUGEND DES PAUL HEGEDÜS (A boldog emberöltő) ist ein großangelegter Entwicklungsroman um den 1900 geborenen Paul Hegedüs, Sohn einer gutbürgerlichen jüdisch-ungarischen Familie. Bedeutenden Stellenwert haben innere Bewußtseinsbewegungen Pauls, subtile Szenen zwischen Traum, Tagtraum, Erinnerung, Phantasie sowie seelischer Verarbeitung bedeutsamer Erfahrungen. Bezugspersonen, an denen der junge Paul sich orientieren könnte, findet er nicht. Auch seine sehnsuchtsvollen Versuche einer Annäherung an die Eltern, den älteren Bruder oder später die Stiefmutter bleiben weitgehend ohne Antwort. Paul erfährt zumehmend bewußt sein Alleinsein unter den Menschen. Dies führt jedoch bereits im Kindesalter zu einer vermutlich eher seltenen Entwicklungslösung, die zum zentralen Motiv des Romans wird und sich auch in Körmendis anderen Werke wiederfindet. Es handelt sich um eine Satori-Erfahrung als Kind. Hier erfährt Paul erstmalig "das Alleinsein, die Seligkeit, das Wunder (…) – und in dieser Sekunde erfuhr er oder fühlte er zum erstenmal, was es bedeutet: von seinem Selbst Abschied zu nehmen und zurückzukehren in die Welt."

In Körmendis Roman schaut der Erzähler auf das Geschehen, als sei es Gegenwart oder ein Film ; gelegentlich wendet er sich sogar an seine Leser*innen als Mit-Beobachtende. Körmendis psychologisch überzeugende Darstellung wird nie psychologistisch einseitig, die Erzählung bleibt ein dichtes Gewebe aller Momente des sozialen und individuellen Lebens, ist immer bestimmt von einer grundlegenden und nie relativierten Liebe zum Leben.

Der ungarische Literaturhistoriker und Schriftsteller Géza Hegedüs schrieb in einem längeren Aufsatz 1991 über das Buch:
Es ist kaum möglich, sich einen größeren Werteabstand vorzustellen, als wenn wir die Romane von Ferenc Körmendi lesen und dann ihre innenpolitischen Kritiken und literaturhistorischen Charakterisierungen lesen. Das literarische Leben und die literaturgeschichtliche Nachwelt konnten und können es einfach nicht ertragen, dass in unserem Jahrhundert ein sehr talentierter Schriftsteller unter uns lebte, der versuchte, mit der Bereicherung der Weltliteratur Schritt zu halten, mit einer europäischen Perspektive und einem guten europäischen Standard, dessen Der internationale Erfolg war größer als bei jedem anderen ungarischen Prosaschriftsteller. (…) wirklich das Werk eines ungarischen Prosaschriftstellers mit europäischem Geist, wahrscheinlich von bleibendem Wert. – Aber warum besteht diese Abneigung, die man sogar Wut nennen kann, auch jetzt noch, etwa zwei Jahrzehnte nach seinem Tod? Es wäre schwierig, darauf eine Antwort zu finden. Immerhin präsentiert das kürzlich erschienene KLEINE LEXIKON ZEITGENÖSSISCHER UNGARISCHER SCHRIFTSTELLER die ungarischen Schriftsteller, die zwischen 1959 und 1988 lebten und im In- und Ausland eine Heimat fanden – die vielen Emigranten und Literaturpatrioten, die ins Ausland gingen, darunter nicht wenige unbedeutende "Little Masters" ebenfalls aufgeführt ist, wird dort nicht einmal der Name von Ferenc Körmendi erwähnt. (…) Schon damals war A BUDAPESTI KALAND (Versuchung in Budapest) ein Meisterwerk, und heute, sechzig Jahre später, ist es ein tragikomisches Porträt der kleinen Kämpfe einer vergangenen Zeit. Es ist ein ironisches, düsteres, verwinkeltes und doch eintöniges Panorama der Traumwelt und düsteren Alltagswirklichkeit des ungarischen Kleinbürgertums in Budapest.
(…) Danach schreibt er langsam und behutsam den großen Roman, der wohl als das Meisterwerk seines Lebens gelten dürfte:A BOLDOG EMBERÖLTŐ. – Sein Held ist eine der typischen Möglichkeiten dieser Zeit: der halbjüdische Junge, dessen Situation jeden betrifft und nicht ganz die gleiche ist wie die aller anderen. Der Leser hat das Gefühl, den bedeutendsten Roman dieser Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zu lesen. Körmendi war in der damaligen Weltliteratur zu Hause; in der Kritik hieß es früher, er habe westliche Formen nachgeahmt, obwohl er nur mit ihnen übereinstimmte. A BOLDOG EMBERÖLTŐ wurde so kritisiert und verurteilt, daß die verborgene Verzückung Schritt für Schritt nachgelesen werden kann.

Im Verlag G. B. Fischer, Frankfurt/M. erschien 1953 eine Neuauflage des Romans. Sie hat 746 Seiten (gegenüber 1048 Seiten in der deutschen Erstausgabe 1935). Im Impressum findet sich kein Hinweis auf eine Kürzung; auf der Rückseite des Schutzumschlages wird das Buch als "Ungekürzte Sonderausgabe" beworben. Eine Auszählung der Zeichen ergibt, daß die Ausgabe rund 400 Seiten Text fehlen! Da die vollständige Erstausgabe antiquarisch sehr selten ist, werden Interessierte regelhaft zu dieser Drecksausgabe greifen und damit die Wahrhaftigkeit des Romans verfehlen.

A BOLDOG EMBERÖLTŐ ist zweifellos Körmendis Lebensbuch! Es ist ein vergessenes Meisterwerk und gehört zum Schatz der ungarischen Literatur des 20. Jahrhunderts. (Eine Neuausgabe auf Ungarisch gibt es bisher nicht.)

Aus dem Nachwort

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Friedrich Berg: DAS MÄDCHEN FLEUR

Diese erschütternde romanhafte darstellung von der schleichenden, alltäglichen machtübernahme durch die NS-bürokraten, nicht zuletzt als machtübernahme in den köpfen der bürger, kam 1948 in berlin heraus, - aber sowas wollte damals niemand lesen.

Aus dem blickwinkel einer jungen jüdischen rechtsanwältin wird nachvollziehbar, wie die schlinge sich fast unmerklich zuzog.. - Dabei wollen die menschen nur leben, ganz alltäglich und "normal", - und bei jedem ruck der schlinge, bei jedem schlag ducken sie sich ein stückchen mehr, wie kaninchen oder schnecken, igel oder schildkröten: synchron mit den angriffen, - ohne umsicht.
Fleurs familiärer hintergrund ist das damalige akademische bildungsbürgertum; so erinnert manches an die bekannten aufzeichnungen victor klemperers.

Das buch wird hier erstmalig wiederveröffentlicht. Mit einem vorwort des herausgebers (2009).

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Jeannette Lander: AUS MEINEM LEBEN

Jeannette Lander (1931-2017) war Tochter eines in die USA ausgewanderten polnisch-jüdischen Ehepaars. Sie wuchs mit Englisch und Jiddisch als Muttersprachen auf. Ab 1934 lebte die Familie in einem vorwiegend von Afroamerikanern bewohnten Viertel von Atlanta (Georgia).
1960 übersiedelte Jeannette Lander nach BERLIN und studierte Anglistik und Germanistik an der Freien Universität. 1966 promovierte sie dort mit einer Arbeit über William Butler Yeats. Sie veröffentlichte von nun an als freie Schriftstellerin ausschließlich in deutscher Sprache.
Von 1984 bis 1985 hielt sie sich in Sri Lanka auf. Ab 1995 lebte Jeannette Lander im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg; ab 2007 war sie  im brandenburgischen Landkreis Havelland ansässig.

2017 erschien in Kooperation mit der Autorin eine Neuausgabe ihres ersten Romans (EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.) bei A+C online.

In den Jahren 2011-2014 arbeitete Jeannette Lander an Lebenserinnerungen, die jedoch nur in einem Privatdruck (ohne ISBN) veröffentlicht wurden. AUS MEINEM LEBEN erscheint hier erstmalig als Ausgabe mit ISBN, online und zum kostenfreien Download.

Für Jeannette Lander war Kreativität ganzheitlich und alltäglich, sie ließ sich ein auf Möglichkeiten, Phantasie und Wagnisse. Ihre Bereitschaft zu spontanen Entscheidungen führte zu einem von Umschwüngen und Wechselduschen geprägten Leben, das in ihren Erinnerungen deutlich wird.
Lander schreibt diese Erinnerungen al fresco: als hätte sich alles vor kürzester Zeit zugetragen, als säße sie neben uns und erzählte, wie es in ihr aufsteigt. Manche Einzelheiten wären an sich belanglos – hier aber tragen sie bei zur Färbung, zur Atmosphäre, zur mitmenschlichen Nähe, die sich einstellt bei Lesen. Aber auch Momente der Persönlichkeit, der Lebenshaltung Jeannette Landers lassen sich ahnen. Oft liegt der Sinn (die Botschaft) einer Anekdote ganz in Zwischentönen, die leicht überlesen werden können in ihrem locker-anekdotischen Erzählen. Noch beim mehrfachen Lesen zeigen sich in diesen redlichen, genauen, aber zugleich locker skizzierten Erinnerungen Momente, die zu Motiven ihres Werks geworden sind.

Die Unverblümtheit, mit der Jeannette Lander in diesen Erinnerungen, mit über 80 Jahren, von ihrem Lebensweg auch anhand deprimierender Alltagserfahrungen und persönlichster, ja intimer Empfindungen und angreifbarer eigener Verhaltensweisen berichtet, lese ich nicht zuletzt als Manifest ihrer letztlichen Befreiung aus dem Prokrustesbett der gesellschaftlichen Konventionen darüber, was "man" (d.h. vielmehr: "frau"!) zu tun hat, um anerkannt zu sein. – "Das Private ist politisch!" war ein Blickwinkel, der vor allem durch die Frauenbewegung ab 1970 profiliert wurde und zweifellos auch Jeannette Landers politische Bewußtheit bestimmte.

Ein Lebensthema Jeannette Landers ist das Bemühen, das von Verdrängung und Vorurteil geprägte Verhältnis von "Opferjuden" und "Täterdeutschen" zu durchdenken. Vorschnelles Zuordnen von Schuldigen und Unschuldigen verweigert sie auch bei partnerschaftlichen Konflikten oder im Hinblick auf die bürgerkriegsähnlichen Umstände auf Sri Lanka.
Eine "Ethik der Analogie" wird Landers Arbeiten in dem hier im Anhang dokumentierten Aufsatz der Germanistin Katja Schubert zugeschrieben: gewaltförmiges Denken und Verhalten gehört zu uns Menschen, ist nicht beschränkt auf einzelne Gruppen oder Personen. Davon sollten wir ausgehen, um die Arroganz der Macht vielleicht zunehmend als solche ethisch zu diskreditieren, jenseits der Ideologien, mit denen sie sich jeweils verbrämt. Die Chancen menschenwürdigeren Verhaltens innerhalb oder am Rande solcher Gewaltzusammenhänge sind jeweils zu gewichten, zu stärken.

Neben allem anderen vermitteln Landers Erinnerungen nachdrückliche Einblicke in das Funktionieren der "Kulturindustrie" nach 1945, in das anscheinend selbstverständliche Zusammenspiel von Autor*innen, Institutionen, Verlagen, Finanzierungsmöglichkeiten, Medien und Leser*/Käufer*innen.

Die Lebenserinnerungen werden ergänzt durch zwei tiefgründige Veröffentlichungen zu Jeannette Lander: ein Interview mit der Autorin (Marjanne Goozé/Martin Kagel 1999) sowie einen Aufsatz von Katja Schubert (2012). Daneben wird eine Rezension Landers zu Doris Lessings Romanzylus KINDER DER GEWALT (in EMMA 1984) dokumentiert.

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Jeannette Lander: EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.

Georgia, USA, 1944/45. – Jeannette Landers erster Roman bewahrt Momente einer Lebenswelt, die bald darauf verlorenging im zunehmend aggressiven Kampf der farbigen Amerikaner um ihre Bürgerrechte und gegen die traditionelle, strukturelle Gewalt der Weißen. Das Buch handelt von einer wohl seltenen lokalen Konstellation in den Südstaaten der USA, in der Fremdenfeindlichkeit, Rassismus sich aufzulösen schien, in der eine Heilung der babylonische Sprachzersplitterung vorstellbar schien. Aber es war nur eine dünne, wenig tragfähige Schicht Humanität über der Gewalt, dem Rassenhaß, der vorteilsbedachten gegenseitigen Ausgrenzung – auf seiten der Weißen wie der Schwarzen.

Erzählt wird durchgängig aus dem kognitiven und affektiven Blickwinkel der vierzehnjährigen Itke. Die drei Lebenskreise ihrer Kindheit, "der jiddischamerikanische, der schwarzafrikanische und der weißprotestantische", nicht zuletzt die Sprachwelten verdichten sich zu vielfältig-schamanischen Bedeutungszusammenhängen, einer Alchimie der Erfahrungen. Zwei Schwerpunkte hat diese Kindheit (im wesentlichen zweifellos diejenige der Autorin): die Sehnsucht all dieser Menschen nach einem einfachen Leben miteinander, nach Frieden und mitmenschlicher Wärme, – und andererseits die Auswirkungen einer Welt der Jim Crow-Gesetze, der Rassentrennung: Mißachtung, Gewalt, Mißtrauen, Demütigung, Resignation, hilfloses situatives Aufbegehren. Daneben die informellen Hierarchien: zwischen helleren und dunkleren Farbigen, besser und schlechter Ausgebildeten; es gibt die Verordnungen einer indolent-menschenverachtenden Bürokratie, dann das lokale Establishment der Weißen, davon abgegrenzt die armen Weißen, und nochmal darunter die Juden (also auch Itkes Elternhaus), mit denen zumindest bestimmte angloamerikanische Weiße sich nicht abgeben mögen. Doch auch zwischen Diaspora-Juden und in Amerika geborenen bestehen hierarchische Abgrenzungen. Dazu kommen Warenbeschränkungen und andere Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs. Es gibt rituelle jüdische Vorschriften, die jedoch nur sehr flexibel eingehalten werden. Und das geschäftsbedingte Taktieren beim Vater, dem "karitativen Kaufmann" mit seiner "brüchigen Humanität". Dann das ganz Fremde der Farbigen: die gnadenlose Armseligkeit vieler, die Ekstase ihrer Gottesdienste, ihrer Tänze, Hoodoo Rituale. Hilflose Wut flackert auf zwischen einzelnen Menschen. Ahnungen von politischer, struktureller, traditioneller – ungreifbarer – Ungerechtigkeit und Gewalt. Und Sex – für manche AfroamerikanerInnen einzige Möglichkeit, selbstbestimmte Lebendigkeit zu entfalten; wodurch sie Weiße faszinieren und ihnen gelegentlich zum Vorbild werden. Basso continuo zu alldem ist die archaische, grell-heiße, üppige Natur des Südens.

In der Sprache dieses Romans kobolzt die kindliche Freude, Varianten, Assoziationen, Alliterationen und Neologismen auszuprobieren.Regeln zu Syntax, Zeitenfolge und Zeichensetzung haben nur periphere Bedeutung. Darin liegt die für Itke (das Kind) zweifellos vor allem kreative sprachliche Vielstimmigkeit, das teils regelhafte, teils spontan-zufällige soziale Durcheinander ihrer heimatlichen Szenerie: es sind Sprachbilder, nicht zuletzt Sprachwelten. Manche Szenen erinnern (mich) an James Joyce, an surrealistische oder dadaistische Kurzfilme, in anderen zerreißt jedes soziale Miteinander, brutal zeigt sich die Realität menschlicher Entfremdung und läßt uns hilflos am Rand des Textes zurück. Itkes polnisch-jiddische Eltern läßt die Autorin jiddisch reden – auch mit den afroamerikanischen KundInnen, deren Slang verblüffend authentisch ins Deutsche übertragen wurde.

Ein Sommer in der Woche der Itke K. erschien 1971 bzw. 1974. Diese erste Neuausgabe entstand in Kooperation mit der Autorin. Bestandteil der Wiederveröffentlichung ist die Audio-Datei ihrer Lesung aus dem Buch (siehe hier unterhalb).

2023 erschienen bei A+C als Erstausgabe Jeannette Landers Erinnerungen: "Aus meinem Leben" - Hier !

Jeannette Lander starb am 20. Juni 2017.

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Jeannette Lander • Lesung aus
EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.

Katalin Vidor: ALLTAG IN DER HÖLLE

Die ungarische jüdin katalin vidor (1903-76) wurde 1944 verschleppt in das vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, später kam sie zur zwangsarbeit nach Sackisch und Merzdorf, außenlagern des KZ Groß Rosen. Ihr buch erschien 1963 auf deutsch (in der DDR), wurde kaum beachtet und ist längst vergessen. Als eine von wenigen KZ-überlebenden berichtet die psychologisch ausgebildete autorin vorrangig vom menschsein der gefangenen jüdinnen, sie dokumentiert momente des niemals adäquat nachvollziehbaren geflechts von stärken und schwächen, von liebe und gleichgültigkeit, trägheit des herzens und angst, von resignation und demütigung, verzweiflung und beharren, von demut und existenzieller erschöpfung innerhalb der grundlegend traumatisierenden KZ-situation.

Es ist dies deutlich kein buch über den nazi-terror, das millionenfache leid der Shoah, über Den Tod, sondern ein bericht über die in diesem terror dennoch existierende mitmenschlichkeit: über Das Leben. Im mittelpunkt stehen die gefangenen frauen in ihrem – wiewohl bis ans seelische und körperliche zerbrechen geschädigten – autonomen menschsein. Selbst in Auschwitz erlebten sich viele von ihnen offenbar nicht nur als objekte der nazis, sondern noch immer zugleich als subjekte des eigenen lebens.

Vidor schreibt von sich, sie sei im KZ keine von den mutigen gewesen. O doch, – ihr mut bestand darin, hinzuschauen, nicht zu verdrängen, – die unmenschlichkeit der täter und das leid der opfer und ihr eigenes leid für wahr zu nehmen; es ist der mut der zeugenschaft angesichts der menschengemachten, menschengewollten hölle. Sie macht eine weisheit des lebens vorstellbar, die sich selbst unter diesen umständen an menschenwürde, menschenliebe und solidarität orientiert, nicht am "bösen", das eigentlich nur verfehltes leben ist. Diese achtsamkeit ist die eigentliche botschaft ihres buches.(Aus dem nachwort)

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Kurt Münzer: JUDE ANS KREUZ !

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Kurt münzer (1879-1944) war ein origineller expressionistischer schriftsteller, dessen werke uns soziales und seelisches leben in deutschland zwischen 1910 und 1933 in besonderer weise nahebringen. Seine romane und novellen erschienen seinerzeit in hohen auflagen; sie provozierten jedoch leserschaft wie literaturkritiker durch ihre themen, die zutagetretende haltung wie durch die emotional überhöhte darstellung. Der autor galt vielen als "skandaldichter", seine bücher wurden nicht selten abgetan als "unterhaltungsliteratur".

Von unterschiedlichen blickwinkeln nähert sich der autor in romanen und erzählungen seinen lebensthemen: der unvereinbarkeit von kunst und leben, dem wesen des judentums angesichts des zunehmenden antisemitismus, dem leid der entfremdeten menschen unserer zeit, der realität pathologischer mutter-kind-bindungen und seiner eigenen sehnsucht nach authentischen begegnungen und beziehungen, der ambivalenten lebendigkeit der großen städte. (Auch als porträtist der stadt BERLIN ist er wiederzuentdecken!)

Der roman 'JUDE ANS KREUZ' erschien 1928. Er enthält eine tiefgründige poetisch-literarische auseinandersetzung dieses jüdischen autors mit dem sinn des jüdischseins - angesichts der zunehmenden antisemitischen pogromstimmung im deutschland der 20er jahre. Dabei erinnert die darstellung an jesus christus, den juden, und daran, daß die botschaft der liebe zwischen den menschen zur jüdischen spiritualität gehört.

'JUDE ANS KREUZ' wird hier erstmals wiederveröffentlicht, mit einem ausführlichen biobibliografischen nachwort des herausgebers sowie einem anhang (kurt münzer zum wesen des judentums; bibliografie).

Als originalausgabe ist bei A+C eine auswahl von novellen und feuilletons von kurt münzer erschienen: 'Bruder Bär', als wiederveröffentlichungen der berlln-roman 'Menschen am Schlesischen Bahnhof' sowie die romane 'Phantom' und 'Esther Berg'.

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Mária Ember: SCHLEUDERKURVE. Jüdische Ungarinnen und Ungarn im NS-Arbeitslager 1944-45

Neuausgabe, mit einem Anhang: Moshe (Miklós) Krausz – ein fast vergessener Kämpfer für die ungarischen Jüdinnen und Juden

Mária Ember (1931–2001) wurde 1944 in das österreichische Durchgangslager Strasshof an der Nordbahn und von dort in das Zwangsarbeitslager Wien-Stadlau deportiert. Nach 1945 ging sie zurück nach Ungarn. Dort studierte sie und arbeitete als Journalistin. Wegen ihres politischen Engagements erhielt sie nach 1956 vier Jahre lang Publikationsverbot. 1968 und 1971 erschienen zwei Romane, 1974 der hier wiederveröffentlichte romanhafte Bericht HAJTŰKANYAR (Schleuderkurve), in dem sie die Erfahrung der Deportation aus der Sicht eines 12-13jährigen Jungen verarbeitet.

Anfang der 80er Jahre recherchierte sie in Moskau zum Schicksal Raoul Wallenbergs. In den frühen 80er Jahren verlor Ember durch ihre Solidarität mit der Prager Charta ‛77 ihre Arbeitsstelle.

HAJTŰKANYAR (Schleuderkurve, Haarnadelkurve, Kehre) berichtet halbdokumentarisch von der Deportation einer Gruppe jüdischer Ungarn aus Szolnok und Debrecen zur NS-Zwangsarbeit nach Österreich, ab April 1944. Durchgängige Handlung des Buches ist die mäandernde, bruchstückhafte Erinnerung an den Terrors durch ungarische, ukrainische, österreichische und deutsche NS-Schergen. Schattenhafter Protagonist des Berichts ist ein wohlerzogener namenlos bleibender Junge aus bildungsbürgerlichem Elternhaus, in Márias damaligem Alter.

Die Erinnerungen (des Jungen), die Zeiten schieben sich zunehmend ineinander, lassen sich oft nicht mehr zuordnen. Seine Aufmerksamkeit, seine Wachheit zieht sich mehr und mehr in sich selbst zurück, in seinen Leib, in den Dämmerschlaf: hinter seine geschlossenen Augenlider… Gegenwart als durchgängige Zeitebene gibt es in dem Buch nicht; die Stationen der Entrechtung durch die Nazis und ihre ungarischen (und ukrainischen) Verbündeten tauchen unvermittelt als Bruchstüche in der Erinnerung des Jungen auf und versinken wieder im traumatischen Nichts. Begebenheiten werden sprunghaft und mit plötzlichen Abbrüchen berichtet, ganz so, wie wir im Innern vergrabene, gleichwohl tief bedeutsame Einzelheiten zutage fördern, um sie uns selbst oder jemandem zu erzählen.

Die vielen Momente, mit denen Gefangene versuchen, unter den Umständen der menschenverachtenden, brutalen Verschleppung ein Mindestmaß an zwischenmenschlicher Ordnung, an sozialer Stimmigkeit zu erreichen, beeindrucken und berühren. Nicht zuletzt geht es um die Perspektive von Frauen in der Shoah – ohne daß dabei biologistischen Ideologemen Vorschub geleistet werden soll. Im Hinblick auf den (fast erfolgreichen) Genozid an ungarischen Jüdinnen steht hier neben (und zeitlich gesehen vor) HAJTŰKANYAR der ebenfalls bei A+C wiederveröffentlichte autobiografische Bericht von Katalin Vidor (Vidor Gáborné).

Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der nüchternen, unsentimentalen Erzählung werden selbst die nur in Schlaglichtern vorgestellten weiteren Personen der Gruppe spürbar als Menschen mit einem individuellen Schicksal; da geht es nicht um die tausende, hundertausende, Millionen Opfer, sondern um die Individuen, aus denen sich solche nicht mehr wirklich vorstellbaren Menschenmengen zusammensetzen.

In SCHLEUDERKURVE geht es nicht um die Situation in Auschwitz oder anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Es geht "nur" um die Deportation aus Ungarn in ein österreichisches Arbeitslager. Aber auch innerhalb dieser Prozedur zeigte sich die intendierte Demütigung, dieselbe schrittweise Zerstörung von Selbstwertgefühl und sozialer Identität scheint auf in herzzerreißenden Szenen. In wenigen Zeugnissen wird die alltägliche Entwürdigung und Verhöhnung der jüdischen Opfer nachfühlbar wie hier. Bei jeder neuen Unterdrückungsmaßnahme greifen sie hilflos nach den noch verbliebenen Ressourcen sozialer Normalität und Selbstbestimmtheit (an die sie auf einer Ebene ihres Bewußtseins selbst nicht mehr glauben können) – und jedesmal sind es weniger Ressourcen. Hilflose Nuancen der Rationalisierung, auch Momente von Unterwürfigkeit zeigt Ember, die peinlich, würdelos genannt werden könnten, falls wir uns nicht klarmachten, daß sie zu unserem natürlichen Überlebensrepertoire gehören. Die jüdischen Opfer sind "ganz normale" Menschen wie du und ich, – mit allem mehr oder weniger spontanen Eigennutz, mit Klatsch und Engstirnigkeit, Feigheit und Bequemlichkeit, mit Vorurteilen und Trägheit des Herzens. Alle wollen sie "nur" ihr eigenes Leben, ihre Normalität und möglichst viel von ihren vertrauten Umständen bewahren.

Einen Schwerpunkt des Berichts bildet die erbarmungslos kalte, höhnische Menschenverachtung der ungarischen Gendarmen gegenüber den ungarischen Juden. Ungarische Bürger waren es, die 1944 binnen weniger Wochen rund 500.000 jüdische Mitbürger deportierten. In diesem Zusammenhang schrieb die Autorin: Ennek a könyvnek a tárgya nem a zsidó sors. Amit ez a könyv elbeszél, az magyar történelem. – Das Thema dieses Buches ist nicht das jüdische Schicksal. Was dieses Buch erzählt, ist ungarische Geschichte.

(Aus dem Vorwort)

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Martha Wertheimer: ENTSCHEIDUNG UND UMKEHR

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Der hier erstmalig wiederveröffentlichte roman erschien 1937 (unter dem titel 'Dienst auf den Höhen'). Die autorin wurde 1942 ermordet, wahrscheinlich im vernichtungslager sobibor.

Martha wertheimer studierte in frankfurt/m., arbeitete als redakteurin, war fechterin, engagierte sich für das frauenwahlrecht. Sie verstand sich als zionistin und übernahm nach 1933 vielfältige aufgaben in entsprechenden institutionen, organisierte und begleitete transporte jüdischer kinder ins rettende ausland. Nachdem ihrer schwester (mit der sie dauerhaft zusammenlebte) der paß entzogen worden war, entschied sich auch martha, in deutschland zu bleiben. Sie engagierte sich stärker im religiösen leben, übernahm funktionen, die sonst rabbinern vorbehalten waren. Dabei orientierte sie sich an jüdischen gelehrten und (reform–) rabbinern, die brücken schlagen wollten zwischen dem 20. jahrhundert und dem spirituellen und ethischen gehalt der jüdischen tradition: leo baeck, martin buber, franz rosenzweig, max dienemannund anderen.

'Entscheidung und Umkehr' interpretiert das biblisch überlieferte geschehen um die könige david und salomo sowie salomos schwester tamar. Das unmittelbare bündnis gottes mit den juden als gemeinschaft legt das gewicht der religio (als rückbindung an eine übergeordnete grundlage menschlichen seins) auf die diesseitige menschliche gemeinschaft: Gottes wahrheit läßt sich nur im menschlichen miteinander verwirklichen!Die befreiung des judentums aus angemaßter macht oder totem ritual erwächst aus individuellen entscheidungen in der sozialen gegenwart; - diese grundlage der jüdischen religiosität gilt für martha wertheimer (in orientierung vor allem an dem religionsphilosophen martin buber) auch für ihre eigene zeit - und sie ist heute mehr denn je eine relevante alternative zum christlichen verständnis göttlicher gnade.

'Entscheidung und Umkehr' ist darüber hinaus eine der ersten (angemessenen) literarischen darstellungen der folgen einer vergewaltigung im kindesalter aus dem blickwinkel der betroffenen frau.Herzzerreißend deutlich wird das persönliche leid des mädchens tamar als opfer männlicher arroganz der macht vermittelt - tamars versuche, die vergewaltigung durch den halbbruder seelisch zu überleben. Im ganzen buch wird martha wertheimers besondere aufmerksamkeit deutlich für das empfinden der beteiligten frauen, ein blickwinkel, der in der biblischen überlieferung keine rolle spielt. - 'Entscheidung und Umkehr' wird getragen von wertheimers sehnsucht nach einer menschenwürdigen welt jenseits von patriarchalischer machtgier – und ihrer hoffnung darauf. Hier hat martha wertheimer ihre liebe zum leben bewahrt, ihre tiefe menschenkenntnis und ihre trauer über das leid, das wir menschen einander zufügen ungewollt oder willentlich, zu allen zeiten. Das buch ist eine der bedeutenden botschaften des vernichteten deutschen judentums, ist teil des zeitlosen widerstands gegen zerstörung des lebens durch vom ganzen der welt abgespaltene menschenmacht.

Mit einem anhang: Martha wertheimer über hanna rovina und das zionistische theater HABIMA.

(Achtung: Martha wertheimer wurde 1890 geboren, nicht 1880, wie im buch behauptet. Der fehler wird in einer späteren auflage korrigiert werden!)

Ebenfalls bei A+C wiederveröffentlicht wurde martha wertheimers 1933 erschienener antimilitaristischer krimi "Maschine F 136".

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Martha Wertheimer: MASCHINE F 136

Ein krimi in diesem verlagsprogramm?? - Spätestens am schluß wird der grund nachvollziehbar geworden sein. Aber wie es so ist bei krimis: verraten wird nichts! – Spannung ist jedenfalls garantiert bis zur letzten seite.

Hinter HAL G. ROGER, dem ursprünglichen autorenpseudonym des hier erstmals wiederveröffentlichten romans von 1933, steckt mit größter wahrscheinlichkeit MARTHA WERTHEIMER, die deutsch-jüdische journalistin, pädagogin und zionistin, deren hauptwerk Entscheidung und Umkehr(originaltitel: Dienst auf den Höhen) bei A+C bereits neu erschienen ist.

Das buch spielt in london. Es gibt die stimmung des kriegstechnischen wettlaufs europäischer staaten bereits vor ausbruch des Zweiten Weltkriegs wieder. In der offenbar gesamteuropäischen vorkriegsstimmung von 1933 ist Maschine F 136 ein antimilitaristischer krimi, gerichtet an leserInnen aller staaten.

Kaum ahnen konnte die mutmaßliche autorin von Maschine F 136 im jahr 1933 , welchen kampf um menschlichkeit und gegen verbrecherische, tödliche, wahnsinnige intentionen auch sie bald führen würde: um flucht-, schutz- und überlebensmöglichkeiten für juden. Neben ihrer journalistischen arbeit beteiligte sie sich an der Hachschara-ausbildung (vorbereitung zur ansiedlung in palästina). Später übernahm MaWe (wie sie von freunden genannt wurde) die leitung  der jüdischen jugendfürsorge; sie organisierte und begleitete kindertransporte ins rettende ausland, vor allem nach england.
Sie selbst wurde 1942 von den nazis ermordet.

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Martin Buber: DANIEL. Gespräche von der Verwirklichung

Diese erste größere veröffentlichung des jüdischen religionsphilosophen martin buber (1878-1965) entstand während seiner berliner jahre; die erstausgabe erschien 1913.

Vorrangig geht es im 'Daniel' um das konkrete und existenzielle leid von entfremdung und verdinglichung und um das bewußtsein einer gegenbewegung hierzu: "Diese Menschen sind verkürzt, Ulrich, verkürzt in dem Recht der Rechte, dem gnadenreichen Recht auf Wirklichkeit."- Es ist das problembewußtsein von intellektuellen und künstlern zu beginn des 20. jahrhunderts, das allerdings bald zersplitterte in unterschiedliche blickwinkel und ideologische fronten (proletarischer kampf, lebensreformbewegung, spiritualität, expressionismus, frauenbewegung, nationalismus, rassismus).

In den folgenden Jahrzehnten wurde buber zum wiedererwecker der chassidischen religiosität und bibelübersetzer, zum kritischen zionisten und (mit-)begründer des dialogischen prinzips, zum anarchisten und religiösen sozialisten, zum mittler zwischen deutschland und israel, zwischen juden und arabern. "Ich habe keine 'Lehre'. Ich habe nur die Funktion, auf solche Wirklichkeiten hinzuweisen. Wer eine Lehre von mir erwartet, die etwas anderes ist als eine Hinzeigung dieser Art, wird stets enttäuscht werden", betont buber. - Dabei bleiben sämtliche aspekte und blickwinkel des vielschichtigen lebenswerks untrennbar aufeinander bezogen. Möglicherweise sind gewisse lebenslange untergründige intentionen buber in  den frühen 'Gesprächen von der Verwirklichung' für heutige leserInnen leichter auffindbar als in den sogenannten hauptwerken.

Kontemplative rückbezogenheit (religio) steht wohl lebenslang im hintergrund von bubers kreativität; im 'Daniel', einem fast intimen mehrstimmigen selbstgespräch des 35jährigen, bestimmt sie noch die darstellung. Von daher zeigen diese 'Gespräche von der Verwirklichung' die entfaltung des dialogischen prinzips aus mystischem einheitsempfinden, bei buber nicht zuletzt auf grundlage seiner beschäftigung mit chassidischen überlieferungen, als plausible und organische entwicklung.

Mit seiner lebenslangen, tiefgründigen achtsamkeit für möglichkeiten von begegnung steht auch buber in der gegenbewegung zur gesellschaftlichen verdinglichung des lebens.In vielen facetten ausdifferenziert, finden sich in seinem werk hinweise auf die dem menschen mitgegebene fähigkeit, zu antworten auf alles, was ihm von der welt entgegenkommt, - eine autonomie, von der auch theodor w. adorno spricht, wenngleich aus anderem blickwinkel.

Kennengelernt hatte ich martin bubers werk 1981, als mitarbeiter im Verlag Lambert Schneider. Bald empfand ich den 'Daniel' als verborgenes herz seiner arbeit. Noch immer möchte ich nicht hinnehmen, daß das büchlein verloren sein soll für die öffentliche aufmerksamkeit, abgetan als jugendwerk! Wäre von buber nichts anderes überliefert, so würde der 'Daniel' möglicherweise in jeder generation neu entdeckt..

Nachwort: Mondrian v. lüttichau

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Moshe Zalcman: ALS JÜDISCHER ARBEITER IN POLEN UND IM STALINISTISCHEN GULAG

Jüdischkeit in Europa – damit verbinden sich uns meist Lebensberichte, Zeugnisse und Erzählungen mehr oder weniger "assimilierter" Juden und Jüdinnen in Westeuropa. "Ostjuden" tauchen eher als undifferenzierte Kategorie mit für uns seltsamem Habitus auf. Bis heute sehr verbreitet sind die Stereotypien des Händlers und des traditionell religiösen Juden, schwarzgekleidet, mit Kippa und Stirnlocken. Moshe Zalcmans Bericht zeigt uns eine völlig andere Welt osteuropäischer Jüdischkeit!

Das Buch verbindet Zalcmans mitreißend erzählte Lebensgeschichte zunächst mit einer unglaublichen Fülle an Informationen zur Situation der jüdischen Bevölkerung in Polen vor 1933. Ein roter Faden des gesamten Buches sind detaillierte Hinweise auf Aktivist*innen der damaligen jüdischen Arbeiterbewegung in Polen und Sowjetrußland. Zalcman erinnert an unzählige jüdische Opfer der stalinistischen Terrors, nennt ihre Namen, skizziert ihr Leben und ihr Leid. Sein Buch ist ein wichtiges und zumindest deutschsprachig durch nichts zu ersetzendes Zeugnis zu diesem sonst wohl wenig beachteten Kapitel in der Geschichte des europäischen, speziell osteuropäischen Judentums, das trotz seiner Orientierung an den religiösen Formen integriert war ins soziale Leben der nichtjüdischen Umgebung (wobei Zalcman hier vorrangig von seiner Heimatstadt Zamość berichtet), in verschiedensten Berufen und eben auch im politischen Engagement. Eine Kehrseite ist jedoch der in Polen und Rußland damals immer wieder aufflammende Antisemitismus, manchmal geschürt aus politischen Gründen, immer mit bösen, tödlichen Folgen.

Nicht weniger detailgenau und zugleich ergreifend nachfühlbar erzählt geht es im zweiten Teil um Zalcmans Schicksal ab 1933, in Sowjetrußland, wo er mitarbeiten wollte am Aufbau einer menschenwürdigen "neuen" Gesellschaft. Dieses Engagement führte für Zalcman in Stalins paranoidem Staatssystem zu Verhaftung, Gefangenschaft, Folterung, Zwangsarbeit(1937-47) und Verbannung(1948-56).

Zalman berichtet von ökonomischen und alltäglichen Lebensumständen der Bevölkerung in Rußland, in Sibirien und (für die Zeit nach 1948) in Georgien. Wir erfahren nuancierte (auch strukturelle, sozialpsychologische) Einzelheiten zu Leid, Tod und zum Überleben unter menschenunwürdigen, von bürokratischer Indolenz, Machtmißbrauch, menschlicher Abstumpfung und Sadismus geprägten Umständen. Zalcman berichtet von entsetzlichen, kaum glaublichen bürokratisch-terroristischen Gewalttaten gegen einzelne Menschen. Insbesondere in Zalcmans Bericht aus seiner Zeit in Georgien (1948-56) wird sinnlich nachvollziehbar, wie der Alltag einer durch Korruption, Seilschaften, Bürokratenwillkür, Staatskapitalismus und organisiertes Banditentum der Funktionäre verkrebsten Gesellschaft abläuft.

Moshe Zalman (geboren 1909) hat seinen Lebensbericht auf Jiddisch geschrieben; im Jahr 1977 wurde er in französischer Übersetzung veröffentlicht. Eine deutsche Ausgabe erschien 1982 im Verlag Darmstädter Blätter. Während der Autor und sein Bericht in Frankreich bis heute medial präsent ist, wurde das Buch in der Bundesrepublik offenbar kaum zur Kenntnis genommen. Hier erscheint es in seiner ersten Neuausgabe.

Zum Thema Stalinismus siehe auch das bei A+C wiederveröffentlichte Buch von Victor A. Kravchenko: Als Funktionär im sowjetischen Stalinismus.

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Norbert Frýd: KARTEI DER LEBENDEN

Der autor berichtet in unaufgeregter ausführlichkeit von unzähligen organisatorischen einzelheiten eines zum KZ Dachau gehörenden arbeitslagers, dessen gefangener er war. Jeder mensch funktionierte dort wie das zahnrad eines uhrwerks, um größtmögliche vorteile und sicherheit für sich und/oder die soziale gruppe, der er angehört, zu erzielen. In frýds romanhaftem bericht scheint oft nur eine graduelle abgrenzung zwischen tätern, mitläufern und opfern möglich.

Herrschaft argumentiert in der entwickelten zvilisation mehr und mehr mit sachzwängen und verzichtet auf ethisch-moralische legitimationen. Gerade im NS-regime gingen bürokratie und verbrechen besonders nahtlos ineinander über. Auch im vorliegenden buch wird das übergroße gewicht instrumenteller vernunft (in form von logistischer und bürokratischer logik) nachvollziehbar – und wie sie zum instrument höchst individueller interessen wird; grundsätzlich nicht anders als bei uns heute.

Norbert fried wurde 1913 in einer familie tschechischer juden in budweis geboren; er starb 1976. Seit den 30er jahren war er mitglied einer fortschrittlichen politisch-kulturellen bewegung um emil františek burian, verkehrte vorrangig in jüdischen künstlerkreisen und kooperierte mit dem komponisten karel reiner. Er gehörte zum kreis um die im prager exil von franz carl (f.c.) weiskopf geleitete antifaschistische Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), später unter dem namen Volks-Illustrierte. Ab 1936 arbeitete fried als redakteur und drehbuchschreiber für den filmkonzern Metro Goldwyn Mayer. 1942 kam er ins Ghetto Theresienstadt, wo er am geheimen kulturellen leben beteiligt war. 1944 wurde norbert fried zusammen mit allen anderen künstlern aus Theresienstadt ins KZ Auschwitz deportiert . – Am 10. oktober 1944 kam er ins arbeitslager Dachau-Kaufering (kategorie "Jude, Schutzhäftling"); von dieser zeit handelt das vorliegende buch. Im april 1945, als die SS begann, das lager zu räumen, gelang es fried zu flüchten.

Norbert frieds vater, sein bruder, seine frau und seine tochter wurden in den KZ ermordet; er überlebte die Shoah als einziger seiner familie.

1945 unterstützte er die amerikaner als dolmetscher bei den verhören der SS-wächter von Dachau, später war er einer der zeugen beim ersten dachauer kriegsverbrecherprozeß. Norbert fried arbeitete als journalist und beamter, war mitglied der tschechoslowakischen kommunistischen partei. 1946 änderte er seinen namen zu "frýd". 1947 wurde er kulturattaché in mexiko. Während dieser zeit nahm er teil an einer expedition in den tropischen regenwald. Später war frýd in verschiedenen diplomatischen stellungen in anderen ländern lateinamerikas und in den USA. Zeitweise reiste er mit einem puppentheater nach asien und amerika. Nach kurzer beschäftigung beim tschechoslowakischen radio wurde frýd freier schriftsteller. Zugleich war er 1951 bis anfang der 70er jahre delegierter bei der UNESCO.

Eine grundfrage des buches ist: Welche haltungen sind angemessen im KZ oder allgemein: während der NS-zeit? Neben mörderischen NS-tätern und gläubigen nazis gab es eine vielzahl moralischer, ideologischer und emotionaler beurteilungen einzelner situationen, von gefährdungen, interessen und eigenem handlungspielraum, – bei den gefangenen wie bei den NS-funktionären. Aus der zugehörigkeit zu einer sozialen gruppe ließ sich offenbar selbst im KZ nicht direkt auf die mentalität und das verhalten konkreter menschen schließen. Innerhalb des kleinen außenlagers waren vielschichtigere interaktionen überschaubarer, deutlicher darstellbar und nachvollziehbarer als durch berichte aus den weitaus anonymeren größeren KZ.

Das rührt an eine bis heute tabuisierte frage: In welchem maße sind KZ-gefangene als funktionshäftlinge direkt oder indirekt zu handlangern der NS-interessen geworden? Dabei geht es nicht nur um gefangene mit bereits zuvor ausgelebten kriminellen intentionen. Es geht um interessengeleitetes (auch politisch motiviertes) taktieren, um das prinzip des eine hand wäscht die andere, um balance of power: es mit niemandem ganz zu verderben, den man noch einmal brauchen könnte. Es geht – dies wird bei frýd deutlich – gegebenenfalls auch darum, daß NS-opfer in eigenem interesse zu tätern an anderen NS opfern werden.

KRABICE ŽIVÝCH erschien in prag 1956, wurde dort viel gelesen und in mehrere sprachen übersetzt. Eine DDR-ausgabe erschien 1959. Allerdings dürfte frýds buch in deutschland kaum größeres interesse erregt haben. So genau wollte man es damals bekanntlich nicht wissen, in der DDR so wenig wie in der BRD. Aber auch später wäre diese darstellung, bei der die beruhigenden eindeutigkeiten von genuin guten und bösen menschen, von opfern und tätern in so irritierender weise aufgelöst werden, vom medialen mainstream kaum akzeptiert worden..

(Aus dem nachwort des herausgebers mondrian v. lüttichau)

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Paula Judith Buber: AM LEBENDIGEN WASSER

Paula Winkler (1877–1958) stammte aus eine gutbürgerlichen katholischen Beamtenfamilie in München. 1899 lernte sie beim Germanistikstudium in Zürich den Kommilitonen Martin Buber kennen (später ein bedeutender jüdischer Religionsphilosoph und Mitbegründer einer dialogischen Pädagogik und Psychologie). 1901 trat sie aus der katholischen Kirche aus. 1906 zogen Paula und Martin  nach Berlin. Dort konvertierte Paula im Januar 1907 zum Judentum, was die Heirat mit Martin Buber ermöglichte. (In diesem Zusammenhang nahm sie den zusätzlichen Vornamen Judith an.) Seit 1912 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Georg Munk Erzählungen sowie Romane. (Zwei ihrer drei Romane wurden 2008/9 in Buchhandelsausgaben wiederveröffentlicht.) 1916 zog die Familie (mit Sohn und Tochter) von Berlin nach Heppenheim (unweit von Heidelberg).
1935 wurde Paula Buber wegen "jüdischer Versippung" aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Im März 1938 emigrierte die Familie Buber nach Palästina, wo Martin Buber einen Lehrstuhl an der Hebräischen Universität Jerusalem übernahm. In den folgenden Jahren wurde ihr dritter Roman AM LEBENDIGEN WASSERabgeschlossen, an dem die Autorin seit etwa 1925 gearbeitet hatte.

AM LEBENDIGEN WASSERerschien erst 1952 in einer einzigen Auflage von 5000 Exemplaren im Insel-Verlag (Wiesbaden).
Der Roman ist die Utopie einer menschengemäßen familiären Gemeinschaft über die Generationen, in der seelische (und soziale) Entfremdung einen sehr geringen Stellenwert hat. Aber ist das überhaupt vorstellbar? Sind wir doch alle eingesponnen in vielfältige Selbstverständlichkeiten von Entfremdung (Verdinglichung). Zugrunde gelegt wird von Paula Buber dieser Utopie die Annahme einer wesentlich durch Frauen getragenen zivilisatorischen Wirkmächtigkeit, wie sie heutzutage im Rahmen von Anthropologie und Gendertheorie eher infrage gestellt wird.
In jedemfall erinnert uns die Autorin an Schätze, die Menschen einander schenken können: immaterielle (Achtsamkeit, Liebe, Geduld, Rücksichtnahme) – aber auch materielle, die wiederum immaterielle Werte bewahren können (Erinnerungen, Dankbarkeit, Schönheit, Bindung, Trost). Aber materielle Schätze werden zerstört durch Kriege und das Gewinnstreben von Erben, die die entsprechenden Dinge verkaufen. Immaterielle Werte werden zerstört durch seelische Entfremdung, Schicksalsschläge, Trägheit des Herzens...
Der Roman beginnt etwa 1875 und endet mit der Revolution 1919. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln einzelner Familienmitglieder werden im Verlauf des Buchs Lebensverläufe skizziert, wodurch das vitale Geflecht der "Sippe" vorstellbar wird. Nachfühlbar wird das Mitleben, Fortleben und Weiterleben zwischen Familienmitgliedern aufeinander folgender Generationen. Dabei gibt es auch in dieser exzeptionell humanisierten Großfamilie erhebliche zwischenmenschliche Unvereinbarkeiten, ideologische Fremdheiten, seelische Verletzungen, Konflikte, auch Kindheits-Traumatisierungen. Innerhalb der Großfamilie werden etwa ebensoviele uneheliche Verbindungen (einschließlich "Ehebruch" und Dreiecksbeziehungen) wie eheliche dargestellt. – Jedoch wird mit all dem anders umgegangen, als wir es wohl zumeist erleben! Schicksalsschläge werden in der von Buber imaginierten familiären Gemeinschaftlichkeit offenbar generell nicht explizit, gemeinschaftlich verarbeitet – vielmehr tragen alle ihre persönliche Last inklusive ihrer Trauer in einsamer Größe allein für sich. Selbst bei zumindest damals noch sozial extrem anstößigen Lebensumständen (Ehebruch, uneheliche Kinder, ihre Kinder verlassende Mütter, die Familie verlassende Männer) wird kein Moralisieren im bürgerlichen Sinn dargestellt. Im Vordergrund steht immer die konkrete Aufgabe, mit der gegebenen Situation in möglichst menschenwürdiger Weise umzugehen.Das selbstverständliche Annehmen schwieriger, auch tragischer Lebensumstände einschließlich aller damit verbundener Entsagungen zugunsten von als übergeordnet verstandener ethischer (moralischer) Werte, darunter auch die familiäre Gemeinschaft im erweiterten Sinn, hat einen hohen Stellenwert im Leben der Personen. Diese Werte werden niemals explizit proklamiert, um sie wird nicht rhetorisch gerungen: sie sind, was sie sind.

Die Orientierung der Autorin an der traditionellen Geschlechtsrollendichotomie ist nicht einfach konservativ, vielmehr versucht sie, die traditionelle Erstarrung dieser Rollenvorgaben aus sich heraus zu überwinden: sie so sehr mit individuellem Leben zu füllen, daß sie sich wandeln zu neuer zwischenmenschlicher Authentizität! Ihre Darstellung von sozialen Verhaltensweisen und Haltungen bei Frauen innerhalb der neuen Normalität in den 20er Jahren (Orientierung an sozialer Ungebundenheit und Freiheitlichkeit im äußeren Sinn, frauenrechtliche Intentionen, Frauenstudium u.dgl.) macht deutlich, daß sie diese Tendenzen eher als Flucht vor den Anstrengungen eines erfüllten Lebens deutet. – Darin allerdings steht Paula Bubers Buch diametral zur gesellschaftlichen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
In vielen Facetten zeigt sich bei einzelnen Personen das Beharren auf individuellen Eigenheiten, Ideologemen, Idiosynkrasien, die von anderen Familienmitgliedern abgelehnt werden, wobei diese wiederum in anderen Aspekten ungewöhnlich sind. So ist es zwar auch bei uns, aber es zeigt sich meist weniger deutlich, weil heutzutage das allermeiste Abweichende reflexhaft kaschiert wird mit konsensuellen Meinungen oder Verhaltensweisen bzw. mit Rückzug. Bei Paula Buber zeigt sich das soziale Leben innerhalb des Familienverbandes als Geflecht von "Abweichungen" voneinander, die immer neu geklärt, harmonisiert oder bewußt ausgehalten werden.Trotz des Beharrens auf konventionellen Geschlechtsrollen sehe ich so, wie die Familie dies praktiziert, ein geringeres Maß an Entfremdung, als sich in unserer gesellschaftlichen Zwangsnormalität zeigt.

Die meisten innerhalb des Romans bedeutsamen Männer sind das, was die Autorin gerne "Sonderlinge" nennt: Menschen, die nach ihrem ganz eigenen und jeweils unterschiedlichen Lebensgesetz empfinden und handeln, weitgehend unabhängig von Verständnis oder Zustimmung der Außenwelt. Dabei orientiert sich ihr Leben durchaus an der traditionellen männlichen Rolle (Beruf und sonstige Aktivität in der Außenwelt, traditionelle und juristische Entscheidungsbefugnis in bestimmten Fragen), die aber nicht als schematisches Reproduzieren von gesellschaftlichen Vorgaben praktiziert wird. – Auch die bedeutsamen Frauen zeigen höchst individuelle Nuancen des Empfindens und sozialen Verhaltens innerhalb der traditionellen Frauenrolle (lieben, bewahren, sorgen, beheimaten, mitfühlen, weinen).

Paula Buber hat (zweifellos) lebenslang nach Möglichkeiten gesucht, authentische Mitmenschlichkeit anzunähern (in ihrem Leben und in der Literatur) auf Grundlage zivilisatorischer, kultureller Traditionen, jedoch in Abgrenzung zu statischen (d.h. strukturkonservativen) Aspekten dieser Zivilisation einerseits und andererseits zu den für sie unbegreiflichen, erschreckenden neuen Formen sozialen Lebens, die sie offenbar nur in ihren menschenunwürdigen Momenten erfahren hat. In diesem Ringen um etwas, das es kaum mehr gibt (oder das es vielleicht so nie gegeben hat), für dessen Wert sie aber einsteht mit ihrer ganzen Integrität, konnte ich ihr Buch immer wieder mit Adalbert Stifters Werk assoziieren. Durch seine monomane Stringenz wird AM LEBENDIGEN WASSER allerdings ein Buch für Wenige bleiben.
Alles in allem ein großartiges Buch, das in der Vielschichtigkeit seiner Bezüge und in seiner kompromißlosen Einseitigkeit fast einzigartig ist in der deutschen Literatur.

AM LEBENDIGEN WASSER wird hier erstmalig seit 1952 wiederveröffentlicht.

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Sh. M. Rubin: DIE FAMILIE

DIE FAMILIE ist eine Chronik jüdischen Lebens in Europa, exemplarisch erzählt in Episoden und als Generationenfolge einer fiktiven Familie über 900 Jahre: ein Geschichtsbuch im weitesten Sinne. Es umfaßt in zwei Bänden mehr als 1000 Seiten.

Trotz umfassender Bemühungen fand sich Anfang der 80er Jahre kein deutschsprachiger Verlag für das Manuskript. Stattdessen wurde eine "Sonder-Erstausgabe" herausgegeben. Ein Teil dieser Auflage wurde an Multiplikatoren und Institutionen in der BRD gesandt - mit der Perspektive, auf diese Weise doch die Veröffentlichung in einem Verlag zu erreichen. Auch mit Zeitungsannoncen wurde auf das Projekt aufmerksam gemacht.
1987 erloschen die Bemühungen der Herausgeber. In den folgenden Jahrzehnten gab es keinerlei Öffentlichkeit im Zusammenhang mit diesem Werk.Die Identität des Autors (oder der Autorin) ist nach wie vor unbekannt.Seine oder ihre existentielle Betroffenheit an der Situation des Judentums kann nicht bezweifelt werden. Es kann wohl davon ausgegangen werden, daß er (oder sie) Jude/Jüdin ist. Kein Zweifel ist möglich an der fundamentalen judaistischen Kompetenz des Autors.

In seiner überwältigenden inhaltlichen Fülle ist Rubins Buch Mahnmal für die "Familie" aller Juden und Jüdinnen: ihren Zusammenhang über Zeiten und Länder, über Leben und Tod: ist Klage über die immer neue Zerstörung dieses Zusammenhangs, aber ist auch Frage, inwieweit diese "Familie" heute noch empfunden und gelebt werden kann.

Nachdem seither kein Verlag sich dieser einzigartigen Publikation angenommen hat, erscheint jetzt als einzige Wiederveröffentlichung eine ebenfalls zweiteilige Faksimileausgabe bei A+C online (zum kostenfreien Download). Dieses einzigartige literarische Werk, dessen Entstehungsgeschichte einigermaßen obskur sein und bleiben mag, ist ohne Zweifel ein seriöses, bewahrenswertes Dokument des europäischen Judentums.

Das erste Buch: TOTSCHLAG

auc-172-rubin-totschlag (pdf 34,4 MB)

Das zweite Buch: MORD

auc-173-rubin-mord (pdf 32,2 MB)

Stanisław Benski: NATAN GLYCYNDERS LACHEN

Stanisław benski wurde 1922 in warschau geboren. Im Warschauer Ghetto kamen seine mutter und sein bruder ums leben; der vater wurde von den deutschen erschossen. Benski kämpfte als partisan gegen die deutschen. Ab 1964 war er zwanzig jahre lang leiter eines wohnheims für überlebende der Shoah; er starb 1988.

Hier erzählt der autor von überlebenden polnischen juden; vorrangig sind es bewohnerInnen dieses heims und menschen, die ihnen verbunden sind. NATAN GYLCYNDERS LACHEN ist ein poetisch verdichtetes werk; auch vielfältigste lebensgeschichtliche nuancen machen die geschichten nicht zu reportagen. Niemand wird vorgeführt, nie geht es nur um effektvolle zusammenstellungen. Im mittelpunkt der begegnungen und situationen stehen erinnerungen, die mit dem gegenwärtigen lebensalltag der heimbewohnerInnen (und anderer überlebender der Shoah) verwoben und dadurch bewahrt und zur ressource für das weiterleben werden. Nicht regressiv ist das, sondern identitätsbewahrend und -stärkend. Einbezogen sind erinnerungen an das schreckliche, die traumatischen zerstörungen. Persönliche geheimnisse und untiefen, scham und schuld, liebe und ungeklärte beziehungen von damals sind ungreifbar eingeschmolzen in der von den deutschen vernichteten welt; nichts davon läßt sich wirklich klären, heilen, weiterleben. Nur in vielen kleinen schritten kann etwas davon wenigstens teilweise verarbeitet werden, in erinnernden gesprächen, in einsamem grübeln, in der zwiesprache mit vögeln (die die namen von toten schtetl-bewohnern bekommen). –

Dennoch sind alle diese tief verletzten, heimatlosen, schrulligen bewohnerInnen des heims nicht nur opfer; sie führen, im rahmen ihrer verbliebenen möglichkeiten, ihr eigenes, unverwechselbares leben in die zukunft hinein. Tröstliche phantasie und alltägliche realität, tapferkeit, müdigkeit und zuversicht, leugnen und trauern verflechten sich moment für moment. Nichts, keine kleinigkeit ist mehr belanglos in diesem leben danach – nachdem die selbstverständliche heimatwelt vom erdboden verschwunden ist, ausradiert. Jedes winzige moment von selbstbestimmung, bereits das erzählenkönnen, ist manifest des überlebthabens, des neuen lebens.

Alles, jede nuance, die beiträgt zu einem guten leben, ist bedeutsam und wird achtsam porträtiert – bis hin zu den farben der kopftücher. Nichts davon ist selbstverständlich für die überlebenden der Shoah; das leben ist nicht mehr selbstverständlich für überlebende existenzieller traumaerfahrungen. Und seltsam: gerade diese menschen, die während des terrors der okkupation alles verloren hatten außer dem nackten leben, nehmen sich zeit.. – zeit, ihr gerettetes, ihr übriggebliebenes eigenes leben zu leben, in all seinen augenblicken, mit eigenkreisläufigkeiten und redundanzen. Jedes bewahrte oder neu etablierte moment (mit-)menschlichen lebens, jedes alltagsritual bedeutet selbstvergewisserung und selbstbehauptung. Sehr deutlich wird das tiefe bedürfnis (bei uns allen) nach vorhersehbarkeiten, vertrautheit, gewohnheiten – und damit geborgenheit in der welt.

Ein ironischer, kabarettistischer, manchmal bitterer humor ist in diesem buch, schmerzlich, in wortloser trauer – natan glycynders lachen – dann wieder wie auf bildern von chagall. In mancher hinsicht sind diese geschichten surreale parabeln, die vom terror jener zeit genau auf der gratlinie zwischen phantasie und realität berichten (gelegentlich auch darüber streiten), – und damit helfen können, schreckliches, traumatisches zu überleben. Parabeln, die (so oder ähnlich) zweifellos in diesem heim entstanden sind, zwischen all den Shoah-überlebenden (zu denen der autor gehört). Manche sind herzzerreißend, grauenhaft, andere wirken unprätentiös, geradezu banal – beim ersten lesen. Und alle sind es wert, nochmal gelesen zu werden. Tragisches und humoristisches, ungeheuerliches und triviales, heiliges und billiges geht ineinander über – hoffnungsloses durcheinander, hinter der die frage steht: Welchen wert hat das leben von menschen – nach all dem, was war?

Jede dieser vignetten steht für hunderte, tausende ähnlicher geschichten. Von denen wiederum stünde jede einzelne für ein ganzes leben.. – All diese reste, fetzen, splitter, trümmer von erinnerungen und empfindungen, von reaktionen und ängsten, von sehnsucht und trauer, das grübeln, der rückzug und das schweigen – all das verweist auf millionen jüdischer menschenleben, deren jedes eine welt für sich war, die von den nazis, ihren taktischen unterstützern und ihren mitläufern gnadenlos zerstört wurde.

(Aus dem nachwort des herausgebers)

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Theodor W. Adorno: KULTUR UND VERWALTUNG. ERZIEHUNG NACH AUSCHWITZ. ZWEI VORTRÄGE

Heutzutage werden in der Öffentlichkeit mit dem Namen Theodor W. Adorno (1903-1969) zumeist wohl seine umfangreichen philosophischen Arbeiten zur ÄSTHETISCHEN THEORIE und zur NEGATIVEN DIALEKTIK verbunden, gelegentlich auch Adornos aphoristische Sammlung MINIMA MORALIA und die mit Max Horkheimer verfaßten Aufsätze der DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG. Der Begriff der Autoritären Persönlichkeit geistert immerhin gelegentlich durch die Medien, auch Adornos Bedeutung in Zusammenhang mit der sogenannten Studentenbewegung um 1968. Inwieweit Adorno gelesen, verarbeitet wird, steht auf einem anderen Blatt.

Theodor W. Adornos tiefgründige Reflexion halte ich mehr denn je für unverzichtbar angesichts der erschreckenden und hilflos machenden globalen gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. In vielen Aspekten sind seine Überlegungen noch immer tiefgründiger und relevanter als Arbeiten, die sich an ihm abzuarbeiten meinen.

In diesen beiden Vorträgen bringt Adorno Zusammenhänge auf den Punkt, die grundlegend sind für seine Sozialphilosophie und zugleich präzise unsere Gegenwart betreffen: Mediale und administrative Macht- und Einflußzusammenhänge auf dem Hintergrund von Ökologie, Internet, neuem Nationalismus, Krieg. Keineswegs sind es "Nebenarbeiten". Nicht zuletzt können gerade diese eher alltäglich orientierten Überlegungen sensibilisieren für Adornos bis in winzige Momente hinein dialektisches Bewußtsein: jenseits aller Schwarz-Weiß-Dichotomie; genau dies brauchen wir heute, um uns in den Gespinsten der online-Gesellschaft auch nur ansatzweise zu orientieren, um nicht der Kakophonie interessengeleiteter (oder einfach engstirniger) medialer Rhetorik zu unterliegen.

Adorno, ein verschollener Autor? Das natürlich nicht. Aber ein zu wenig gelesener.

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VERLAG LAMBERT SCHNEIDER / LOTHAR STIEHM VERLAG (1925–1999)

Die vorliegende Veröffentlichung entstand in der Überzeugung, daß die Welt der Verlage Lambert Schneider und Lothar Stiehm ein bewahrenswertes Moment der deutschsprachigen Kulturgeschichte ist, ebenso wie andere, in der Öffentlichkeit bekanntere Verlage. Lambert Schneiders hier wiederveröffentlichter Almanach (RECHENSCHAFT), die dokumentierten Verlagsverzeichnisse sowie beigegebenen Texte (auch von Lothar Stiehm) laden ein, Zusammenhänge, Interdependenzen, Spannungen, Widersprüche, Koinzidenzen zu erkunden zwischen Zeugnissen, die in ihrer je eigenen Weise menschliches Sein ausloten und großenteils noch heute lesenswert sind, die teilweise atemberaubend radikal, manchmal aber auch irritierend fern anmuten. "Ich war stolz darauf, daß meine Autoren originelle Außenseiter waren und Dinge auszusagen hatten, die man von den Lehrstühlen herab nicht hört." (Lambert Schneider) Aus der nur selten kommerziell begründeten Einladung der Verleger an potentielle AutorInnen entstand zwischen 1925 und 1991 eine imaginäre Gemeinschaft, die in mancher Hinsicht kostbares Potential ist, Grenzen des Denkens zu überschreiten. –

Zu entdecken gibt es eine Fülle judaistischer, christlich-theologischer und philosophisch-psychologischer Publikationen. Hier nur einige Namen: Leo Schestow, Blaise Pascal, Albert Schweitzer, Martin Buber, Viktor v. Weizsäcker, Karl Jaspers, Ludwig Binswanger.

Gleich nach 1945 öffnete Lambert Schneider seinen Verlag konsequent der (auch politisch gewichteten) Frage nach den Verbrechen, die in deutschem Namen und unter Mitwirkung zigtausender Deutscher begangen worden waren; auch zu diesem Bereich einige Namen: Alexander Mitscherlich, Michael Brink, Gustav Radbruch, Alfred Weber, Dolf Sternberger, Anne Frank, Else Lasker-Schüler.

Nach Schneiders Tod 1970 wurde der Verlag von Lothar und Christa Stiehm übernommen. Dabei wurde der seit 1966 bestehende Lothar Stiehm Verlag mit dem VLSch verbunden. Vor allem im Lothar Stiehm Verlag erschienen eigenwillige literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen: Sigrid Bauschinger (ELSE LASKER-SCHÜLER) , Franz Büchler, Christian Friedrich Daniel Schubart (DEUTSCHE CHRONIK 1774–1777), DEUTSCHE INTELLEKTUELLE 1910–1933, Dietmar Goltschnigg (MYSTISCHE TRADITION IM ROMAN ROBERT MUSILS. MARTIN BUBERS "EKSTATISCHE KONFESSIONEN" IM "MANN OHNE EIGENSCHAFTEN"), Rainer Nägele (LITERATUR UND UTOPIE. VERSUCHE ZU HÖLDERLIN), William H. Rey (POESIE DER ANTIPOESIE. MODERNE DEUTSCHE LYRIK, 1978), Johannes P. Kern (LUDWIG TIECK – DICHTER EINER KRISE), Wiebrecht Ries (TRANSZENDENZ ALS TERROR. EINE RELIGIONSPHILOSOPHISCHE STUDIE ÜBER FRANZ KAFKA, 1977), Marianne Thalmann (Romantik, 3 Bände), Dieter Wyss (DER SURREALISMUS), Klaus Voswinckel (VERWEIGERTE POETISIERUNG DER WELT) und anderes.

Mehr oder weniger bewußt suchen wir alle unser Leben lang die Wahrheit der Welt, die auch in uns selbst bewahrt ist, die wir nur in uns selbst finden – aber kaum je vermitteln können. Der Verlag Lambert Schneider/Lothar Stiehm Verlag war ein virtueller Treffpunkt für Suchende. Aber auch die Wörter, die Bücher sind ja nicht Wahrheit, vermitteln höchstens Ahnungen, geben Fingerzeige. Die Suche geht weiter.

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Zivia Lubetkin: DIE LETZTEN TAGE DES WARSCHAUER GETTOS

Mit einem Beitrag vonEdith Laudowicz: Widerstand der Frauen im Warschauer Ghetto

 

Zivia Lubetkin (auch Cywia Lubetkin; Zivia Lubetkin-Zuckerman; Celina Lubetkin; Zivia Cukerman) (1914–1978) war eine jüdische Widerstandskämpferin im besetzten Polen, zionistische Funktionärin und Kibbuznik. Im Warschauer Ghetto war sie 1942 Mitgründerin der Widerstandsgruppe Jüdische Kampforganisation (ŻOB), die im Januar 1943 unter der Leitung von Mordechaj Anielewicz eine bewaffnete Widerstandsaktion gegen die Deportationen durchführte. Im April 1943 war sie eine Organisatorin beim Aufstand im Warschauer Ghetto.

Zivia Lubetkins Augenzeugenbericht DIE LETZTEN TAGE DES WARSCHAUER GETTOS erschien auf hebräisch bei En charod 1947, auf deutsch zunächst in "Neue Auslese". Hg. Alliierter Informationsdienst, 3. Jg. Heft 1, 1948, S. 1–13. Darauf folgte eine selbständige Publikation im VVN-Verlag, Berlin 1949. Als Nachwort wurde dort ein Artikel Friedrich Wolfs aus der Weltbühne hinzugefügt. Dieses Büchlein ist Quelle dieser erstmaligen Wiederveröffentlichung auf Deutsch.

Diese kostenfreie online-Ausgabe enthält neben Nachwort und Literaturhinweisen des Herausgebers einen Beitrag von Edith Laudowicz: Widerstand der Frauen im Warschauer Ghetto.

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